TRÜMMERMÄNNER UND BARACKENSTÄDTE (Theater der Zeit)

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Das Wiener Burgtheater zwischen Aktionismus und lauem Stadttheater oder
Was sich Christoph Schlingensief und Andrea Breth nicht zu sagen haben


Theater der Zeit, 27.3.06

Von Stephan Hilpold

Hellhörig für die Gesetze des Marktes werden am Wiener Burgtheater die unterschiedlichsten Interessen zufrieden gestellt. Uraufführungen folgen auf Klassiker folgen auf Blockbuster folgen auf Aktionistisches, und in kaum einer der bisherigen Spielzeiten unter dem Intendanten Klaus Bachler war das so gut verfolgbar wie in dieser.

Eine perfekte Gleichgewichtslage könnte man ob des braven Austarierens von Ästhetiken konstatieren, doch wie das in solchen Fällen ist, werken im Hintergrund bereits die Strippenzieher. Bachlers Nachfolge steht nach seiner Bestellung zum Intendanten der Bayerischen Staatsoper zur Disposition, und es gilt als ausgemacht, dass die Stelle noch vor den Wahlen im Herbst (durch die Vertreter der regierenden konservativen Volkspartei) besetzt werden soll.

Das Haus und seine Besucher jedenfalls sind vorbereitet – wer immer das Rennen macht. Das zeigen nicht erst die vergangenen Monate. In der Adventszeit etwa machte sich Andrea Breth an „Minna von Barnhelm“, in der Nachweihnachtszeit war dann Christoph Schlingensief dran: Weiter kann das Pendel nicht ausschlagen. Es markiert auch einen Zustand der beiden Regisseure.

Nach einem düsteren, beinahe Ku ˇsejesken „Don Carlos“, der zu den Highlights der Intendanz zählt, verhedderte sich Breth in Lessings Lustspiel. Wobei ihr Ansatz nicht uninteressant wäre. Die Wiederherstellung einer Nachkriegsordnung funktioniert nur auf den Trümmern seelischer Leichen.

Das Gasthaus, in dem Minna ihren Tellheim wiedertrifft, ist in Wien denn ein zerschossenes, halb verfallenes Hotel, bevölkert von ehemaligen Soldaten, die sich ins Leben zurück hanteln – oder eben nicht. Den Blick gesenkt, mit Armbinde und im dicken Mantel ist der kahlgeschorene Tellheim des Sven-Eric Bechtolf ein Trümmermann. Einer, der auf seinem Schicksal wie auf einem Beißknochen rumnagt. Die quirlige Minna der Sabine Haupt dringt zu diesem Mannesklotz nicht durch – ja, was soll diese aufgedrehte, weitaus mehr im Heute verankerte Frau diesem Mann auch zu sagen haben?

Bei Andrea Breth, dieser Seelenausloterin, finden die Figuren nicht zueinander. Da gibt es Chargen wie Just (Markus Meyer), charmante Pointenreißer wie den Wirt (Udo Samel), dämliche Fräuleins wie die Zofe Franziska (Pauline Knof), doch sie wandeln durch eine Inszenierung, die konzeptionell zu schwach und schauspielerisch zu unausgegoren ist. Ein Lichtlein ist in diesem Advent an der Burg keines aufgegangen.

Das ist erst im neuen Jahr der Fall: Jetzt gibt es Baracken statt der üblichen Bestuhlung, an der Decke flimmern Projektionen, Lautsprecherdurchsagen und Sirenengeheul. Als wäre die Bühne explodiert und der Zuschauerraum gleich mit. Christoph Schlingensief ist zu Gast.

Diesmal trägt er Anzug, neben ihm steht die leibhaftige Patti Smith, die sich seit dem Bayreuther „Parsifal“ zu Schlingensiefs Jüngern gesellt hat, sie trägt ein Kaffeehäferl in der Hand. Von der Festloge aus, wo normalerweise die in Österreich weltbekannten Honoratioren sitzen, blicken sie runter auf ihr Werk. Im Trippelschritt und Gänsemarsch bahnen sich hier die Zuschauer ihre Wege, blicken in Gucklöcher und Monitore, schmieren sich ihre Hände mit Margarine ein. Und Schlingensief und Smith dachten, dass es gut sei.

Für jene, die sich das erste Mal in diese Bretterverschläge verirren, in die Buden mit ihren Schleichwegen samt Überraschungspräsenten, ist es dagegen wohl das blanke Chaos. Eine einzige Herausforderung für Stadtindianer. Zur Orientierungshilfe hatte man noch einen ungefähren Plan in die Hände gedrückt bekommen und Schlingensief und Co. hatten auf der Feststiege auch noch einige Ratschläge parat. Doch wie das bei Orientierungsläufen eben so ist: Seinen Weg muss sich jeder alleine bahnen – durch eine für Schlingensief und seine Mitstreiter in der mittlerweile vierten Etappe geordnete Welt.

„Animatograph“ nannten sie ihr Miniuniversum, damals beim Aufbruch in Island vor mittlerweile neun Monaten. Eine Drehbühne inmitten eines Labyrinths war das, die Schlingensief im Keller eines Kulturzentrums zum Drehen gebracht hatte. Ein Rotieren mit Odin und Thor, mit Bambi und Parsifal, mit Beuys und Dieter Roth. Eine Untergrundaktion. Ein wildes, ein wüstes Mythensammelsurium im Eis und im Schnee.

Die Kälte ist mittlerweile gewichen. Von Island ging es nach Neuhardenberg bei Berlin und dann weiter nach Lüderitz in Namibia. „Area 7″ hieß nun das Projekt, nach einem Wellblech-Township am Rande der Stadt. Schlingensief drehte hier seinen ersten Film seit acht Jahren („The African Twin Towers“). Der ursprüngliche Animatograph wurde verkauft (an die Kunstmäzenin Francesca von Habsburg), neue Exemplare des Schlingensief’schen „Seelenschreibers“ kamen hinzu und natürlich noch vieles mehr. Schließlich landete man in der Wiener Burg.

Vor Wochen war hier bereits Hermann Nitsch zu Gast, der Aktionist, der seine Blut- und Gedärme-Spiele nun endlich im Allerheiligsten seines ungeliebten Vaterlandes abhalten durfte. Und jetzt Schlingensief. Nach Weihrauch riecht es auch bei ihm – wie könnte es bei einem Abend, der sich im Untertitel „Matthäusexpedition“ nennt, auch anders sein.
Die Passion Christi wird zur Obsession des Schamanen aus Oberhausen. Der Leidensweg zum Jubelfest. Die Erlösungsrufe aber bleiben. Ungewöhnlich andächtig geht es auf dem Schlingensief’schen Kreuzweg diesmal zu, „einen weichen Abend“ hatte er bereits zu Anfang verkündet, „keinen Abend der Aggression“. Patti Smith sprach von Harmonie und sang dann ihre berückenden Lieder. Sind es die heiligen Hallen, die aus dem Ganzen ein Weihespiel machen? Oder nähert sich Schlingensief immer weiter dem Kern seines Unternehmens?

Ausgezogen war der Gralsritter Schlingensief um seine „aktionistische Fotoplatte“, wie er den Animatographen damals nannte, zu belichten: mit seinen eigenen Erfahrungen, mit jenen seiner Besucher, mit den Eindrücken von den Orten, an denen man Station macht. In Island waren denn noch die Bilder des Bayreuther „Parsifal“ zentral und des Jelinek’schen „Bambiland“, jetzt nähert er sich immer weiter seinen eigenen Göttern: Die neben dem Animatographen (im Zuschauerraum) zweite Drehbühne in der Burg, jener auf der Bühne selbst, wird von einem Schiff überthront. Die Segel des Fliegenden Holländers, darum überbordende Roth’sche Zimmer, heilige Beuys’sche Stationen, Brus’sche Kammern, Jelinek’sche Vorlesungen und Schlingensief’sche Lebensstationen. Der Filz und das Fett, die Eichen und die Hasen. Der Mutterleib und das Vateruniversum, die Aktionsfilme und der Wagnersohn.

„Schlingensief ist ein Großmeister des Scheißens“, sagt irgendwann während der langen aktionistischen Installation, die schon am späten Nachmittag eröffnet wird und erst kurz vor Mitternacht zu Ende geht (sie ist die vierte der Reihe), der Kulturtheoretiker Bazon Brock in seinem Vortrag mitten in der Barackenstadt, „ein Großmeister in der Kunst des Haufenbildens“. Ein großartiger Verdauungskünstler, dessen Ausscheidungen die beredtesten Spuren sind: Fährtenleser haben es trotzdem schwer. Und gehen dem Künstler auch auf den Leim.

Denn genauso wenig wie man in Schlingensief einen Allesverwerter sehen darf, lassen sich seine Paralleluniversen bis in ihre Details entziffern. Der Gralssucher ist immer auch der kleine Junge, der anderen eine lange Nase dreht, ein heiterer Aktionist, der Konsorten wie Nitsch oder Brus schon allein mit seiner Selbstdistanzierungsfähigkeit aussticht. Und immer auch zu einem Spaß aufgelegt ist: Da tritt Michael Jackson auf und wagt einen Mondtanz, da werden die vergangenen zwanzig Jahre der Schauspielikone und Schlingensief-Mitstreiterin Irm Hermann analysiert, Robert Stadlober erklärt die Worte seiner chinesischen Schauspielkollegin, die die Besucher durch die Hinterbühne führt.

Doch über allem thront der Zeremonienmeister, am Ende eines großen und ungemein dichten Abends gibt er das Zeichen zur „Matthäuspassion“, das Segel des Fliegenden Holländers wird eingezogen, die Fahrt ist vorerst vorbei. Im Unterschied zur Burg weiß man bei Schlingensief aber, wie die Reise weitergeht: nach Nepal und nach Brasilien.