LAS VEGAS AN DER LIMMAT (TAGESSPIEGEL)

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René Polleschs „Calvinismus Klein“ in Zürich – mit Christoph Schlingensief

Sterben lernen! Herr Andersen stirbt in 60 min.

Was ist das Theater denn anderes als Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauerraum, ein wenig Katharsis und ein Glas Rotwein nachher? An das kathartische Moment des Theaters glaubt René Pollesch bekanntlich nicht und an seine Relevanz ebenso wenig. Denn was wäre, wenn man seine Begleitung nach dem Schlussapplaus einfach an die Schauspieler delegieren könnte? Sollen die sich doch miteinander amüsieren!

Auf der Bühne des Zürcher Pfauen stehen dann allerdings lediglich Carolin Conrad und Martin Wuttke. Ein paar mehr Zuschauer waren denn doch zu René Polleschs Uraufführung „Calvinismus Klein“ erschienen – vor allem wohl, weil die ersten drei Vorstellungen auch als Kooperation mit Christoph Schlingensiefs „Unsterblichkeit kann töten. Sterben lernen! (Herr Andersen stirbt in 60 Minuten)“ angekündigt waren.

Keine Frage, Barbara Frey nutzt die Anfangszeit ihrer Intendanz am Schauspielhaus für Experimente. Fürs Schauspielhaus auch hatte René Pollesch erstmals das Nachspielverbot seiner Dramen aufgehoben. „Calvinismus Klein“ funktioniert frei nach Robert Pfallers These von den Stellvertretern, an die wir unser Genießen, wenn nicht gar das Leben delegieren. Der Rest ist Pollesch-Selbstzitat, bis hin in Janina Audicks Bühnenbild. Projektionsflächen steigen vom Schnürboden auf und ab, in der Mitte steht ein Rondell mit allerlei Raumentwürfen, zudem werden Vorder- und Hinterbühne durch Videoprojektionen durchlässig. Dazu die Las-Vegas-Fantasie einer antiken Säule, ein paar Stufen, die sich als Schubladen erweisen – und auf Befehl fällt auch schon mal ein plüschiges Klappbett herunter.

Martin Wuttke und Carolin Conrad sind hier ein derart osmotisches Paar, dass der Text schon mal vom einen auf den anderen übergehen kann. Schaut sie ihn auf seine Auslassungen über die calvinistische Askese groß an, nölt er zurück: „Versteh doch mal!“ Spricht sie von der Existenz der Körper, für die Aino Laberenz einen Impresarioanzug mit pinkfarbenem Jackett und Filmdiven-Roben entworfen hat, zupft sie unentspannt am Schlitz des figurbetonten Kleides. Und einmal wird auf ihren Aufschrei „Wo ist mein Lippenstift?“ ein mannshohes Exemplar auf die Bühne geschoben.

Doch solche albern-unterhaltsamen Momente sind selten. Wären da nicht die beiden hervorragenden Schauspieler, ihre Diskurse über interpassives und interaktives Theater könnten einem herzlich egal sein. Und den Überbau für „Calvinismus Klein“ – vom Ausweiden des Theaters auf seine Mechanismen übers inhaltsleere Ausspielen des Boulevards bis zu den Kalauern – hat man schon reichlich frischer inszeniert gesehen.

Entsprechend willkommen ist der vorzeitige Einzug der Schlingensief’schen Theatertruppe. Bis dahin kommt es häufig zu Liveschaltungen: Man sieht Herrn Andersen (Jean Chaize) unterm Holzkreuz auf dem Zürcher Altstadtpflaster zusammenbrechen und Christoph Schlingensief auf einer Trage, umringt von einem Chor in roten und schwarzen Messgewändern. Und schon drücken eine blau bemantelte Maria, eine Frau mit altmodischem Kinderwagen und Schlingensief in weißem Gewand als Papst Mabuse auf die Bühne und Conrad und Wuttke glatt an die Wand.

„Um mich geht es nicht, ausnahmsweise nicht“, beteuert Schlingensief – doch im nächsten Moment lümmelt er bereits an der Rampe, gibt kund, er wolle nicht mehr nach Deutschland zurück, zieht eine Zeitung heraus und liest in radebrechendem Schweizerdeutsch Statements von Unterstützern der Anti-Minarett-Initiative vor. Das wäre es also wieder, das Theater als moralische Anstalt.

So trashig sich Schlingensiefs Aktionstheater gibt, so ernst ist es doch um dieses Spiel vom Sterben, das die Gemeinschaft als religiöses Erlebnis zitiert. „Das ist doch yesterday“, heißt es einmal in „Calvinismus Klein“, doch das „Fühlen wollen“ lässt das Publikum sich nicht nehmen. Mag sein, dass hier zwei Menschen einander „verwandt“ sind, wie Schlingensief meint; die Theaterkonzepte der beiden Regisseure sind es nicht.

Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 07.12.2009