FLIEGENDER HOLLÄNDER IM BERUFSVERKEHR (FAZ)

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Rätsel über Rätsel: Christoph Schlingensiefs brasilianische Operngeisterbahn

Von JOSEF OEHRLEIN

Sao Paulo, im Dezember.
So einfach war es also doch nicht. Als sich Christoph Schlingensief vor drei Jahren erstmals in Südamerika auf Geistersuche machte, ist er gleich wieder abgehauen. Man hatte ihm El Dorado versprochen. Aber da war nichts. Man hatte ihm versichert, er werde rasch mit Leuten in Kontakt kommen, die Geld und Glauben an die Kultur haben oder wenigstens schnell eine Drehbühne bauen können. Das Einzige, was er damals in São Paulo fand, war ein Mann, der im Zentrum herumlief und einen merkwürdigen Sprechfluss hatte, dabei eine Hand auf dem Boden an einem Faden zucken ließ. Das war Buñuel. Ein Rätsel.

Die Stadt, sagt Schlingensief heute, war kein Rätsel, sondern nur furchtbar. Seit jener Begebenheit hat sich viel verändert, auch Schlingensief. Er geisterte jetzt zum dritten oder vierten Mal durch Südamerika. In São Paulo haben sie ihm, sogar ganz schnell, in zehn Tagen nicht nur eine, sondern gleich mehrere Drehbühnen gebaut. In einem abgelegenen Arbeiterviertel hat er seinen Animatographen aufgebaut und eine Geisterbahn hindurchfahren lassen. Am liebsten hätte er seinen „Fliegenden Holländer“ aus Manaus als Gespensterschiff durch die Fluten des Stadtverkehrs gejagt. Mit der Operngeisterbahn ging es so, wie es ihm bei allen Projekten am liebsten ist: Sie drohte bis kurz vor der Verwirklichung zu scheitern. Die Erlösung kam dank der „Sesc“, dem Sozialwerk des brasilianischen Privathandels, einem Kulturgroßveranstalter und generösen Sponsor sowie durch das Goethe-Institut in São Paulo. Eine Woche lang drehten sich die Drehbühnen, schlug sich ein spastischer Tänzer in seiner Psychozelle fast den Kopf ein, wurde nebenan in der Revolutionskammer die venezolanische Revolution zu Grabe getragen, starb Titurel, während Zerline Masetto kokett ansang. Und die drei betagten Geisterbahnwägelchen von einem brasilianischen Schaustellerunternehmen schlängelten sich, mal gemütlich, mal in rasendem Tempo, durch das Operngeisterland.

Am spielfreien Tag ist Schlingensief nach Buenos Aires geflogen. Im Teatro Colón, dem Operntempel, auch da: nichts als Geister: Caruso, Kleiber, Strauss, Nilsson, Callas. Die Kraft ist noch da, befindet Schlingensief. Aber das Colón ist eine Baustelle. Der Termin der Wiedereröffnung wird immer wieder hinausgeschoben. Eigentlich sollte es der 25. Mai 2008 sein, der hundertste Geburtstag des Colón. Jetzt ist die Rede von frühestens Oktober, wahrscheinlich wird es aber doch erst irgendwann 2009.

Schlingensief will im Colón unbedingt etwas machen. Ein Wagner wird es schon sein müssen. Zuerst aber heißt es, die bösen Geister zu bannen. Das ist gar nicht so einfach, weil sich Schlendrian, Bürokratie, Anmaßung, Mittelmäßigkeit, politischer Opportunismus und Gewerkschaftsdenken fest eingenistet haben. Da wird Schlingensief wohl vorher noch seinen Operngeisteranimatographen in der europäischen Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in Herne zur Schau stellen.

Es scheint, als habe Schlingensiefs Wähnen in Südamerika eine gewisse Ruhe gefunden. São Paulo und Buenos Aires waren die richtigen Orte, um Erlösungsarbeit in eigener Sache zu betreiben. „Ich lebe sehr davon, wenn etwas nicht klar ist und eine gewisse Drohung drinsteckt“, sagt Schlingensief. Ein Abgrund, vielleicht: ein mystischer Abgrund.

Text: F.A.Z., 14.12.2007, Nr. 291 / Seite 35