SCHLINGENSIEFS AFRIKA-CORPS (WELT)

Veröffentlicht am Autor admin

Mit Laiendarstellern aus Burkina Faso stellt der umstrittene Theatermacher sein Projekt „Via Intolleranza II“ nach einer Oper von Luigi Nono auf Kampnagel vor

Von Ilja Stephan

Die Idee klang so verrückt, dass man sie im ersten Moment für einen Scherz halten konnte: Ein Operndorf samt Festspielhaus mitten in einem der ärmsten Länder Afrikas wollte Theatermacher Christoph Schlingensief bauen. Am Ende seiner letzten Produktion „Mea culpa“ stellte er ein entsprechendes Modell auf die Bühne des Wiener Burgtheaters und ließ sein Schauspieler-Alter-Ego verkünden: „Die in Bayreuth werden vor Neid erblassen!“

Der Wagner-Clan scheint es zwar noch gelassen zu nehmen, aber das Operndorf gibt es inzwischen tatsächlich. In der Nähe von Ouagadougou, der Hauptstadt des drittärmsten Landes der Welt, Burkina Faso. Doch mit einem Grünen Hügel mitten in der Trockensavanne ist es für einen wie Schlingensief nicht getan. Als „materialisierte afrikanische Operndorf-Utopie“ holt er nun im Gegenzug ein Stück Afrika auf die europäische Theaterbühne. Am 23. Mai hat seine neueste Produktion „Via Intolleranza II“ auf Kampnagel Premiere.

Die Gedanken in Schlingensiefs Kopf scheinen ebenso zahlreich zu sein und in ebenso viele Richtungen zu weisen, wie die Haare in des Meisters ungebändigter Mähne. Wie genau Schlingensiefs Krebserkrankung, sein Operndorf und Luigi Nonos Polit-Oper „Intolleranza 1960“ zusammenhängen und wie afrikanische Laienschauspieler und europäische Avantgarde zusammenkommen sollen, ist nur schrittweise nachzuvollziehen.

Sein selbsttherapeutisches Opern- dorf-Projekt ging Schlingensief 2009 an, kaum dass er sich von den schwersten Folgen seiner Krebsoperation erholt hatte. Der in Berlin lebende, aus Burkina Faso stammende Architekt Francis Keré baut nun seit Anfang Februar an dem Ensemble aus Schulen für Künstler, einer Krankenstation und einem Festspielhaus.

Einschulungstermin für die ersten Jahrgänge der Musik- und Filmklassen wird im Oktober sein, so Schlingensief. Dann sollen afrikanische Studenten frei von europäischen Vorgaben hier am eigenen Bild ihres Kontinents arbeiten. Denn: „95 Prozent der Filme und Fotos von Afrika werden von Weißen produziert“, ist der Regisseur überzeugt. „Das ist unsere Weltsicht auf diesen Kontinent. Nirgends ist das so krass wie in Afrika. Bei Afrika gestatten wir uns komischerweise zu glauben, wir könnten helfen und mitreden.“

Genau das möchte Schlingensief uns „Weißnasen“ mit den Mitteln seiner Inszenierung austreiben. Wie immer bei Schlingensief, scheint dabei jede Utopie schon mit ihrer eigenen Parodie zur Welt zu kommen. „Es kann die Spur von meinen Erdentagen nicht in Äonen untergehn“, zitierte der schwerkranke Theatermann bei der Grundsteinlegung seines Operndorfes den zweiten Teil von Goethes „Faust“ – und das war bitterste Ironie, denn Faust spricht hier in heilloser Verblendung von der Vollendung größenwahnsinniger Bauprojekte, während in Wirklichkeit sein eigenes Grab geschaufelt wird.

Geradezu lustvoll absurd ist auch das begleitende „Forschungsprojekt“, mit dem Schlingensiefs Afrika-Corps nun nach Deutschland kommt: Seine Oper „Intolleranza“ schrieb Luigi Nono im Jahr 1960, als er noch der ungebrochenen Überzeugung war, man könne die Sache der Revolution mit den Mitteln der Avantgarde vorantreiben. „Intolleranza“ handelt von der Geschichte eines Bergarbeiters, der vor den Lebensbedingungen in seinem Dorf in die Stadt flieht, dort inhaftiert, gefoltert und ins KZ gesteckt wird. Er beschließt darauf, sich dem Aufbau einer besseren Welt zu widmen. Doch der Arbeiter stirbt, bevor er seine Utopie umsetzen kann, in Sichtweite seines alten Dorfes.

Einen Vorschlag, Nonos „Intolleranza“ zu inszenieren, hat Christoph Schlingensief abgelehnt. Zu verstaubt scheint heute deren welt-verbesserischer Furor. Aber er verwendet die Oper nun als freie Vorlage für sein eigenes Afrika-Stück. Die Musik dazu collagiert Schlingensiefs Hauskomponist Arno Waschk aus Versatzstücken quer durch die Musikgeschichte. „Die Ausgangsfrage ist, wie man die inhaltlichen Vorgänge von ,Intolleranza‘ auf heute und die Situation der Afrikaner übertragen kann“, erklärt der junge Komponist. Landflucht vom Dorf in die Stadt ist schließlich in Afrika ein großes Thema.

Gemeinsam arbeiten also Schlingensiefs Theatertruppe und die Laiendarsteller, die er in Ouagadougou zusammengesucht hat, daran, das „Intolleranza“-Thema aus afrikanischer Perspektive neu zu beleuchten. Doch die Völkerverständigung erweist sich als ebenso schwierig wie der Kontakt zwischen Avantgarde und Proletariat. „Recht babylonisch“ gehe es auf den Proben zu, sagt Waschk, ohne deshalb zu verzagen: „Wenn ein Afrikaner eine Opernarie zu singen hat, muss sich das aus seiner Art zu singen heraus entwickeln. Das klingt dann eben anders.“

Deutlich kritischer klingt derselbe Sachverhalt aus dem Mund von Schlingensief: „Die Zusammenarbeit zwischen uns ist ein völlig absurdes Unternehmen. Wir verstehen uns prächtig, haben Spaß miteinander, aber wenn wir ehrlich sind, haben wir auf kulturellem Gelände nichts miteinander zu tun. Wir können aber immer wieder voneinander lernen.“

Und genau darum geht es dem Theatermann: „Das ist Bestandteil dieser Produktion: Das gegenseitige Anschauen und Stutzen: ,Was ist hier eigentlich los?'“ Europäer würden beim Thema Afrika noch allzu oft an „Kinder mit Hungerbäuchen und einer Fliege am Auge“ denken. Doch Ouagadougou sei eine Stadt mit einer äußerst lebendigen Film- und Theaterszene, sagt Schlingensief. Die Menschen von dort repräsentierten bewusst keinen Folklorestandard: „Wir haben eine Büroangestellte dabei, einen Ethnologen und eine 26-jährige Muslima, die gerade einen 62-jährigen atheistischen Franzosen geheiratet hat.“

So fällt am Schluss Christoph Schlingensiefs Resümee zum Thema Weltverbesserung denkbar skeptisch aus. Das Ende seiner Oper „Via Intolleranza II“ markiert ein kleiner Film. „Der zeigt mich auf der Flucht. Nichts wie weg hier. Keiner hilft keinem.“ Ob das wirklich sein letztes Wort bleibt, sei ein-mal dahingestellt. Schlingensief-Stücke werden grundsätzlich erst am Abend ihrer Premiere fertig.

„Via Intolleranza II“ von Christoph Schlingensief, 23. bis 26. Mai auf Kampnagel, Karten unter Tel. 27 09 49 49

Quelle: Die WELT vom 16. Mai 2010