SCHLINGENSIEF WAGT WAGNER IM URWALD (DIE WELT)

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Operninszenierungen am Amazonas sind ein heroisches Unterfangen. Das ist seit dem Film Fitzcarraldo bekannt. Nun inszeniert Christoph Schlingensief Wagner in Manaus. Am Freitag hat er eine Kostprobe gezeigt. Schon das war blanker Wahnsinn.

Christoph Schlingensief, das ewige Kind, der unermüdliche Visionär, er hat es wirklich geschafft. Mit einer mehrstündigen Ouvertüre aus Opern-Open-Air-Happening, Sambaprozession, spätnächtlicher Bootsfahrt auf dem Rio Negro und von Magnesiumfackeln umzuckter Totemzeremonie in einer vom Amazonasurwald überwucherten Klosterruine eröffnete er das 11. Festival Amazonas de Opera im legendenumwobenen Opernhaus von Manaus. Am Sonntagabend folgt dann die Indoor-Premiere von Schlingensiefs Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“.

Bayreuth hat ihn mit dem „Parsifal“ abgehärtet, da konnte ihn jetzt das Abenteuer mit der Wagner-Oper in Brasilien auch nicht mehr schrecken. 600.000 Euro kostet die so absurd anmutende wie faszinierende Produktion, zu der die Bundeskulturstiftung 200.000 Euro beiträgt, das Goetheinstitut in Sao Paulo für Logistik und Manpower sorgte, das Münchner Haus der Kunst anschließend die dabei entstandenen Videofilme als Ausstellung zeigt und diverse Kunstmäzene, Stiftungen und brasilianische Regierungsstellen ihren Beitrag leisten. Zwar muss Christoph Schlingensief nicht wie einst Klaus Kinski als Fitzcarraldo in Werner Herzogs wahnwitzigem (weitgehend in Peru gedrehtem) Film von 1982 ein ganzes Schiff über den Berg ziehen, um zu Wagner zu finden, aber der Berg kommt auch nicht unbedingt zu Schlingensief. Nach zwei Monaten Probenzeit, feuchtwarmer Hitze, viel Schweiß und Geschrei hat die Schlingensief-Family aus Freaks und Fanatikern, Behinderten, Begnadeten und Bekloppten, Praktikanten und Pragmatikern nun auch dieses Ding gestemmt. Wenn auch nur für zwei Aufführungen.

Enrico Crauso kam entgegen der Legende nicht bis zum 1896 mit Ponchiellis „La Gioconda“ eröffneten Opernhaus Teatro Amazonas in Dschungel von Manaus. Die Angst vor der Cholera hatte den Tenorrissimo vorher wieder abdrehen lassen. Und auch Herzog konnte nur auf der Freitreppe vor dem Theater drehen, das damals völlig verkommen war. Der Prunkbau entstand auf dem Höhepunkt des Kautschukbooms, der die Stadt im Dschungel märchenhaft reich werden ließ. Die Marmorsäulen und Kronleuchter stammen aus Italien und Frankreich, selbst das einheimische Edelholz war in Europa bearbeitet worden. Doch bald wurde es zum Festmahl für die Termiten und zum Leichenschmaus einer vergessenen Stadt von Gestern.

Boomtown am Amazonas

Seit Manaus zur Freihandelszone erklärt wurde, blüht hier freilich wieder die Wirtschaft, mit 1,7 Millionen Einwohnern ist die Stadt ohne Straße zur Außenwelt nach Sao Paulo und Rio de Janeiro die drittgrößte Metropole Brasiliens. Das Teatro Amazonas hat man Anfang der neunziger Jahre aufwändig saniert, Musiker aus Russland wurden zum Orchester neu zusammengefügt. Die bunte Saison kulminiert seit elf Jahren alljährlich im von dem Dirigenten Luiz Fernando Malheiro geleiteten Festival Amazona de Opera. Dessen bisheriger Höhepunkt war 2005 die erste zyklische Aufführung von Wagners „Ring des Nibelungen“ in Brasilien.

Kurz darauf entstand via Goethe-Institut in Sao Paulo der erste Kontakt zwischen Malheiro und dem eben mit den höheren Bayreuth-Regieweihen versehenen, so charmanten wie penetranten Aktionskünstlerchaoten. Und jetzt wird hier von ihm wirklich und wahrhaftig die an sich schon unmögliche Kunst der Oper zu einem neuen und absurd anmutenden Höhepunkt geführt.

Die Planung war kurzfristig, die brasilianische Finanzierung kam spät, doch dann schweißten die furiosen Werkstätten eine Drehbühne zusammen, auf der während der Proben freilich zweimal der Chor einbrach und endlich jene hohen Cs hören ließ, die sonst nie kamen. Das willige, nicht einmal um seine Instrumente fürchtende Orchester wurde genauso wie zwei halbnackte Sambatänzerinnen auf hohen Haken per Schiff in den Urwald verfrachtet, wo sie die Ouvertüre spielten und tanzten während Schlingensief ihr Tun mit einer alten Handkurbelkleinkamera filmte und das Restteam unter seinem Videoequipment schwitzte.

Der Abbruch war nahe

Ein Zwergin und den fünften Beatle, Klaus Beyer, der nun Jonathan-Meese-Perücke trägt, hat Christoph Schlingensief aus Deutschland mitgebracht, das Sängerensemble wurde international zusammengecastet. Mehrmals schien der Abbruch nahe, Vor zwei Monaten starb Schlingensiefs Vater, eben erlitt seine Mutter einen Schlaganfall. Ihm selbst wuchs angeblich aus dem Ohr eine Schlingpflanze. „Die Frist ist um“ dröhnt nun ausgerechnet an Führers Geburtstag der Holländer und lässt endlich das Wagnerinferno über Manaus live herein krachen.

Ganze Familien haben auf dem Theatervorplatz ihre weißen Stapelstühle eingenommen, Säuglinge schlafen, Kleinkinder kreischen nach kunterbunter Zuckerwatte, Clowns zeigen roten Nasen auf kaffeebrauner Haut. Das auf hohem Sockel thronende Theater sieht mit seinen guaveroten, von weißem Stuckschaum verzierten Wänden wie eine Hochzeitstorte aus, über der sich eine moscheeartige Goldkuppel aus Elsässer Kacheln erhebt, umrundet von den brasilianischen Farben Gelb, Blau und Grün. An seiner Seitenfront ergießen sich über Balkone, Treppen und Terrassen das schwarzgewandete Orchester, die Choristen in priesterlichem Ornat; der Geisterchor sind männliche Nonnen, die Spinnerinnen auf der anderen Seite drehen statt am Rädchen an riesigen Grillspießen mit Kautschukkugeln. Zwei Videowände übertragen das wüste Geschehen.

In einem rosa Plisseekokon als Mischung aus Robbenbaby und Evita Perron plärrt die Halbjapanerin Eiko Senda Sentas Ballade blechern über die Lautsprecher. Ihr Vater Daland ist ein Sektenführer, Frau Mary schwingt ihre Reiherfedern, der Holländer thront auf einem zweistöckigen, von bunten Riesenfischen umschwärmten Pappschiff. Der Mann am Mischpult dreht durch, verursacht mit klirrenden Geigen, dumpf dröhnenden Bässen, grellem Blech und knallender Harfe eine brüllende Kakophonie.

Karneval und Wagner

Doch als die Auszüge aus „Il navio Fantasma“ (eigentlich „Das Gespensterschiff“) nach einer Stunde mit „Steuermann, halt die Wacht“ langsam und laut in den dritten Akt biegen, wackelt auf einem riesigen Kuhschädel eine Sambatänzerin herein. In einer Prozession werden weitere Totemkühe, versehen mit den Bildnissen von Wagner, Verdi, Kinski und der Callas, vorbei geschleppt. Und dann, Wagners nachkomponierter Dur-Schluss verhallt fast ungehört, übernimmt der brasilianische Karneval und trägt die europäische Oper in die südamerikanische Stadt, hin zur Kathedrale. Kinder und Greise, mal barock umhüllt, mal (fast) indianernackt, tanzen in Formationen los, Trommler und Tänzerinnen feiern Sentas Opfer und Erlösung auf Brasilianisch weiter. Dazwischen ein klatschnasser, aber glücklicher Schlingensief, hier „Ischlingsf“ ausgesprochen, der unermüdlich mit der Kamera kurbelt. Die Filme werden in die Inszenierung am Sonntag miteinfließen.

Anschließend sollen eigentlich sieben Schiffe aus dem Hafen auslaufen, die auch hierzulande sehr umständlichen Behörden gestatten nur eines. An Bord; vier der nepalesischem Totemkuhstelen. Sie schippern nun mit den Treusten der Treuen anderthalb Stunden über die jetzt wirklich samtschwarzen Fluten des Rio Negro. Inmitten der feuchten Restmauern eines erst als Kloster, dann als Leprastation und schließlich als Gefängnis dienenden, fast völlig vom Dschungel zurückeroberten Gebäudes werden sie aufgestellt und zum Teil verbrannt. Gespenstisch flackern Fackeln und Handlampen durch die Nacht, im letzten, dem Voodoozimmer, zuckt ein Graffiti von Osama bin Laden aus dem Dunkel. Und wieder dröhnt Wagners Musik aus dem tragbaren CD-Player. „Wenn das Tarkowskij noch erlebt hätte“, stöhnt verzückt der Dramaturg Karl Hegemann. Und auch hier hat noch eine Bar offen.

Um vier Uhr morgens legt das Schiff wieder im zu dieser Uhrzeit heimeligen Hafen an. Die Frist ist jetzt wirklich fast um. „Der Fliegende Holländer“ kann Manaus entern. Die weltweiten Wagnerianer sind schon im Anmarsch.

DIE WELT, 21.4.2007