Christoph Schlingensief und Richard Wagner – Der Wille zum Gesamtkunstwerk
Als Helmut Kohl ausgedient hatte als Feindbild und Gerhard Schröder sich doch als zu langweilig für echte Aufregung entpuppte, trat eine Gestalt in das Zentrum von Christoph Schlingensiefs Arbeit, der er sich nicht mehr primär mit Aggression, sondern mit Sympathie zuwendete: Richard Wagner.
Zuerst glaubte jeder, der bereits seit vielen Jahren in seinen Filmen und Theaterstücken herumgeisternde Komponist sei nur eine weitere Anti-Gestalt wie Adolf Hitler oder Guido Westerwelle. Personen, die Schlingensief dazu dienten, seinen Feldzug gegen Heuchelei und Verlogenheit zu illustrieren. Die Beschallung einer Robbenkolonie im Jahr 2000 mit Siegfried-Musik in Namibia im Stile der berühmten Szene aus Apocalypse Now war so eine Aktion, die Wagner als Soundtrack des Bösen zitierte. Auch seine großen Wagner-Performances am Ort der deutschen Herero-Massaker in Namibia (African Twin Towers, 2005) oder auf dem Totenfeld des Zweiten Weltkriegs in Neuhardenberg (Odins Parsipark, 2005) schienen Wagner als Fahrstuhlmusik zur Hölle zu benützen. Tatsächlich aber entschlüsselte sich das Interesse Schlingensiefs an Wagner als Liebe – und das nicht erst seit seiner Parsifal-Inszenierung in Bayreuth 2004.
Der Wille zum Gesamtkunstwerk
„Wir sind Brüder im Fleische. Der war genauso getrieben wie ich“, erklärte Schlingensief einmal über den Komponisten, den er „sehr verehre“. Ein anderes Mal begeisterte er sich für das „lebensnahe Chaos“ Wagners, denn „sein Leben war ja auch ein Durcheinander“ – so ein Durcheinander wie Schlingensiefs eigenes Dasein zwischen großen Theatern, fernen Ländern, drängenden Themen und seinem eigentlichen Zuhause in Berlin Prenzlauer Berg. Und eben diese assoziative Kraft, dieser etwas größenwahnsinnige Wille zum Gesamtkunstwerk, der nicht immer einer rationalen Logik, sondern einer absolut persönlichen Sensibilität folgt, verbindet Wagner und Schlingensief als Künstler: „Mich interessiert Wagner als Besessener!“
Schlingensiefs zweite Inszenierung einer Wagner-Oper treibt diese obsessive Selbstüberforderung, die der Motor seiner Kreativität ist, auch noch zum klimatischen Exzess. Im brasilianischen Manaus, im Glutofen des Amazonasgebietes steht das berühmte Opernhaus, dem schon der Werner Herzog/Klaus Kinski-Film Fitzcarraldo huldigte. Hier wird Schlingensief den Fliegenden Holländer inszenieren. Der Premiere am 22. April geht zwei Tage zuvor eine ebenfalls von Schlingensief inszenierte Open-Air-Prozession zur Eröffnung des Festivals voraus, die vom Opernhaus durch die Stadt zum Hafen führt. Schon während seiner berühmten Verwandlung des Hamburger Schauspielhauses in eine „Stadtteilmission“ 1997 hatte er gefordert, die Fassade des Theaters abzureißen, um die Kunst dem Leben zu öffnen. Zehn Jahre älter und mittlerweile etwas gefasster im Umgang mit Totallösungen reicht es ihm, die Großkunst der Oper aus der Isolation des Kunsttempels herauszuholen und mit den ortsüblichen Mitteln des tropischen Karnevals populär zu machen.
Parsifal 2004 in Bayreuth
Die meisten Betrachter von Angela Merkel bis zum deutschen Feuilleton erlebten Schlingensiefs Opern-Debüt mit Parsifal am Grünen Hügel als Bildersturmflut, bei dem auf einer Drehbühne viel Zeugs und noch mehr Filme rotierten. Aber die Zuschauer bemerkten damals doch, dass etwas Neues in der Arbeit Schlingensiefs auftauchte. Hatte er bis dahin Personen und Themen nur benützt, um sie durch Ironie, Zynismus, Provokation und Übertreibung in ihrer vermeintlichen Sicherheit zu erschüttern, so nahm Schlingensief Wagner und sein Werk wirklich ernst. Er versuchte auf seine sprunghafte und dabei sehr moralische Art eine Deutung der Oper als existentielle Erfahrung.
Schlingensief – Wagner – Beuys
Doch bei aller Begeisterung und Verehrung ist Schlingensiefs Verhältnis zu Wagner ambivalent geblieben. Der drastische Einsatz der Musik in seinen zahlreichen Indoor- und Outdoor-Performances bezieht sich natürlich auf die atmosphärische Nähe der Wagner-Familie und Wagner-Kunst zur faschistischen Selbstinszenierung. Die monumentale Wirkung wird bei Schlingensief dann sehr effektsicher eingesetzt. Dort aber, wo er eine ernsthafte Annäherung an den künstlerischen Gehalt von Wagners Kompositionen versucht, führt er eigentlich immer die Symbole und Methoden eines anderen von ihm verehrten Großkünstlers als Kontrastmittel ein: Joseph Beuys. Bei Parsifal etwa zeigt er den Gral als verwesenden Hasen im direkten Bezug zu Beuys’ Symboltier für die Inkarnation. Und auch den künstlerischen Freiheitsbegriff des Mannes mit dem Filzhut braucht Schlingensief als Gegengewicht zum fest gefügten Großrahmen von Wagners Mythenspielen. Zwischen diesen beiden großen politischen Mystikern sucht sich Christoph Schlingensief als „metaphysisch obdachloser Metaphysiker“ erfolgreich seine eigene Welt. Jetzt auch in Manaus.
Christoph Schlingensiefs Inszenierung ist eine Koproduktion des Goethe-Instituts mit dem Kultursekretariat des Bundesstaates Amazonas. Sie wird von der Kulturstiftung des Bundes gefördert und hat im Rahmen des „XI. Festival Amazonas de Ópera“ am 22. April im legendären Teatro Amazonas Premiere. Eine zweite Vorstellung findet am 25. April statt. Das Festival wird eröffnet am 20. April mit einer Open-Air-Prozession, ebenfalls in der Regie von Christoph Schlingensief.
Till Briegleb
ist freier Theater- und Kunstkritiker und Mitglied der Auswahljury des Mülheimer Theaterfestivals stücke
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