„ICH WILL DIE OPER NICHT ZERSTÖREN“ (BONNER GA)

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GA-GESPRÄCH Regisseur Christoph Schlingensief erläutert, warum die szenische Realisierung von Moritz Eggerts Oper „Freax“ in Bonn, die nur in einer konzertanten Aufführung zu erleben sein wird, gescheitert ist

Von Bernhard Hartmann

„Der Virus ist im Abmarsch“, sagt Christoph Schlingensief erleichtert, als wir ihn in einem Café an der Bonner Oper treffen. Doch die Krankheit ist ihm noch deutlich anzusehen. Als er die dunkle Sonnenbrille lüpft, kommen zwei heftig gerötete Augen zum Vorschein. Dass die Ärzte dem Regisseur weiterhin Ruhe empfehlen, muss er gar nicht erst betonen. Wegen der Virusinfektion hatte Schlingensief, wie gestern berichtet, die Arbeit an der Inszenierung von Moritz Eggerts neuer Oper „Freax“ aufgeben müssen, die nun am 2. September beim Beethovenfest in einer konzertanten Fassung zu erleben sein wird. Mit dem Komponisten und der Opernintendanz hat er sich jedoch darauf geeinigt, in der Pause im Foyer des Hauses eine Art Kommentar zum Stück zu zeigen: „Fremdverstümmelung 2007 – Freax – Ein Diskurs über Behinderung in der Oper“, heißt er und besteht im Wesentlichen aus Filmmaterial, das er trotz seiner Krankheit derzeit mit behinderten Schauspielern erarbeitet, die ursprünglich an der Inszenierung hätten mitwirken sollen. Zum Teil wird das Material auch auf DVD gebrannt, die der Zuschauer dann als Teil des Werks nach Hause tragen kann.

Doch die schwere Augenentzündung war nicht das einzige Problem, das die eigentliche Inszenierung der Oper zum Scheitern gebracht hat. Schlingensief findet, die Oper habe eine entscheidende inhaltliche Schwachstelle. Und die sieht er in dem Umgang mit den Behinderten. Eggerts Musikdrama „Freax“ sieht ausschließlich echte Opernsänger auf dem Besetzungszettel vor und gibt wirklichen Behinderten keinen Raum. Natürlich könne die Arbeit mit solchen Darstellern einen Abend ins Wackeln bringen, sagt Schlingensief. Das aber findet er gerade spannend und wichtig. Und für ihn ist dieses irritierende Moment des Fremdseins, das den Zuschauer berühren würde, das eigentliche Thema.

Bei der Lektüre von Hannah Dübgens Libretto hatte er vor allem Tod Brownings Film „Freaks“ aus dem Jahre 1932 assoziiert. Die Geschichte ist in einer Kuriositätenshow eines Zirkus angesiedelt und behandelt die tragisch endende Liebe eines zwergwüchsigen Darstellers zu einer schönen Trapezkünstlerin. Schlingensief sagt: „Das ist ein ausgesprochener Lieblingsfilm von mir. Ich finde, er zeigt, dass bei der Arbeit mit den Behinderten extrem gute, pure Verhältnisse herrschten. Ich glaube nicht, dass Browning die Leute angebrüllt hat.“ Auch Schlingensief arbeitet seit 1993 regelmäßig mit behinderten Darstellern, hat ihnen unter anderem an der Berliner Volksbühne immer wieder ein Podium gegeben. Manche, wie etwa Achim von Paczensky, sind bis heute dabei geblieben. „Damals hat Achim für den Arbeitersamariterbund jeden Tag 150 Hühner geschlachtet. Das fanden die Leute völlig in Ordnung, obwohl er sehr darunter gelitten hat.“ Deshalb findet Schlingensief Vorwürfe absurd, er führe die Behinderten auf der Bühne vor. Achim von Paczensky habe dort „wunderbar schräg“ gesungen. „Ich mag immer, wenn die Autonomie dieser Menschen gewahrt bleibt.“ Er akzeptiert sie mit all ihren Besonderheiten, mit ihren Krisen, die sie durchleben wie jeder andere Mensch.

Schlingensief hätte seine Schauspieler auch in Bonn gern stärker integriert, wollte ihnen mehr bieten als kurze Aktionen in den Generalpausen. Das hätte jedoch Änderungen am Stück erfordert, die natürlich nicht durchzusetzen waren. Schlingensief ist sich dieses Dilemmas durchaus bewusst: „Ich will die Oper von Moritz nicht zerstören. Das ist sein Werk.“

Ungewohnt war für den Regisseur auch die Erfahrung, sich ein Stück neuester Musik des 21. Jahrhunderts anzueignen. Zwar hatte Moritz Eggert ihm während eines Treffens in München einen etwa zehnminütigen Ausschnitt vorgespielt und -gesungen, doch einen authentischen Klangeindruck erhielt Schlingensief erst jetzt bei der Orchesterprobe in der Bonner Oper. „Es wäre besser gewesen, wenn diese Probe vor der Sommerpause stattgefunden hätte“, meint er heute. „Ich habe aber viel gelernt. Wenn ich im nächsten Jahr an der Deutschen Oper in Berlin die ,Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna` von Walter Braunfels inszeniere, werde ich vorher noch häufig die Aufnahme hören. Dann kann ich meine Gefühle erst in Gang bringen.“

Schlingensief bedauert zwar das Aus für die szenische Realisierung in Bonn. Aber er sieht den „langen, intensiven Kampf um das Werk“ auch als Chance: „Jeder von uns darf – und das ist das Verdienst des Hauses – seine Sache am Ende dem Zuschauer zeigen.“ Und eine komplette Inszenierung des Werks könnte er sich zu einem späteren Zeitpunkt auch vorstellen.

(Bonner Generalanzeiger, 22.8.07)