2008 erfuhr Christoph Schlingensief, dass er Lungenkrebs hat. Seitdem ist sein Leben ein Auf und Ab. Benjamin von Stuckrad-Barre über einen Freund, der im Kampf mit dem Tod die Oberhand behält
Gibt es noch Fragen? Der Verleger blickt über den Rand seiner Lesebrille, die versammelten Journalisten wissen auch nicht so recht – Fragen? Christoph Schlingensief selbst ist nicht anwesend, auf einem Tisch liegen etwa 100 Exemplare seines Buchs „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung“, jeder kann sich eins mitnehmen. Fragen – ja bitte?
„Wie geht es Christoph Schlingensief denn jetzt gesundheitlich?“
Tja. Nicht so gut. Auf und ab. Gestern, nach der „Beckmann“-Aufzeichnung, war er nach Berlin zurückgefahren, nachts kam dann das Fieber. Am Tag zuvor hatten Schlingensief und ich verabredet, nach dieser Buchpräsentation einen Tee trinken zu gehen, mal wieder in Ruhe miteinander zu sprechen. Wäre das ein Interview geworden? Oder privat? Hat es so was zwischen uns überhaupt je gegeben, rein private Momente?
Von unserer ersten Begegnung an, irgendwann im Sommer 1998 war das, haben all unsere Zusammentreffen und gemeinsamen Ausflüge immer irgendeine Form von Text hervorgebracht; entweder filmte er mit, oder ich schrieb anschließend etwas darüber, oder wir trafen uns gleich auf einer Bühne. Schlingensief-Bühnen sind nicht ortsgebunden, Theater meint bei ihm kein Gebäude: In der U-Bahn, am Wolfgangsee, in der Wüste oder vor einer McDonald’s-Filiale hat er etwas angezettelt, und einmal dabei, konnte man sich dem Sog seiner Arbeit nicht mehr entziehen. Als er Ende 1999 anregte, den Jahreswechsel in Namibia zu verbringen, dort mit dem Jeep durch die Gegend zu brettern, dort „Deutschland zu suchen“ und an der Küste den Seehunden die Musik Richard Wagners näherzubringen, da überlegte ich nicht lang und fuhr mit. Das Theater in die Welt tragen und umgekehrt; der erweiterte Kunstbegriff! Auch die Grenzen der Privatsphäre sozusagen überwinden.
Vielleicht ganz gut, dass es zu dem gemeinsamen Teetrinken jetzt nicht gekommen ist, davon nämlich anschließend nicht zu erzählen wäre mir vielleicht fahrlässig erschienen – und davon eben doch zu erzählen hätte eventuell Intimitätsverrat bedeutet. Als Schlingensief an Beckmanns Holztisch sagte, dass er nun nicht mehr jeden Scheiß mitmacht, war das ja auch eine ziemliche Text-Bild-Schere.
„Weißt du, wie es Christoph geht?“ – diese Frage kam in den letzten Monaten immer wieder auf, wenn man Leute traf, die ihn durch gemeinsame Arbeiten kennen, die Text oder Kostüm beigesteuert haben, Musik oder Fotos, die sich um seine Verträge kümmern oder in anderer Weise mal hier, mal da an seinem Projekte-Dschungel mitförstern. Bei den meisten ist daraus mehr als eine reguläre Arbeitsbeziehung geworden, weil Schlingensief ein so begnadeter Anstifter ist, der Albtraum jedes Betriebsrats. In jedwede künstlerische Äußerung wirft Schlingensief sich immer komplett hinein, und er erwartet das auch stets von sämtlichen Mitarbeitern, die allesamt Mitspieler werden. Das ist mitunter sehr anstrengend, und dass man mittendrin nicht mehr kann, durchdreht, ist der Normalfall – und genau das erzeugt die immense Energie, die von seinen Produktionen ausgeht: Alle agieren am Rande ihrer Möglichkeiten. Wer einmal mit Schlingensief zusammenarbeitet, geht daraus als Veränderter hervor.
„Meine Arbeit bestand doch darin, Behältnisse zu schaffen, Forschungslabore zu erzeugen“, schreibt er in seinem Buch und blickt also auf die eigene Arbeit – und damit auf sein Leben – in der Vergangenheitsform. Doch gelingt es ihm phasenweise auch, wieder in Gegenwart und Zukunft zu wechseln, er inszeniert vom Krankenbett aus, plant den Bau eines Opernhauses in Afrika – und greift in den düstersten Nächten zum Diktiergerät, spricht die Texte ein, aus denen dieses Buch geworden ist, das entsprechend wild changiert, mal Klageschrift ist, mal Weltumarmung. Hunderte von Sätzen daraus möchte man direkt mit weißem Lackstift auf Lederjacken schreiben – eine Hymne auf das Leben und eine Lamentation über dessen Ende.
Zuletzt getroffen haben wir uns vor einigen Wochen, im Januar. Die Krankheit und die Folgen der Therapie sah und hörte man ihm deutlich an, und doch war alles auch schon zu Kunst geronnen, auf die Bühne gebracht, was den seltsamen Effekt hat, dass man ihm persönlich diese Krankheit gar nicht mehr zurechnet – hat er sie nicht schon in die Kunst überführt? „Er hat seine Krankheit verarbeitet“, heißt es, aber anders als sonstige Traumata kann man sich eine Krebserkrankung natürlich nicht vom Leib schaffen. Metastasen im verbliebenen Lungenflügel – man hört das, liest es auch im Buch, versteht schon, was das heißt. Ihm gegenübersitzend, gab es gar keinen Zweifel, dass er sehr krank ist. „Sehr krank“, wie sehr denn? „Sehr krank“ sagen, um das Wort „todkrank“ zu vermeiden? Der Gesunde will sensibel sein – und ist in Wahrheit der Schreckhafte. Schlingensief spricht und schreibt derart offensiv von Sterben und Tod und behält im Überlebenskampf trotz des übermächtigen Gegners die Oberhand, indem er dem Tod etwas abtrotzt, Kunst nämlich. Und die handelt davon, wie das geht: sterben. Nicht davon, wie man das am besten macht, sondern davon, dass einem das niemand sagen kann; kurz: Er erzählt, was mit ihm von der Diagnose an geschieht. Auf und ab.
Nach der Buchpräsentation, auf einer Bank an der Spree, lese ich also in seinem Buch, ein paar Seiten, es haut einem die Beine weg. Ein Schiff fährt flussaufwärts, ein Ausflugsdampfer namens „Nostalgie“ – auf dem hat Schlingensief doch seinen 40. Geburtstag gefeiert! Mittlerweile ist er 48, zum Zeitpunkt des Protokollbeginns ist er 47 und leitet aus der Zahl mal Demut, mal Zorn und Verzweiflung ab: „47 Jahre lang habe ich wirklich viel gemacht, viele Leute kennengelernt, viele Dinge erlebt.“ Dann aber: „Und jetzt ist man 47 und soll denken: Sei froh, dass du lebst, und genieß jeden Tag, als sei es dein letzter. Ach, ist das alles eine Scheiße!“
Schlingensiefs Protest gegen diesen substanziellen Angriff geht durch alle Tonarten, von Ohnmacht bis Optimismus, der Patient überprüft alles bisher Gedachte, verwirft alles Gewusste und steht immer wieder ratlos vor dieser einen, einzig wahrhaft existenziellen Kränkung: „Ich fühle mich von diesem Ding in meinem Körper extrem beleidigt und massiv bedroht.“
Nachdem der delirierende Schauspieler Udo Kier Anfang letzten Jahres die Nachricht von Schlingensiefs Krebserkrankung in die Öffentlichkeit gelallt hatte, konnte dieser die Instant-Anteilnahme vom Schlage „Krebs-Drama um Skandal-Regisseur“ bald abschütteln, indem er auch diese Extremsituation umzusetzen verstand: in die Inszenierungen „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ und „Mea Culpa“. Und nun in dieses Buch. Da erschrak sogar das Feuilleton und verkniff sich überraschenderweise mal die Billigdeutung „Nun vermarktet er auch noch seine Krankheit“ – nein, die Kritik schlug nun sakrale Töne an, mitunter ekelerregend einfühlsam, es wurde offenbar gleichsam Abbitte für früheres Nichternstnehmen des Künstlers geleistet; waren vorangegangene Arbeiten immer wieder als bloß albern und pubertär abgetan worden, so nannte man diese neueren Arbeiten im Gleichschritt sicherheitshalber „verstörend“.
Hatte er sich nicht auch in Bayreuth schon ganz manierlich betragen? Wird er nicht formal immer konventioneller und stimmt unserem bildungsbürgerlich gestrengen Bewertungssystem somit zu? Spät, aber doch, hat er den rechten Pfad gefunden, so lasset uns ihn denn in unsere klebrigen Kulturbetriebskrakenarme schließen! Aber auch das staatlichste Staatstheater wird sich mit Schlingensief immer ein trojanisches Pferd ins Haus holen.
Wer sich mit seinen Arbeiten ernsthaft beschäftigt, kann sich nicht darüber wundern, dass und wie er die Krebserkrankung zum Gegenstand seines Schaffens macht. Es ist vielmehr zwingend, dass er auch diese finale Zumutung ummünzt in Kunst und dadurch nutzbar macht. Dass seine jüngeren Arbeiten die Form nicht mehr grundsätzlich brechen, belegt ja nichts weiter als seinen Sinn für Musikalität: Besteht doch der erfrischende Skandal hier schon im Thema selbst – über das Sterben spricht man nicht. Tod geht immer, ein knallender Begriff, stets richtig und nie riskant; aber das Sterben, das langsame Kraftverlieren? Schwierig. Also ein Fall für Schlingensief.
Es ist ja geradezu rührend, welche Gartenzaunübertritte ihm früher – mal anerkennend, meistens abschätzig – als „Tabubruch“ ausgelegt wurden. Er ist ein Schmerzensmann, immer schon: Seit Jahrzehnten macht er die ihn aktuell am stärksten quälende Wunde zum Aufführungsort; waren es Wunden der Gesellschaft (Inszenierungen mit Arbeitslosen, Behinderten oder Neonazis), bezichtigte man ihn der Effekthascherei; thematisierte er persönliche Wunden (zum Beispiel den Tod seines Vaters), warf man ihm Exhibitionismus vor.
Doch jetzt, da der Regisseur zugleich Held des Ausgangsmaterials ist, des sich und ihn unerbittlich fortschreibenden Dramas, des ihm ins Gesicht geschriebenen Kampfes gegen die tödliche Krankheit, und der Radiologe ist der Inspizient – da werden auch die Instrumentarien der Kritik außer Kraft gesetzt. Schlingensief rekapituliert sein Leben und Werk in einer Härte, dass niemand bei Sinnen sich da noch wird einmischen wollen, ein Verriss ist eigentlich nur noch von Maxim Biller zu erwarten. Denn Schlingensief spricht in diesem Buch so ungeschützt, da gibt es eigentlich nichts mehr zu beurteilen. Was weiß man denn schon? Früher hätten sie ihm so ein Zitat um die Ohren gehauen: „Jesus hat Leiden produktiv gemacht. Und das ist toll.“ Es hätte ein John-Lennon-artiges Missverständnis gegeben.
Da geht einer weiter als wir alle, und endlich mal kann sich ihm kein Schlaumeier in den Weg stellen, denn dort, wo Schlingensief diesmal inszeniert, da war der Schlaumeier selbst ganz gewiss noch nicht.
Schlingensiefs Kampf gegen den Tod, sein Kampf ums Leben, ist eine exemplarische Schlacht. Klar, nicht jeder Krebskranke hat eine Oper vom Bett aus zu inszenieren oder bekommt Besuch von Helge Schneider und Patti Smith, Anrufe von Alexander Kluge und Peter Zadek und eine Mail von Luc Bondy. Das Ganze ist natürlich auch ein Theaterstück. Doch all sein Fluchen und Sehnen, Hoffen und Hadern ist allgemeingültig. Man liest es eben nicht als Beantwortung der Frage „Wie geht es Christoph?“, merkwürdig – nein, gar nicht, schlicht Kennzeichen großer Kunst, bedeutender Literatur: eines Menschen Fall als Fall der Menschheit.
Überhaupt sehr töricht waren die an Schlingensief über Jahre klebenden Etikettierungen „Provokateur“ und „Enfant terrible“, und doch ist natürlich dieses Buch nun wirklich mal: eine Provokation. Es geht um Leben und Tod, und dies in einer Deutlichkeit, die jedem Leser kalt ans Herz greifen muss.
Gibt es noch Fragen? Hm.
Der Künstler, der „sich infrage stellt“ – das ist der Superkitsch. Hier liegt der Fall anders, er liegt auf dem Krankenbett; der Künstler wird vollständig infrage gestellt, nämlich vom Tod bedroht, und da legt er los, wehrt sich, gibt auf, kämpft wieder, trifft testamentarische Vorbereitungen, plant dann wieder kühn, um kurz darauf zu sinnieren, wie er sein Leiden abkürzen könnte. Seine Ratlosigkeit macht dieses Buch zu einem wahrhaftigen Ratgeber, im Unterschied zu all den verlogenen Erbauungsbüchlein, die unter diesem Gattungsbegriff firmieren. Und obendrein ist es ein theologisch brisantes Werk.
Als „bibelfest“ wird bezeichnet, wer genau weiß, wo welches Sprüchlein steht. Schlingensief dagegen flippert sich durch die Bibel, seine Bibelfestigkeit besteht darin, dass er sie und mit ihr die Idee von Gott in diesem tosenden Überlebenskampf nicht loslässt: „Aber ich muss trotzdem sagen, diese Sache mit Gott ist echt noch offen.“
Einmal bedauert er, die Bibel nie richtig gelesen, nur Bilder daraus isoliert und in seinen Arbeiten zitiert zu haben. Wie er überhaupt in allem zuvörderst Bilder kreieren will. „Überblendungen!“, höre ich ihn beständig attestieren oder fordern, in Afrika oder auf Sylt, auf der Kegel- oder in der U-Bahn. „In das Bild hineintreten, es verändern!“
Zu hause, oben auf meinem Bücherregal, steht eine schwarze Pappschachtel, die Schlingensief mir zu meinem 25. Geburtstag geschenkt hat: „Seeing India“. Darin liegen vier Filmrollen und zwei Schallplatten, mittels derer man eine Ton-Bild-Schau über Indien abfahren kann. Auf die Schachtel hatte Schlingensief geschrieben: „Nie wieder Zukunft! Dein Christoph S.“ Jetzt lese ich in seinem Buch: „Wenn ich in einem Buchladen in Büchern über fremde Länder blättere, dann rollen schon die Tränen.“ Zwei Seiten weiter grübelt er mit seiner Freundin, wo sie – falls das möglich wäre – am liebsten wiedergeboren würden: „… an Afrika oder Indien gedacht … weiß ich nicht, was da los ist, vielleicht ist das eine Ecke in meinem Dasein, die ich noch kennenlernen müsste“.
Den „Seeing India“-Schachtelinhalt habe ich nie in Betrieb genommen, aber gleich heute Abend werde ich mich anhand dieser Ton- und Bildkonserven nach Indien aufmachen, Bilder von Indien sehen, dazu Geräusche aus und Erzählungen über Indien hören. „Land and Climate, Agriculture, Manufacturing, People and Culture“. So schön wie hier kann es dort allemal sein.
Soeben erschien Christoph Schlingensiefs Buch: „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! Tagebuch einer Krebserkrankung“, Kiepenheuer & Witsch
Die WELT vom 26.04.2009