SCHLINGENSIEFS NACHLASS (ZEIT)

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Theaterkasper im Archivregal

Von ALEXANDER CAMMANN

Schwarz leuchten im Regal die Archivkästen. Die kleinen Beschriftungen darauf künden von Terror 2000 und 100 Jahre CDU, dem Kettensägenmassaker, den 120 Jahren von Bottrop, der Wagner-Rallye und vielem anderen. Lauter Werke von Christoph Schlingensief – seit zwei Jahren werden sie in der Berliner Akademie der Künste aufbewahrt und Stück für Stück für die Nachwelt erschlossen. Noch zu seinen Lebzeiten hatte der 2010 früh verstorbene Regiekünstler dafür gesorgt; das Material in großen Pappkartons wanderte aus seinem Keller in Prenzlauer Berg in das hochprofessionelle Akademiearchiv. Was für ein paradoxer Weg: ausgerechnet Schlingensief der alle Schubladen sprengende Universalkünstler zwischen Aktionskunst und Theater, Film und Oper, nunmehr eingezwängt in schwarze Kästen, in der strengen Ordnung des Archivs. Das Scheinbar nur für den Moment schaffende, stets wilde Christoph-Kind liefert sich der ehernen Ewigkeit aus. Allerdings war Schlingensief von früh an ein fanatisch werkfixierter Künstler; minutiös dokumentiert bis heute die Homepage www.schlingensief.com sein Schaffen seit Jugendtagen. Nun also 40 Regalmeter Material: Korrespondenzen, Produktionsunterlagen, Entwürfe, Fotos, Plakate zu seinen Filmen, Fanpost, über 500 VHS-Kassetten mit Mitschnitten von allem, was ihm im TV interessant schien, alte Super-8-Filme, Musikaufnahmen seiner Band Vier Kaiserlein aus den siebziger Jahren, T-Shirts seiner Chance 2000 Aktion und unendlich viel anderes mehr. All das lagert in einem hierzulande einzigartigen Theater-Olymp: Friedlich ruht der besessene Schlingensief hier neben anderen Bühnen-Größen wie Benno Besson, Ernst Busch, Walter Felsenstein, Klaus Michael Grüber, Gustaf Gründgens, Alfred Kerr, Max Reinhardt oder George Tabori. Wiederum scheint es so merkwürdig, so gerecht und ungerecht zugleich, wenn der eben noch allgegenwärtige Schlingensief plötzlich zur Historie wird. Aber auch das ist womöglich nur das Spiegelbild einer Paradoxie: jener wohl atemberaubendsten Karriere in der neueren deutschen Kulturge-
schichte, bei der es jemand innerhalb weniger Jahre vom belächelten Theaterkasper zum allseits gefeierten Klassiker der nuller Jahre gebracht hat. Am Samstagabend wird nun das Christoph-Schlingensief-Archiv in der Akademie feierlich mit Freunden und Weggefährten eröffnet; neben der Witwe Aino Laberenz erwartet man unter anderem den Regiekollegen Jürgen Flimm, den Sammler Harald Falckenberg, den Schauspieler Martin Wuttke und die Sängerin Patti Smith. Die Gesellschaft der Lebenden auf der Bühne und der Toten im Regal – sie dürfte ihn immer wieder derart erstaunen, dass er lauthals begeistert dazwischentanzt.

Quelle: Die ZEIT Nr. 45 vom 31. Oktober 2012