TAGEBUCH EINER KREBSERKRANKUNG IST EIN LIEBESROMAN (BERLINER ZEITUNG)

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Carl Hegemann über Christoph Schlingensiefs „Tagebuch einer Krebserkrankung“

Von Carl Hegemann

So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“, heißt Christoph Schlingensiefs Tagebuch. Die Gewissheit, dass unsere von Konflikten zerrissene, höchst unvollkommene und vielfach beschädigte irdische Umgebung der schönste Ort ist, an dem sich Menschen überhaupt aufhalten können (vielleicht auch weil er der einzige ist) kommt einem vielleicht erst, wenn man mit einem katholischen Geistlichen über die letzten Dinge und das, was uns im Jenseits erwartet, gesprochen hat. Man kann sich den Himmel noch so schön ausmalen, er ist nicht ohne einen endgültigen und umfassenden Abschied vorstellbar, einen Abschied von allem, was einem vertraut ist, von allem was man liebt. Von den großen und den kleinen Dingen. Das ist schrecklich und eigentlich nicht zu ertragen.

Schlingensief, der seinen Kinderglauben nie vergessen hat und sich in einen Großteil seines Werkes an der Enttäuschung abarbeitet, dass dieser Glaube sich bei näherem Hinsehen als Lüge erweist, kommt durch die unmittelbare Konfrontation mit einer potenziell tödlichen Erkrankung dazu, diese Welt, die ihm seinen Glauben ausgetrieben hat, zum schönsten Ort überhaupt zu erklären, zumindest jedenfalls zu einem schöneren als dem Himmel der vermeintlichen Erlösung. Und er ärgert sich, dass er das nicht schon früher, als er noch gesund war, gemerkt hat, und dass er auch nicht gemerkt hat, dass die ihm vertraute ästhetische Todessehnsucht offenbar nur bei Leuten vorkommt, die sich gesund fühlen.

Sein für den Druck nur leicht überarbeitetes Tonband-Tagebuch, liest sich wie ein Roman und zwar nicht wie der Roman einer Krebserkrankung sondern, ja, wie ein Liebesroman. Ein Liebesroman vor dem Hintergrund einer Krebserkrankung, der dann auch folgerichtig mit der Verlobung der beiden Hauptfiguren Aino (Laberenz, d. Red.) und Christoph endet und mit der beruhigenden Einsicht, das diese Verbindung, wie sie im Laufe der Geschichte zwischen den beiden entstanden ist, unabhängig von ihrer realen Zeitdauer ein komplettes Leben generiert, ein ganzes Leben, dem nichts fehlt. Das Wunderbare an dieser Liebesgeschichte ist auch, dass sie weder larmoyant noch kitschig ist, sondern beinhart und ohne jede Beschönigung das Grauen der Krankheit und die bitteren Konsequenzen zeigt. Das Buch ist keine Neuauflage der „Love Story“, auch wenn es ihr thematisch manchmal nahekommt, sondern ein akribischer Bericht über so ziemlich das Schrecklichste, was Menschen widerfahren kann.

Man fragt sich nur immer beim Lesen: Was macht mich so fröhlich? Das Buch verkündet ja gerade keinen Weg zur Unsterblichkeit und keinen Trost im Jenseits, auch keine physischen oder psychischen Therapieansätze, es erzählt nur ganz einfach, was man erleben kann, wenn man Krebs bekommt und was einem da alles so durch die Birne rauscht. Damit bekämpft es detailliert und konkret die Tabuisierung von Todesangst und Sterbenmüssen. Und das ist etwas, das in unserer ausschließlich am erfolgreich Leben orientierten Gesellschaft offensichtlich sehr ungewöhnlich ist. Wo selbst das Scheitern nur als Chance zu künftigen Erfolgen wahrgenommen werden kann und wo irreversibles Scheitern im Tod kein öffentliches Thema ist, wo schon das Wort Krebs bei Betroffenen und Angehörigen oft mit einem Tabu belegt ist, hat die vollkommene Unbefangenheit von Schlingensiefs Berichterstattung etwas zutiefst Befreiendes.

Die nicht nur bei ihm festzustellende Tendenz zur Enttabuisierung des Privatbereichs Sterben und Tod, die öffentliche Behandlung dieser Themen auch in der Kunst (z. B. bei Gregor Schneider), scheint die unvermeidliche Gegenbewegung zu sein zu den gedankenlos um sich greifenden Versuchen, den Abschied der Menschen von der Welt endgültig aus der öffentlichen Wahrnehmung zu verbannen, etwa durch das seit einiger Zeit zu beobachtende Verschwinden der Leichenwagen, die plötzlich, fast über Nacht unauffällig „neutral“ geworden sind. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“ Und der Schock, der am Ende meines fröhlichen Lebens steht, ist reine Privatsache, von der nur wenige andere Privatpersonen erfahren, die – um das Erfolgsbild nicht zu stören – die schrecklichen Details schön brav für sich behalten. „Sterben sei still, lautlos, wortlos und handlungslos“, ist einer der katholischen Kirchensätze, die Schlingensief am meisten aufregen. Das gilt offenbar für die Sterbenden und ihre Angehörigen. Nicht darüber sprechen! Dann ist alles gut.

Bei Schlingensief wird die Schönheit unserer Welt nicht durch das Verschweigen des Grauens und das Ignorieren des Todes sondern umgekehrt durch deren fortwährende latente Anwesenheit sichtbar. Deshalb ist sein Buch so hoffnungsvoll. Schönheit und Liebe sind möglich, obwohl wir sterben.

Dass wir spielen können im Bewusstsein unserer Vergänglichkeit, dass wir unsere Sterblichkeit nicht verdrängen müssen, um Freude zu haben, sind Resultate von Schlingensiefs Krankheitsverarbeitung. Das ist nicht wenig und hart erkämpft.

Jean Paul Sartre sagte 1979 kurz vor seinem Tod: „Ich habe Dinge in mir, die nicht ausgesprochen werden wollen.“ Auf die Frage des Interviewers, ob er damit das Unbewusste meine, antwortete er: „Nein, ganz und gar nicht, ich meine Dinge, die ich weiß, die ich aber niemals aussprechen würde.“ Und er fügte hinzu: „Es wird eine Zeit kommen, nach meinem Tode und vielleicht auch nach dem Ihren, wo die Menschen anfangen werden, immer mehr von sich zu sprechen und das wird mit einer veritablen Revolution einhergehen.“

Es könnte sein, dass Christoph Schlingensiefs Tagebuch ein Teil dieser Revolution ist. Zwei Sätze, die diametral entgegengesetzt sind, haben die Kryptoauseinandersetzung mit Sterben und Tod seit über 2 000 Jahren geprägt, genauer gesagt seit Homer und seit dem Alten Testament: „Das Allerschlimmste für dich ist es, bald zu sterben, das Zweitschlimmste aber überhaupt zu sterben.“ Und: „Das Allerbeste für dich wäre es, nie geboren zu sein, das Zweitbeste aber bald zu sterben.“ Vielleicht verlieren diese beide gleichermaßen fürchterlichen Sätze einen Teil ihres Schreckens, wenn man sich dieser Revolution anschließt.

Carl Hegemann, Philosoph und Dramaturg, gehört zum Freundeskreis von Christoph Schlingensief und arbeitet seit 1993 mit ihm zusammen. Er lehrt als Professor an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig.

Berliner Zeitung, 23.04.2009