Der Exorzismus als Polonaise: Christoph Schlingensiefs „Menu total“, wieder im Stadtkino Wien.
In den Filmen von Christoph Schlingensief hat Deutschland den Herbst schon hinter sich: Die druckvollen, hysterischen Kinoarbeiten des nunmehr eher als Theatermacher bekannten Oberhauseners stülpen die inneren Befindlichkeiten nach außen. Damit passen sie gut zu einer Gesellschaft, die sich für viel Geld austherapieren lässt, aber trotzdem nichts verarbeitet hat.
Menu Total von 1986, einer der ersten Langfilme von Schlingensief, pfeift, wenig überraschend, auf die Konventionen des Erzählkinos: Die Dramaturgie ist anarchisch statt aristotelisch, das Schauspiel grotesk übersteigert, die Dialoge zusammenhanglos. Es galt damals, sich abzusetzen von den vorigen und vorvorigen Filmemacher-Generationen, von den Diskurswütigen des Neuen Deutschen Films, etwa Volker Schlöndorff oder Alexander Kluge, auch wenn Schlingensief mit Letzterem befreundet war und ist. Es galt – in kindlicher Naivität – mit der physisch erlebbaren Überwältigungsmacht des Kinos bestehende Sensibilitäten zu zerschlagen.
Untote marschieren zu Hitler-Reden
Da marschieren Untote im Nachthemd zum Gebrabbel von Adolf Hitler durch die Wiesenödnis des Ruhrgebiets, da stopft sich einer in Nazi-Uniform das gerade Erbrochene zurück in den Mund – und erbricht es wieder. Ein Kreislauf: zum Kotzen.
Mittendrin in den teilweise grandiosen, teilweise unerträglichen Vignetten stecken Helge Schneider, damals zwar schon erfolgreicher Jazzmusiker, aber noch nicht ausgewiesenes Komödien-genie, und Alfred Edel, eines der wichtigsten Gesichter des Neuen Deutschen Films. Menu Total gefällt sich im Anklecksen von Symbolen, denen des Großbürgertums wie denen des Dritten Reichs, im Kaputthauen von Bedeutungen, letztendlich im Unsinnmachen – die Anarchie des Wohlstandsmenschen.
„Wir kennen keinen Ekel!“ brüllen die Figuren und tanzen eine Polonaise. Schlingensiefs Gesellschaftsgroteske wirkt heute, zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung, mindestens ebenso frisch, frei und fröhlich wie damals. Und gerade im Angesicht von Bernd Eichingers haltungsfreien Geschichtserziehungsfilmen wie Der Untergang und Der Baader Meinhof Komplex löst er sein hysterisches Potenzial noch immer voll ein: kein Prestigefilm, sondern ein Triebfilm.
Hinter all dem bübisch-frechem Schabernack steht schließlich ein Träumer, und sein Film ist wie ein Exorzismus: Hinfort mit den falschen, den vorgefertigten Schuldgefühlen, her mit der neuen Schuld! Und die ist garantiert untherapierbar.
VON MARKUS KEUSCHNIGG
„Die Presse“, Print-Ausgabe, 08.10.2008