„Knistern der Zeit“. Eine berührende Hommage an Schlingensiefs Opernprojekt in Afrika
Das Szenario erinnert an „Fitzcarraldo“, Werner Herzogs Film über einen Abenteurer, der keine Kosten und Mühen scheut, um im peruanischen Dschungel ein Opernhaus zu errichten. Auf den ersten Blick hatte auch Christoph Schlingensiefs Vision von einem Operndorf im afrikanischen Burkina Faso etwas von einer fixen Idee. Doch im Gegensatz zur historisch zwar verbürgten, von Herzog aber stark überzeichneten egomanischen Filmfigur betrachtete Schlingensief sein Projekt als Investition in die Zukunft Afrikas: Die Einrichtung in der Nähe der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou soll neben der Oper auch ein Krankenhaus und eine Schule enthalten. Es mussten zwar keine Schiffe über Berge transportiert werden, aber es ergaben sich Hindernisse ganz anderer Art. Dokumentarfilmerin Sibylle Dahrendorf hat den Verlauf dieses unerhörten Projekts zweieinhalb Jahre lang begleitet.
Entwicklung und Baubeginn sind allerdings von Schlingensiefs Krebserkrankung überschattet worden. Auf diese Weise wurde „Knistern der Zeit“ zu einem doppelten Film: Dahrendorf dokumentiert nicht nur, wie etwas entsteht, sondern auch, wie etwas vergeht. Ähnlich wie das Opernhausprojekt sind auch Schlingensiefs letzte Jahre geprägt von einem ständigen Auf und Ab.
Und so entwickelt „Knistern der Zeit“ seine Spannung auf zwei Ebenen: als Chronik der Realisierung einer Vision sowie als Logbuch eines Todes. Dass gerade die zweite Ebene nicht trübsinnig und morbide ausfällt, verdankt der Film der Hauptfigur. „Hier werde ich achtzig!“, ruft Schlingensief aus, als feststeht, wo das Operndorf entstehen soll. Tatsächlich wird er vermutlich schon damals geahnt haben, dass er nicht mal fünfzig werden würde.
Dahrendorfs größte Leistung besteht vielleicht darin, Schlingensiefs Charisma einzufangen, ohne sich ihm zu Füßen zu werfen. Natürlich steht der Regisseur ständig im Zentrum, bei der Grundsteinlegung in Ouagadougou im Februar 2011 ein halbes Jahr vor seinem Tod ebenso wie bei den Proben zum Stück „Via Intolleranza II“. Er selbst sorgt jedoch nicht zuletzt dank seiner Selbstironie wie auch seiner fast kindlichen Begeisterung dafür, dass keine Weihrauchstimmung aufkommt.
Man hat ohnehin das Gefühl, Schlingensief überaus nahe zu kommen, zumal der Film immer wieder eine Art Tagebuchcharakter annimmt. Davon abgesehen gab und gibt es ja bei kaum einem anderen Künstler eine ähnlich große Diskrepanz zwischen der Extravaganz seines Werks und dem natürlichen Charme des persönlichen Auftritts. Kein Wunder: Kunst, sagt Schlingensief, „ist Balsam für die Seele“.
Aus: Südkurier vom 06.06.2012
Von TILMANN P. GANGLOFF