Der krebskranke Filmemacher, Theaterregisseur und Autor Christoph Schlingensief eröffnet dem Leser in seinem neuesten Buch seine Seele. Ungeschönt beschreibt er, wie verzweifelt ein Todgeweihter sein kann – und wie hungrig aufs Leben.
„Wer seine Wunde zeigt, wird geheilt“, sagte Joseph Beuys. Christoph Schlingensief tut das – auf radikale Weise: Er lotet seine Verwundungen aus, umkreist sie, beschreibt minutiös, was ihm geschieht und wie er darauf reagiert.
„Gestern Abend habe ich gebetet. Das habe ich ewig nicht mehr gemacht. Wobei mir vor allem dieses leise Sprechen, das Flüstern mit den Händen vor dem Gesicht, gut getan hat.“
Schlingensief betet, er schreit und weint, er spricht mit seinen Ärzten und will seine Lebensgefährtin fortschicken, die Sache allein durchstehen. Sie bleibt bei ihm, und er erträgt es kaum, ohne sie zu sein, wenn sie ihrer Arbeit nachgeht. Schlingensief hadert, mit Gott, mit seinem Vater, der ein Jahr zuvor gestorben war, von dessen Mangel an Lebensfreude er sich in Mitleidenschaft gezogen fühlt, vielleicht sogar krank gemacht hat. Er räsoniert darüber, ob nicht seine Parsifal-Inszenierung den Tumor in ihm wachsen ließ. Er beruhigt sich, er lacht, er denkt nach, und: Er protokolliert sein Befinden, indem er auf ein Tonband spricht.
„Es gibt nur diesen unverständlichen Unmut auf den Vater und auch auf die Mutter. Ich will meine Eltern nicht. Ich will nicht! Papa ist schon weg, Mama soll auch noch weg. Die kann ihre Schokodickmänner mitnehmen. Da kann sie den ganzen Tag Schokolade fressen. Die kann auch ihr Haus mitnehmen und ihre ganze Kirchenscheiße.“
Mal erscheinen Schlingensiefs Notate wie infantiles Gebrabbel, mal wie eine Suada des Schmerzes, manchmal wie eine wütende und trostlose Gottsuche:
„Für mich steht Maria für Liebe, Wärme, Zuneigung, Geborgenheit, Mutter, Schwester, was weiß ich. Sie ist einfach die Personifikation von Geborgenheit und Liebe und Schutz. Auch die Begleiterin durch den dunklen Gedankenwald. Bei Jesus liegen die Dinge schon komplizierter. Er ist derjenige, der das Leidwesen in die Welt gebracht hat, jedenfalls für die christliche Religion. Nicht das Rechtswesen oder das Geldwesen, sondern das Leidwesen.“
Christoph Schlingensief lässt sich in die Seele schauen. Was man dort sieht, ist nicht immer verständlich, auch nicht immer sympathisch. Aber es ist unverstellt und auf erschütternde Weise expressiv.
Was fühlt ein Mensch, der berserkerhaft arbeitet, sich im Mittelpunkt großen Trubels wohl fühlt, ihn immer wieder selbst inszeniert, ein Mann, der rauschhaft und egozentrisch lebt, wenn er urplötzlich alles zu verlieren droht, jede Normalität, seine Arbeitsfähigkeit, seine Kraft, seine Autonomie, sogar sein Leben? Wie wird man fertig mit Angst und Panik?
Christoph Schlingensief zeigt uns all das, was normalerweise beschwiegen wird und verborgen bleibt, das, was wir höchstens selbst irgendwann erleben können. Das macht sein Buch kostbar. Schlingensief belehrt alle, die bloß wohlfeile Worte anbieten: Todkrank sein ist anders, todkrank sein ist eine Achterbahnfahrt durch Gefühle und Befindlichkeiten, von denen man sich in gesunden Tagen keinen Begriff machen kann. Und es führt zu Fragen nach Sinn und Ewigkeit.
„Wenn man in solchen Situationen steckt, ist es das größte Glück, Momente der Emotionalität und Spiritualität zu erleben. (…) Natürlich gibt es Leute, die einfach cool rumliegen. Kompliment. Aber mich beschäftigen diese Verbindungen zur Welt über mir, sie wühlen mich auf, und ich spüre, dass da in mir wieder etwas auftaucht, was ich vergraben hatte.“
Schlingensief ist nicht alt und lebenssatt, sondern noch einigermaßen jung und lebenshungrig. Er schimpft auf den Papst und geht zur Messe und zur Kommunion. Er beschwört das Leben und die Liebe und versucht, den Gedanken an den Tod zu fassen. Er sucht Gott und will sich nicht verlieren. Er möchte frei sein, schreit seine Empörung, sein Entsetzen heraus.
„Mein Gott, was für gigantische Kraftwerke von Leiden fliegen hier rum, das ist doch unglaublich! (…) Da kann man doch nicht einfach nur die Mutter Gottes als leuchtende Christbaumfigur runterschicken, da muss man doch ganz anders rangehen.“
Das ist Schlingensiefs Art, um Heilung zu bitten, um Erlösung – nicht nur für sich. Und gleichzeitig tut er schonungslos das, was wir Menschen selbst und der Künstler Schlingensief in besonderer Weise vermag: Sich rückhaltlos mitzuteilen. Schlingensief geht dabei so weit wie irgend möglich und zeigt so, wie lebendig er ist, wie lebendig man bleiben kann, auch wenn man womöglich bald sterben muss.
Barbara Dobrick, Deutschlandradio, 27.05.2009
Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!
Tagebuch einer Krebserkrankung
Kiepenheuer & Witsch 2009
255 Seiten, 18,95 Euro