»ES IST ZIEMLICH GEIL, HIER ZU SEIN« (BASLER ZEITUNG)

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Der Regisseur Christoph Schlingensief ist ein religiöser Mensch. Und das nicht erst, seit er an Lungenkrebs erkrankt ist. In den Himmel will er aber noch nicht. Nach Afrika schon.

Von Guido Kalberer

Herr Schlingensief, Sie sehen besser aus als vor einigen Monaten.
Die Tabletten, die ich zurzeit einnehme, verhindern die Bildung von Metastasen. Die Krebsableger sind so gut wie weg. Ich weiss aber nie, wie lange es mir gut geht. Der Gesundheitszustand wechselt ständig. Nach wie vor wache ich jeden Morgen mit dem Stopp-Zeichen vor der Fresse auf – und das belastet mich. Es geht nicht um Lappalien, schlecht geschlafen oder keine Brötchen mehr da, sondern es ist immer eine Trauer in mir, eine Art von Melancholie, ja Depression.

Die Unschuld ist passé.
Ja, die ist endgültig weg. Wenn ich etwas plane, spielt stets die Frage mit, ob ich das auch wirklich noch machen kann. Die Ungewissheit und die permanente Möglichkeit, eine schlechte Überraschung zu erleben, das belastet am meisten. Manchmal ist es aber auch eine gute Überraschung.

Kehrt der Alltag zurück?
Allmählich. Ich habe wieder angefangen zu joggen, ganz langsam, super langsam – aber ich versuche es.

Und die Arbeit?
Die funktioniert besser als früher. Meine Arbeiten werden konzentrierter, weil ich mich nicht mehr so verzettle und mich nicht in alles einmische. Ich höre den Schauspielern besser zu – und schaue sie auch besser an. Und überlege mir genauer, was wirklich wichtig ist. Ich habe auch nicht mehr den Drang, gelungene Sachen gleich wieder kaputt zu machen.

Sind Sie raus aus dem hektischen Trubel?
Das klingt vielleicht etwas komisch oder widersprüchlich: Ich bin zu Hause völlig raus aus dem Trubel, ich habe keinen Drang nach Öffentlichkeit mehr und führe die wichtigsten Gespräche lieber im kleinen Kreis unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Gleichzeitig finde ich es skandalös, dass sogenannte Totgeweihte offenbar grundsätzlich alleine mit ihrer Situation fertig werden sollen. «Das Sterben findet einsam statt, wortlos und handlungslos»: Dass ich mich daran nicht halte, wurde mir von katholischer Seite schon vorgeworfen, verbunden mit Drohungen.

Das Sterben ist heute aber kein Tabu mehr in der Öffentlichkeit.
Der Umgang mit Sterbenden ist vielleicht noch ein öffentliches Thema, aber der Umgang mit dem eigenen Sterben, darüber gibt es keine öffentliche Auseinandersetzung – mit diesem Problem, mit dem sich jeder irgendwann auseinandersetzen muss, wird man systematisch allein gelassen. Das ist wie eine Exkommunikation, letzte Ölung … Ich will das ändern, und ich will meine Erfahrungen austauschen. Ich halte mich nicht an das Schweigegebot und kämpfe für mein Projekt, in Afrika ein Festspielhaus zu errichten – nicht zuletzt deshalb, weil dort der Deckel, der uns vom Jenseits trennt, noch nicht so zugeklappt ist.

Wieso eigentlich Afrika?
Seit 1993 war ich öfter auf dem afrikanischen Kontinent in sehr unterschiedlichen Ländern. Dort laufen die Uhren wirklich anders, wenn sie überhaupt laufen. Ich fühle mich an vielen Orten in Afrika wohler als irgendwo sonst. Auf Reisen durch Afrika fühlte ich mich angstfrei. Und geschützt vor dieser ganzen Negativstrahlung, die zum Beispiel in Berlin herrscht. Eine andauernde Unzufriedenheit, zu der man ja auch seinen Teil beiträgt.

Ist Krebs psychosomatisch bedingt?
Ich weiss es nicht, aber ich habe eine Erklärung, die vielleicht naiv, aber mir plausibel ist: Der Mensch hat eine Lebenslinie, und drumherum gibt es so etwas wie ein Polster, eine Art Toleranzgürtel. Wenn man in diesem vorgegebenen Rahmen bleibt, ist es gut; wenn man sich aber dauernd verstellen muss oder etwas tun muss, was man nicht kann oder was zu viel des Guten ist, dann muss man sich nicht wundern, wenn das auf die Dauer nicht gut geht. Krebs ist nur eine mögliche Folge. Ich denke, neben den genetischen Ursachen und den Umweltschädigungen gibt es auch solche, die mit der Struktur unseres Daseins verbunden sind. Wer sich in seiner Haut permanent unwohl fühlt, kriegt früher oder später ein körperliches Problem. Ich habe mich selbst nach gelungenen Theateraufführungen mit Zweifeln über das Gebotene gequält. Das Schöne durfte einfach nicht schön sein – da hatte ich echt eine Macke im Kopf.

Tritt Krebs nicht zufällig auf – mal bei dem, mal bei der?
Nein, so würde ich das nicht sagen. Krebs hat ein Gesicht und sehr oft auch eine Geschichte. Eine äusserst individuelle Angelegenheit. Und viele Krebskranke, die in sich hineinhören, ahnen meist, wo ihre psychischen Schwächen sind. Und die Psyche hat einen starken Einfluss auf das Immunsystem. Das ist jedem bekannt. Warum soll das bei der Entstehung von Krebs keine Rolle spielen? Im Theater hat man alle Freiheiten, das steht im Grundgesetz, «die Kunst ist frei». Aber die Frage ist, was die Freiheit mit einem macht. Ich glaube, die individuelle Überstrapazierung des Freiheitsraums kann genauso gefährlich sein wie totale Unfreiheit. «Man kann auch in die Höhe fallen, so wie in die Tiefe», das sagte schon Friedrich Hölderlin. Regisseure und Schauspieler sind oft so etwas wie Leidensbeauftragte, sie machen auf der Bühne das, was andere nicht machen – dafür müssen sie häufig auch mehr aushalten oder erleiden. Oft geht es wirklich um Leben und Tod, und Theater hat ja auch die Pflicht, Gedanken zu denken und auszusprechen, die in der Gesellschaft sonst nicht laut gedacht werden. Die Bühne soll ja nicht einfach nur das abbilden, was wir alle ohnehin schon sehen. Aber was ist, wenn wir uns dabei vergaloppieren und uns selbst nicht mehr trauen? Wenn die Verstellung zu stark wird und sonst nichts mehr da ist?

Was war Ihre grösste Angst – neben der Todesangst?
Die meisten krebskranken Menschen haben Angst, nicht mehr dazuzugehören und sozusagen schon lebendig für tot erklärt zu werden. Ich selbst hatte Angst, meinem Beruf nicht mehr nachgehen zu können, den Leuten im Theater nichts mehr erzählen zu können. Und dann gab es immer die Angst, ein Projekt anzunehmen – ich wusste ja nie, ob ich am nächsten Tag noch fit bin.

Sie sind ein religiöser Mensch, wie Ihr Buch «So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!» zeigt.
Ich war zwölf Jahre lang Messdiener. Das kriegen Sie nicht mehr aus dem Hemd.

Gab es nie eine atheistische Phase?
Nein. Ich war immer gläubig. Der Gedanke, dass es keinen Gott gibt, ist nicht auszuhalten. Noch ein Universum, noch ein Universum und noch ein Universum – das ist mir einfach zu unheimlich. Das übersteigt meinen Horizont, und ich fühle mich zu klein und ohnmächtig, um nicht sagen zu müssen, dass es irgendetwas Grösseres geben muss. Es kann ja auch eine Kraft sein oder ein Hyper-Gott. Punktum. Solange wir nicht über Leben und Tod selbst bestimmen können, glaube ich an Gott. Nur mit der Karnevalsgesellschaft im Vatikan hab ich nichts am Hut.

Kennen Sie wenigstens Zweifel?
Doch, doch. Ich kenne sehr wohl den Kampf mit dem Glauben und fühle mich auch wie ein permanenter Zweifler. Ich will auch Gott widersprechen dürfen – das ist klar. Einen Himmel ohne Probleme oder einen Himmel, in dem ich nicht auf lauter alte Bekannten treffe, fände ich extrem langweilig. Aber leider läufts ja darauf hinaus: Totsein bedeutet absolute Leidens- und Problemlosigkeit!

Hat die Krankheit Ihren katholischen Glauben verstärkt?
Ich würde mal sagen: stark verändert. Ich war ein Glückskind, sehr behütet und habe alle Aktionen mit grossem Gottvertrauen gemacht nach dem Motto: Wird schon gut gehen. Und jetzt geht gar nichts mehr gut, im eigenen Körper hat es angefangen. Ich habe, wie glaube ich viele Menschen, immer gedacht, was richtig Ernstes kann mir nicht passieren. So gesehen, hat die Krankheit den Mantel des Wohlbehütetseins weggerissen. Aber das hat auch Vorteile. Man weiss plötzlich genau: Es gibt so viel zu tun hier, und es ist ziemlich geil, hier zu sein. Und ich muss die Dinge jetzt machen – und nicht irgendwann später einmal.

Sind Sie etwas esoterisch geworden?
Na ja, esoterisch würde ich nicht sagen, aber ich glaube, unser aufgeklärtes Denken enthält immer noch viele magische Elemente. Das lässt sich gar nicht vermeiden, zumindest, wenn man an die eigene Sterblichkeit und das unbekannte Jenseits denkt. Ich würde es Spiritualität nennen. Ein Künstler ist immer spirituell. Theater hat etwas Spirituelles und Metaphysisches. Das verbindet es mit Afrika, wo es nichts gibt, das nicht spirituell wäre. Das ist der gute Geist, den ich in Afrika spüre und der bei uns höchstens noch maschinell oder chemisch hergestellt wird. Als Surrogat oder als «naturidentischer Aromastoff» oder auch als «bio». Es ist tatsächlich so, dass ich heute einen Baum anders ansehe als früher – ich brauche ihn deswegen ja nicht gleich zu umarmen. Grosse Theatererlebnisse sind immer solche, bei denen der Abend selbst zu atmen beginnt – das ist Spiritualität. Das kann man nicht anordnen oder kaufen, das geschieht mit Hilfe von Antennen, die die Menschen haben. Bei manchen allerdings sind diese verbogen oder ganz abgerissen.

Basler Zeitung, Tages-Anzeiger, 31.10.2009