„THEATER WAR NOCH NIE MEIN DING“ (MONOPOL)

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Monopol 12/07

Das Interview führte Cornelius Tittel

Frage: Herr Schlingensief, Sie haben zuletzt einen Film in Namibia gedreht, eine Oper in Manaus inszeniert und zuletzt ein Opern-Geisterbahn in São Paulo gebaut. Sind Sie auf der Flucht? Raus aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, wo Sie jeder kennt? Schlingensief: Ich habe durch das Herumreisen auf jeden Fall eine Kraft bekommen, die ich in Deutschland vermisse, weil ich da immer „der Schlingensief“ bin, der „provoziert“. Wegfahren heißt für mich immer, ich fahre in eine Gegend, in der ich mich nicht auskenne. Und wo ich mich nicht auskenne, muss mich mehr bemühen. In Deutschland bin ich ja nur als Enfant terrible zu Gast.

Frage: In letzter Zeit sabotieren Sie diese Erwartungshaltung. Als Sie Anfang November im Züricher Migros-Museum ihre Ausstellung „Querverstümmelung“ eröffneten, hätte man zumindest ein Happening gegen den Rechtspopulisten und Wahlsieger Christoph Blocher erwartet. Dann war es doch „nur“ eine Kunstausstellung.

Schlingensief: Das ist dieses kranke Bild von politischer Kunst. Ich sabotiere keine Erwartungshaltung, sondern ich habe gelernt, dass es nichts mehr bringt, mit dem Megafon vor einem Politiker rumzubrüllen. Wenn politische Kunst ihren Rahmen gefunden hat, dann ist sie nicht mehr wert als die Gedenkmünze zum G-8-Gipfel. Ich glaube daran: Die Politik der Zukunft wird nur noch dann gewählt, wenn sie nichts mehr will. Blocher macht das gerade vor. Unser Bewusstsein ist doch weiter als das Reinheitsgebot der Politik. Der Politiker hat mittlerweile sein eigenes Theater. Und ohne Inhalt ist er auf der Erfolgsspur, das hat er sicher mit mancher Kunst gemein.

Frage: Und mit Theater wollen Sie zurzeit nichts mehr zu tun haben?

Schlingensief: Theater war doch nie mein Ding. Dieses blöde Nachvorneglotzen. Diese angestrengten Typen, die meinen, sie wären heute Abend Hamlet und morgen Faust. Ich kenn’ sie alle aus der Kantine, sie saufen und erzählen von früher, als sie noch so toll waren. Ihre Nasen sind rot und großporig, ihr Anspruch an die Gesellschaft ist größer als ihr Einfluss. Thomas Meinecke hatte früher das Motto: Theater zu Parkhäusern. Das stimmt immer noch. Für mich war Theater im besten Fall ein Studiogelände, das direkt in die Realität überging. Dazu musste man aber das Theater verlassen, und das habe ich ausgesprochen gerne gemacht. Im Theater denken alle noch, sie würden uns ein Bild zeigen. Ich hab’ hingegen immer gedacht: Wir stehen doch alle selbst im Bild. Und vor allem: Wer hat es gemalt? Auch diese Frage stelle ich mir in der Kunst.

Frage: Sie waren also die ganze Zeit am falschen Platz?

Schlingensief: Das Theater war ein Ort, den ich gerne benutzt habe. Da ich vom Film komme, musste ich am Theater erst mal in langen Szenen denken. Auch der Druck, vor Publikum zu stehen, ist anders: Der Raum überprüft mich, nicht ich überprüfe den Raum. Das war so das Minimalste, was es zu lernen gab, und daraus habe ich viel Material gezogen. Die Schauspieler waren am Ende diejenigen, denen das zu viel wurde. Im letzten Stück, „Kunst und Gemüse“, haben die Behinderten das Sagen übernommen. Die Inszenierung wurde dann zum Theatertreffen eingeladen. Ich hab’ mich damals sehr gefreut, weil das ja angeblich der Ritterschlag in der Theaterwelt ist. Und beim Theatertreffen selbst habe ich dann gemerkt, was auch das für ein jämmerlicher Fake ist. Da hofft man immer, dort eingeladen zu werden, und sieht dann, was das für eine miese Nummer ist. Eine Zuchtschau, bei der die Pferde prämiert werden sollen, die am besten laufen. Und man sitzt im Publikum und denkt sich, das kann ja wohl nicht sein, dass das Pferd laufen soll, das kann ja nicht mal stehen. Das war es mit dem Theater, seitdem bin ich durch damit.

Frage: Parallel zum Volksbühnen-Engagement haben Sie auch gleich ihre Berliner Wohnung gekündigt. Waren Sie am Prenzlauer Berg genauso fehl am Platz wie am Theater?

Schlingensief: Als mein Vater starb, habe ich Berlin verlassen. Weiß nicht genau warum, aber es war wie ein Ende. So, als wäre er mein einziger Zuschauer gewesen. Seit seinem Tod hat sich viel verändert, und eigentlich ändert sich seitdem fast jede Stunde etwas. Sein Tod war keine Inszenierung, kein Gemälde, kein Diskurs. Es macht keinen Sinn, sich ständig etwas vorzumachen. Manche Dinge sind realer, als „wir Künstler“ das überhaupt noch zulassen wollen. Wir saufen oder verstecken uns hinter unseren Intendanten oder Galeristen, wir sind so wahnsinnig depressiv, müssen geschont werden, äußern uns aber ständig zu allem und jedem. Wissen genau, wo Mitleid herkommt, was hip ist und warum die Sache so nicht läuft, blabla. Wir „verdichten“ unser Hirn auf diese Dinge, bis nichts mehr übrigbleibt. Und plötzlich merkt man, wie viel Kraft flöten geht, weil manche Orte so tun, als hätten sie was zu sagen. Der Prenzlauer Berg zum Beispiel.

Frage: Wieso?

Schlingensief: Dieser Ort simuliert Aufbruchstimmung, ist sozusagen der Wurmfortsatz der Berliner Republik. Nur dass die Galerien jetzt schon alle halbe Stunde eröffnen, da wird der Rotwein weggekippt, der Käse reingedrückt, und am nächsten Tag muss man erst mal aufräumen. Ab dann beginnt das große Warten. In der dritten Woche startet man dann noch den Waffelverkauf, aber auch die schmecken nur nach „ich will wieder zu Mama“. Und in der sechsten Woche kommen die Eltern, schütteln den Kopf, bezahlen den Strom und fahren nach Hause, und in der achten Woche meldet sich die Bank, dann wird geschlossen, das war’s.

Frage: Bis die nächste Galerie eröffnet.

Schlingensief: Genau. Übrig bleibt ein Frustrierter, der es vielleicht gar nicht schlecht gemeint hat, aber er war eben doch nur im Prenzlauer Berg, der zwar im Reiseführer als Klein-San-Francisco bezeichnet wird, aber auch San Francisco hat schon lange nichts mehr rausgebracht. Ein großer Fake mit ein paar großen Galerien, die den Spuk am Laufen halten. Du kannst es schaffen, wenn du willst! Aber dazu muss man erst mal wissen, was man will. Nur reich, nur berühmt? Sterben können – das wäre mal ein guter Schritt nach vorn.

Frage: Sie selbst suchen Ihre Freiheit auch in der Kunst. Sie sind mit Hauser&Wirth bei einer der renommiertesten Galerien der Welt unter Vertrag, nach ihren Soloschauen in Zürich und im Münchner Haus der Kunst sind etliche Gruppenausstellungen in Planung – vom ICA in London bis zum Centre Pompidou in Paris. Was gibt Ihnen der neue Kunstkontext, was Ihnen das Theater nicht geben konnte? Schlingensief: Ich arbeite jetzt 47 Jahre an einer Langzeitbelichtung, und dabei wird vieles überblendet. Ich sehe eine breite Totale. Die Verdichtung überlasse ich den Bildern. Ich kann das also gar nicht so voneinander trennen. Aber ich bin einfach extrem froh über diesen Schutzraum. Ich nehme den Schutzraum Museum nach meinen Erlebnissen am Theater voll und ganz an. Ich muss mich nicht darum kümmern, ob am Abend 400 Leute kommen und ich nach zwei Stunden beklatscht werde oder ausgebuht. Ich kann jetzt das machen, was ich immer gemacht habe. Und zwar alleine, wie im Schneideraum. Ein Museum hat für mich die Ausstrahlung, als wären alle draußen im Tiefschlaf, und man selbst kann arbeiten. Das mag ich sehr. Ich war ja auch in meinem Leben hundertmal öfter im Museum als im Theater. Im Museum kommt die Konzentration zurück, die ich im Theater verloren habe. Da gibt es kein Lampenfieber. Und am schönsten ist für mich die Erkenntnis, dass sich die Bilder auch dann noch unterhalten, wenn ich schon zu Hause bin. Mir kommt das alles ziemlich unangestrengt vor.

Frage: Viele Beobachter empfinden die Kunstwelt gerade ganz anders als Sie, eher als angestrengt, überhitzt, sensationalistisch.

Schlingensief: Mit der Marktseite habe ich ja nicht so viel zu tun, das ist ja eher der verblödete Teil der Veranstaltung. Aber aus der Ferne denke ich, dass der Boom im Kunstmarkt vielleicht trotzdem das Beste ist, was der Kunst passieren kann.

Frage: Wie meinen Sie das?

Schlingensief: Die Kunst ist ja nur noch unterwegs, von Stadt zu Stadt, von Messe zu Messe, von Museum zu Museum. Sie ist unterwegs, um sich zu treffen. Ob die Menschen daneben stehen und Geld zählen, ist der Kunst ja egal. Das stört die Kunst gar nicht. Irgendwann wird auch auf den Kunstmessen das Licht ausgemacht, und der Pförtner schließt die Tore. Das ist doch toll, da gilt dann dasselbe wie im Museum, da kann sich die Kunst in Ruhe unterhalten.

Frage: Besuchen Sie selbst auch Kunstmessen?

Schlingensief: Ich hab’ die Frieze besucht und auch das Artforum in Berlin. Ehrlich gesagt, ich hab’ es nicht ganz verstanden. Es kam mir so vor, als seien das alles Hundezwinger, und normalerweise beißt und knurrt der Hund, und hier winselt er und sagt, komm rein. Auf der Kölner Kunstmesse hab’ ich mal einen Freund mit versteckter Kamera und Mikrofon losgeschickt, als Sammler getarnt. Und der wurde dann von einem Galeristen gefragt, wie viel er denn anlegen wolle, und mein Freund hat gesagt: Zwischen 50000 und 100000. Und dann im Kämmerchen wurde ihm was für 75000 gezeigt, und der Galerist sagte, das wäre ein sehr gutes Geschäft, der Künstler sei schwer krank und würde es nicht mehr so lange machen.

Frage: Im Ernst?

Schlingensief: Das will ich aber hoffen. Dieser Galerist hat das hoffentlich ernst gemeint, und der Künstler ist hoffentlich schon tot.

Frage: Stört es Sie gar nicht, dass Sie im Kunstkontext ein Newcomer sind? Jemand, dessen Namen man in den USA oder England nie gehört hat?

Schlingensief: Ich würde das als Erleichterung bezeichnen. Es spornt mich eher an, die Konzentration zu suchen. Es ist doch gut, wenn jetzt neue Leute auf meine Bilder schauen, ohne zu wissen, wer ich bin und was ich alles gemacht habe. Und wenn ich Leute wie Harald Falckenberg, Julia Stoschek, Francesca von Habsburg gefunden habe, die mir mehrere Arbeiten ermöglicht haben, dann ist das doch eine echte Befreiung. Auch Iwan Wirth, mein Galerist, ist wichtig, weil er mir seit vier Jahren vorkommt wie jemand, der überlegt, wie er meine Sachen am besten vermitteln kann.

Frage: In der Züricher Ausstellung konnte man ein amerikanisches Sammlerpaar dabei beobachten, wie es um die Installation „Kaprow City“ herumlief. Irgendwann sagte die Frau zu ihrem Mann: „That looks very Meese.“ Trifft Sie so ein Kommentar? Ein Kommentar, der völlig ausblendet, dass Sie seit den Achtzigern an Ihrem Werk arbeiten und eben kein junger Kunststudent sind, der Jonathan Meese nacheifert?

Schlingensief: Ich nehme für mich in Anspruch, dass meine Arbeit immer mit gesellschaftlichen Perspektivverschiebungen arbeitet. Ich rede zwar auch von mir, aber ich bin nicht der Egomane im eigenen Zauberreich. Ohne die Orte Bayreuth, Manaus, Island oder Afrika könnte ich nicht arbeiten, ich brauche Manifeste und Theorien, Fachliteratur und den Tod. Dann kann ich denken und arbeiten. Jonathan ist jemand, der in seiner eigenen Wahnschneise rumarbeitet. Wenn ich Jonathan irgendwo wieder höre und es ist ein bisschen Zeit vergangen, dann denke ich zwar, dass da jetzt aber auch nicht viel neuer Text dazugekommen ist, aber das stört mich nicht weiter. Der wird bald das Problem haben, dass man sagen wird, der muss sich jetzt auch mal was Neues ausdenken. Den Spruch kenne ich aber auch von meiner Arbeit. Jonathan und ich sind seit Ewigkeiten bekannt und befreundet. Wenn das ähnlich wirkt, dann ist das eher sein Problem. Ich komme vom Film und baue Studios. Und das werde ich demnächst auch bei dem Amipaar aus der Ausstellung tun, und dann warte ich auf deren nächste Einschätzung

Frage: Gleich zu Beginn der Züricher Ausstellung sieht man einen alten Super-8-Film Ihres Vaters, auf dem Sie als Kind zu sehen sind. Der Film ist doppelt belichtet. Man sieht Sie, wie Sie eine Flasche Wasser trinken, gleichzeitig sieht man die Aufnahme eines Wasserfalls. Wieso eröffnet dieser Film Ihre Ausstellung?

Schlingensief: Das war 1967. Wahrscheinlich der größte Flash in meinem Kopf: Da sehe ich mich als 7-Jährigen zweimal im selben Bild. Wasser trinken – Wasserfall. Und mein Vater hat es nicht extra gemacht, sondern den Film einfach zweimal umgelegt. Und so entstand eine Doppelbelichtung. Wenn eine Kamera eine Doppelbelichtung gemacht hat, damit ich etwas sehen kann, was vorher nicht da war, dann ist das sensationell für mich. Das ist der Punkt des Jahrhunderts für mich, das ist die Sensation: Ich sehe was, was du nicht siehst. Deshalb steht dieser Film am Anfang der Ausstellung.

Frage: Man könnte auch glauben, all die Doppelbelichtungen, all die Folien vor den Bildern in Ihren Installationen hätten auch etwas mit ihren Augenproblemen zu tun. Sie sollen diesen Sommer einiges abgesagt haben, weil Sie nicht gut sehen konnten.

Schlingensief: Das hat bestimmt auch damit zu tun. Mein Vater war ja am Ende seines Lebens blind und sein Vater auch. Ich hab’ auch diese Krankheit im Auge, die Drusen. Das sind Ablagerungen auf den Sehnerven, die werden nicht mehr weggespült. Und an den Stellen ist dann das Bild angefräst. Das habe ich kombiniert mit grünem Star, der den Druck auf den Sehnerv erhöht. Man muss Tropfen nehmen, einmal am Tag. Mein Vater hat das 15 Jahre gemacht, bis ganz erblindet war. Und gerade in letzter Zeit, als ich diese großen Augenprobleme hatte, dachte ich stark über die Bilder nach, die mir als Kind als klar beigebracht wurden, als ideal, als wirkliche Tatsache. Das klare, eindeutige Bild gibt es nicht. Es ist eine Lüge.

Frage: Es kann also durchaus sein, dass auch Sie völlig erblinden? Schlingensief: Das kann sein, ich nehme täglich meine Tropfen, aber die Drusen, das ist der beschissene Teil an den Augen. Ich hab’ Sehausfälle, rein messbar hab’ ich ziemlich viele schwarze Bereiche im Gesichtsfeld, wo ich diesen kleinen Lichtpunkt nicht sehe, aber das linke Auge ist noch ganz weit vorne. Trotzdem schleicht diese Angst durch die Adern, weil ich die Erblindung meines Vaters miterlebt habe. 15 Jahre lang. Da hat sich seine Angst oft übertragen. Wenn ich nach Oberhausen komme, dann ist es so, dass ich, je näher ich meinem Elternhaus komme, desto mehr anfange, Augentests zu machen. Links, rechts. Das mache ich normalerweise nicht. Ich versuche, mich nicht zu erinnern.

Frage: Weil das für Ihre Kunst das Aus bedeuten würde?

Schlingensief: Das weiß ich nicht mal. Ich hab’ im September, Oktober die Kreuzigungsszenen für „Fremdverstümmelung“ blind gedreht, einen Film, den ich in Zürich zeige. Da konnte ich nichts sehen, weil der Augendruck durch eine zusätzliche Augenentzündung so stark geworden war, dass alles wie hinter einer dicken Milchglasscheibe wirkte. Dazu kamen die Schmerzen durch das Licht. Ich konnte das nur drehen, weil ich einen Kameraassistenten hatte, der mich an einem Gürtel hin- und hergezogen hat. Und weil ich eine Kamera habe, die ich schon seit Ewigkeiten kenne. Ich würde fast sagen: Mit der kann ich auch noch drehen, wenn ich blind bin.

Frage: Ihren Film „African Twintowers“ zeigen Sie in Zürich gleichzeitig auf 18 Monitoren, vielleicht auch, weil er über 180 Stunden lang ist. Das ZDF hat ihn koproduziert und wartet jetzt angeblich auf eine Version in Spielfilmlänge. Stimmt das?

Schlingensief: Ja, aber ich kämpfe um eine andere Lösung. Der Film erzählt keine Geschichte. Er passt nicht auf die rechteckige Leinwand, die ich mittlerweile genauso wenig mag wie das Theater. Der Film hat eine Kraft, die in seiner Unvollkommenheit und seiner Unabgeschlossenheit liegt. Es ist kein Film. Eher so etwas wie eine Sammlung. Am zweiten Tag der Dreharbeiten, als wir von Windhoek in die Wüste fuhren, kam ein Anruf, mein Vater habe einen Herzinfarkt und sei mit Magenblutungen ins Krankenhaus geliefert worden. Das war der Moment, wo mein Vater anfing, die Welt verlassen zu wollen. In der Nacht kam man da nicht weg. Am nächsten Tag sagten die Ärzte, er sei stabilisiert, ich solle später wieder anrufen, das ging so lange so, bis mein Vater anrief und im Flüsterton sagte: „Bleib da, mach das mal, es ist gut, ich warte auf dich.“ Der Film wurde ein ganz anderer, ich hab’ das Drehbuch weggeworfen und jeden Tag einen anderen Film gedreht. Ich hab’ „Die Verdammten“ gedreht, „8“, „Faster Pussycat! Kill! Kill!“, „Paris, Texas“, „Die Nibelungen“. Ich habe keine Kontrolle mehr übernommen, es gab keinen Plan mehr, wir haben das gedreht, was ich mir in der Nacht überlegt hatte.

Frage: Der Film ist also unter Schock entstanden?

Schlingensief: Ein heilsamer Schock, weg von diesem sentimentalen „Ich dreh’ jetzt wieder einen Film“-Film. Man sollte ihn als Okularfassung ausstrahlen. Das heißt, das Bild wird in der Mitte als Kreis ausgestanzt. Also man sieht nur die Informationen im Kreis. So, als würde man durch ein Fernrohr auf die Leinwand blicken. Und alles was rechts oder links zu sehen war, ist weg. Auch die Titel sind nur unvollkommen. Das wäre die Okularfassung, damit könnte ich leben. Weil ich so eben nicht sage: So ist es. So ist es nämlich eben nicht. Ich glaube fest daran: Das Kino der Zukunft kann sich die viereckige Leinwand eigentlich nicht mehr leisten. Das ist vorbei. In Zürich habe ich das mit einem Treppenlift kombiniert, wo der Betrachter durchs Bild in den Himmel fahren kann. Sozusagen eine Himmelfahrt. Da weiß man auch nicht, was so alles noch am Rande auftauchen wird

Frage: Das ZDF wird nicht begeistert sein. Es wird in Ihnen wieder genau die Person sehen, die Sie nicht mehr sein wollen – der ewige Provokateur.

Schlingensief: Warum sollten sie? Sie provozieren doch mit ihrer Fernsehnorm. Ich denke darüber nach, was meinen Film davon abhält, so zu tun, als wäre er ein geschlossener Bereich. Das ist wie bei Warhols „Chelsea Girls“. Die Filmbilder unterhalten sich auch ohne mich. Sie haben in den dunklen Randzonen, wo sie sich nicht zeigen, ihre Kraft. Die Dunkelphase provoziert, nicht das angebliche Licht, das sie einem anhängen wollen. Die dunkle Seite ist mir bewusster als dieses Licht. Und wenn ich mich in dieser Dunkelphase betrachte, dann finde ich das unangenehm, peinlich, ekelerregend. Der größte Teil des Lebens besteht aus dieser Dunkelphase, und deshalb ist das Leben auch so unangenehm. Meinetwegen ist der Film deshalb auch so lang geworden. Nur weil ich vom Leben berichte, denken einige Leute, ich wolle sie provozieren. Das Leben ist die Provokation, oder genauer: Ich im Leben, das ist die Provokation.