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Kaprow-City – eine Installation des Rundumkünstlers Christoph Schlingensief an der Volksbühne

Von Ulrich Seidler

Bevor es hier um das Inhaltliche (Lady Dis Tod, die Nazi-Queen etc.) gehen kann, muss ein Eindruck von Aufbau und Ablauf des Abends vermittelt werden.

Christoph Schlingensiefs Kaprow-City in der Volksbühne ist nach Allan Kaprow benannt, einem im April gestorbenen Altmeister des Happenings. Die Stadt ist kreisförmig, nimmt die Drehbühne des Hauses ein und ist durch konzentrische Trennwände unterteilt. Die entstandenen, sich gegenläufig drehenden Sphären dieser „Wundertrommel“ (Schlingensief) sind wiederum in Boxen segmentiert. Was darin zu sehen war (Vampir mit Zahnbürste, Jenny Elvers-Elbertzhagen, Kunststoffbaby auf KZ-Wachturm u.ä.), dazu später.

Auch das Publikum muss sich einer Gliederung unterziehen: ungefähr ein Sechstel – die Gruppe der Bewohner – nimmt als Bestandteil des Bühnenbilds in den Boxen der Installation Platz. Ein weiteres Sechstel – die Geschichtsschreiber – sitzt auf einer Stuhlreihe am Rundhorizont. Und der Rest des Publikums – die TV-Zuschauer – sitzt im Zuschauersaal, vom Bühnengeschehen (Sperrholzzertrümmerung, Kuchenbacken, Autowrack usw.) abgeschottet durch den Eisernen Vorhang. Dieser größte Teil des Publikums erlebt den Abend als Videoübertragung.

Das filigrane organisatorische Gefüge ist an dieser Arbeit des als Kunstchaoten bekannten Schlingensief das Beeindruckendste. Schlingensief selber sitzt hinter einem Inspizientenpult und blickt hektisch von Monitor zu Monitor, spricht Anweisungen (z.B. „Weiter kotzen!“) in sein Walkie-Talkie. Unzählige Ordner, Requisiteure, Techniker, Assistenten wachen über den Ablauf, führen die Darsteller in ihre Boxen, tragen leergequetschte Orangenschalen weg. Ihr Ernst, mit dem sie bei der Sache sind, hat etwas Anmutiges. Nach ungefähr der Hälfte des zweistündigen Gekreisels beginnt sich diese Ordnung aufzulösen. Zwar besteht das Konzept darin, dass niemand im Theater, nicht einmal Schlingensief, alles mitbekommt, sondern das meiste verpasst, aber das macht trotzdem ungeduldig. Wer am Horizont saß, wollte auch mal mitfahren, die Kaprower hatten keine Lust, jedes Mal auf den Gong zu warten, bevor sie in die nächste Kabine durften, und irgendwann fanden auch die im Zuschauersaal ausgeschlossenen Leute einen Weg hinter den Eisernen. Man unterhielt sich, Kulturbetriebler pflegten Kontakte und dem einen oder anderen Zuschauer widerfuhr bei der Übertretung und Verletzung der Ordnung sein ganz persönliches, befreiendes Meta-Theatererlebnis samt dramatischem Dialog: „Sie dürfen da nicht rein.“ – „Das ist doch lächerlich, die gehen alle da rein.“ – „Sie sind selber schuld, wenn Sie sich verletzen!“

Sollen wir nun zur Bedeutung des Gebotenen (Schamhaarrasur, frisch gepresster Orangensaft) schreiten? Erst, wenn wir kurz den Werdegang der Installation umrissen haben: Bei Kaprow-City handelt es sich um einen Ableger von Schlingensiefs „Animatographen“, einer begehbaren Installation, die im Zuge seiner Bayreuther Parsifal-Inszenierung geboren wurde. Seither wandert das irgendwie lebendige Ding durch die Welt – Island, Namibia, Österreich – und verleibt sich die Mythen der verschiedenen Kulturkreise ein. Der Betrachter hat die Möglichkeit, in dem aufgehäuften Zeichenwirrwarr Zusammenhänge zu entziffern oder zu konstruieren. Die wildesten Assoziationen hat natürlich Schlingensief selber. Er wird vielleicht erst zum Künstler, wenn er seine Kunst erklärt. So wie seine Werke vielleicht erst durch den routinierten Medienrummel zu Kunstwerken werden.

Aber was soll es bedeuten? Alles. Man muss es sich selber aussuchen.

15.9.2006