„ICH HABE DEM KREBS EINE TÜR GEÖFFNET“ (FRANKFURTER RUNDSCHAU)

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Christoph Schlingensief, 47, ist glücklich, dass er wieder arbeiten kann. Zu Beginn dieses Jahres musste der Aktionskünstler, Film- und Theaterregisseur der Tatsache ins Auge sehen, dass er Lungenkrebs hat. Chemo- und Strahlentherapie sind überstanden. Was sofort auffällt: Er hat seine berühmten wuscheligen Haare behalten. Seit drei Wochen arbeitet Schlingensief in Duisburg für die Ruhrtriennale an „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“, Premiere ist am 21. September. Für die Aufführung hat er in der Gebläsehalle in Duisburg die Kirche, in der er als Junge Messdiener war, nachbauen lassen.

2002 haben Sie schon einmal eine „Kirche der Angst“ ins Leben gerufen. Damals gab es Pfahlsitzer und die Auseinandersetzung mit dem 11. September. Was ist die Kirche der Angst heute?

Das Thema der Terroranschläge hatte damals noch etwas Karikaturhaftes zwischen den Pfahlsitzern und der gebauten Kirche. Jetzt ist diese Kirche der Angst für mich eher etwas Privates geworden, dadurch dass der Terrorist jetzt in mir war, der Krebs in mir ist ein Terrorist gewesen, er ist Anfang dieses Jahres ausgebrochen, hat eine Explosion in mir gestartet, Organe angegriffen. Jetzt ist er noch mal „neoadjuvant“ versorgt, wie die Medizin sagt, er soll also nicht wiederkommen, dieser Terrorist. Die Frage ist, ob das stimmt. Wenn ich diesmal die Angst vor mir selbst thematisiere, dann ist das auch die Frage: Wer bin ich gewesen? Was habe ich mit dem Terroristen eigentlich am Hut gehabt, als er aufgetaucht ist? Was ist das Geheimnis, das hinter diesem Krebs steckt, den ja auch viele Mediziner nicht deuten können?

Sie sprechen über den Krebs wie über ein Alter Ego?

Ich war von Beginn der Krankheit an auf der Suche, wo der Krebs herkommt. Für mich ist das eine Lebenslinie, auf der ich mich bewege, die ist vorgesehen oder nicht, genetisch angelegt oder nicht, was weiß ich. Diese Lebenslinie umgibt ein Toleranzbereich, in dem ich alles veranstalten kann, was ich will. Wenn ich dann aber anfange, Dinge zu tun, die aus diesem Bereich herausfallen, unter denen ich leide, dann hat das Folgen.

Was haben Sie sich angetan?

Ich glaube, dass ich mir in der Zeit von Bayreuth das Weltabschiedswerk von Herrn Richard Wagner, zusammen mit der Kritik von Nietzsche, so zu Herzen genommen habe, dass es zu viel wurde. Ich habe den Tod, das Abschiedswerk, das „zum letzten Mal“, „zum Raum wird hier die Zeit“, vielleicht zu ernst genommen.

Inwiefern?

Ich habe dieses Weltabschiedswerk in Bayreuth näher an mich herangelassen, als es mir zuträglich war. Man braucht dafür, wie man oft hören kann, eine gewisse Reife. Die hatte ich nicht. Ich hatte auch keinen Schutzpanzer, keine eingeübte Professionalität, im Umgang mit der Oper, ich hatte sozusagen ungeschützten Verkehr mit diesem Werk.

Sie meinen tatsächlich, dass Sie sich Richard Wagners Abschiedswerk „Parsifal“ so zu Herzen genommen haben, dass daraus ein todbringender Teil Ihres Körpers wurde?

Ich glaube, dass das zu einer Form von Entartung geführt hat, so heißt das ja auch bei diesen Zellen. Es geht mir dabei aber nicht um etwas Esoterisches. Ich wurde und werde von Schulmedizinern behandelt. Ich bin mir dabei sehr sicher, wie viele Schulmediziner auch, dass es in 20, vielleicht 30 Jahren großes Gelächter geben wird, wenn man sich daran erinnert, dass man früher Krebs mit Chemotherapie behandelt hat. Ich glaube, dass dieser Weg inkonsequent ist. Das Immunsystem, das beim Krebs nicht mehr funktioniert, ist ein wesentlicher Bestandteil meines Ich, es hat etwas mit Autonomie, mit meiner Stärke zu tun. Dass der Mensch sein Immunsystem entscheidend schwächt, wenn er gegen sein Naturell handelt, wird aber von der Medizin nicht in die Behandlung einbezogen. Irgendwann in der Zukunft wird sie einsehen, dass sie das individuelle Immungesicht jedes einzelnen Menschen bei der Therapie von Krebs nicht berücksichtigt hat. Ich merke ganz deutlich, dass ich Klarheit darüber brauche, was ich getan habe, das meinem Naturell widersprochen hat, um weiter bestehen zu können. Da habe ich mich in ein Fahrwasser begeben, das mir nicht entsprach, und dem Krebs eine Tür geöffnet. Und das muss die Medizin mitbedenken. Warum bekomme ich, der ich nicht geraucht habe, Lungenkrebs, einen Nichtraucherlungenkrebs, der langsam wächst? Der Krebs hat ein Gesicht, dieses Gesicht hat mit mir zu tun, und ich muss mir selber in die Fresse schauen, um zu wissen, wann ich mir etwas leisten darf und wann nicht. Aber dass wir uns richtig verstehen, es war nicht der „Parsifal“, der den Krebs erzeugt hat, sondern aus Angst habe ich damals Dinge getan, die ich mir bis heute vorwerfe. Ich habe teilweise auf Kosten anderer Menschen gelebt und ich habe mich, einfach gesagt, damals nicht lieb genug gehabt. Das hat mich in einen Zustand permanenter Angst versetzt.

Mir fällt kein Künstler ein, der so offensiv sein kann wie Sie. Jetzt schildern Sie sich als ängstlichen Menschen. Wie passt das zusammen?

Das ist doch klar, weil ich etwas darstellen und dabei Pufferzonen schaffen wollte, die mir dann wieder Ruhe gaben. Die Arbeiten, die ich mit den Behinderten, der Partei oder den Neonazis gemacht habe, das habe ich total ernst genommen. Ich kann mich extrem in ein Thema hineinbegeben. In Bayreuth hat mich das gefährdet.

Sie scheinen nun auf der Suche nach einfachen und klaren Wahrheiten.

Ja, ich schätze das Normale jetzt viel mehr, auch wenn ich dabei oft scheitere und an meine Grenzen stoße.

Welches Normale?

Zum Beispiel wenn ich mit meiner Freundin Aino Laberenz Hand in Hand spazieren gehe. Oder wenn ich im Schlaf dirigiere und ich sehe, wie sie sich neben mir kaputtlacht, wenn ich dann aufwache. Oder: mit dem Auto durch das Ruhrgebiet fahren. Farben springen mich an, trivialste Dinge. Es geht nicht mehr um das Außerordentliche, ich kann auch nicht mehr auf jeder Hochzeit tanzen. Ich muss mich jetzt klarer fragen: Wo geht das hin? Ich habe übrigens gerade herausgefunden, welche Glücksgefühle es erzeugt, nach einer solchen Krankheit eine Aktion zu machen und zu filmen. Das muss nicht mehr gleich auf einer Bühne sein, wo man sich ausverkauft, sondern ich konserviere jetzt die Bilder anders, für mich selbst. Auch Bilder von vor der Krankheit werden jetzt ganz anders aufgetankt, ich schaue mir Bilder aus Nepal an und sehe in ihnen das, was dann später passiert ist. Dort habe ich z. B. in das Gästebuch eines Kinderkrankenhauses den Satz geschrieben: „Auf dass die kreisenden Gedanken einen Grund finden.“

Und was ist der Grund?

Drei Tage später habe ich das Bild von meiner Lunge mit dem Karzinom in die Hand bekommen. Nun kann der Krebs ja nicht der Grund sein. Aber der Zweifel an der Kunst, der Zweifel an meiner Kunst, kam immer wieder. Dass da etwas fehlt. Dass alles Simulation ist. Aber dieses Röntgenbild war mehr als ein Bild. Die Diskrepanz zwischen dem, was jemand vorgibt, und dem, was dahinter steckt, ist auch in der Kunst oft ziemlich groß. Und das betrifft auch mich.

Wenn Sie jetzt näher an dem sind, worum es Ihnen geht, was ist das dann?

Ich habe lernen müssen, auf dem Sofa zu liegen und nicht mehr zu tun, als Gedanken zu denken. Die Zeit hat sich gedehnt. Das sehe ich auch bei anderen: Der Kranke und damit Langsame hat in einer schnellen Welt keinen Wert, das kranke Kind kommt als Kraft nicht vor, es gibt keine Währung dafür. Aber es hat eine Kraft. Zumindest ist es unser Betrachter, dem gegenüber unsere Hektik und Regelungswut relativiert wird. Es ist aber auch eine Aufgabe, den Patienten möglichst schnell aus den Fängen der Medizin zu befreien, so dass der Kranke sich auch als Kranker noch als Teil dieser Gesellschaft fühlen kann. Es ist schlimm, wenn man das Gefühl hat, dass alles vorbei ist. Der Kontakt zwischen Gesunden und Kranken ist enorm wichtig. Ich glaube, auch für die Gesunden, das heißt für die zukünftig Kranken.

Wenn man sich damit beschäftigen muss, merkt man, dass es sehr viele Menschen gibt, die Krebs haben. Trotzdem ist es immer noch eine fremde Krankheit.

Krebs war das Todesurteil, und man hat nicht darüber gesprochen, so wie Susan Sontag das ja auch durchdacht hat. Jetzt fängt man langsam an, darüber auch öffentlich zu sprechen. Die Minimalforderung dabei ist: Holt den Krebspatienten aus seiner Isolation heraus. Es geht um eine Krankheit, die, wie Parkinson oder Multiple Sklerose, nicht bekannt gibt, wann sie aufhört. Die im Hintergrund droht mit weiteren Schlägen. Das ist im Leben zwar immer so, man kann jeden Tag auch vor ein Auto laufen. Das ist übrigens genau der Satz, womit man im Krankenhaus immer getröstet wird. Aber es ist doch etwas anderes, wenn es einen wirklich erwischt hat, man hat dann auf einmal richtig eiskalte Füße bekommen: Wenn es dunkel wurde im Krankenhaus, kamen die Geister. Bis Patti Smith mich besuchte. Die gab mir den Rat: „Du holst jetzt alle Geister an den Tisch und fragst sie, warum bist du hier und willst mir Angst machen?“ Vielleicht ist es das, was den Krebs so unheimlich macht, diese Angst.

Kann man was dagegen machen?

Obwohl es da Scharlatane ohne Ende gibt: Alle Methoden, von denen der Krebspatient glaubt, dass sie ihm Kraft geben, sind zulässig. Wenn man das nicht als die Superpille hinstellt, sondern sagt, unter anderem mache ich auch noch Quigong oder sowas, dann ist das legitim und muss akzeptiert werden. Was einen aber fertig macht, sind die endlosen Gerüchte, die ganzen Ratschläge, die von überallher auf einen einhämmern. Permanent bekommt man irgendwelche Behauptungen um die Ohren gehauen, mit denen man sich auseinandersetzen soll. Man ist zurückgeworfen auf sich und muss mit Zahlen, Röntgenbildern, neusten Untersuchungs- und Behandlungsmethoden klar kommen. Man soll positiv denken und nicht verdrängen und Vertrauen haben oder nur sich selbst trauen. Und in der Apothekenrundschau steht auch noch etwas.

Warum arbeiten Sie so schnell wieder?

Es kommt mir nicht so vor. Texte, die ich jeden Abend in das Diktiergerät gesprochen habe, die ich abgeladen habe, bevor ich einschlief, zeige ich jetzt. Sie sind Vexierbilder, je mehr Unklarheit darin ist, desto besser. Obwohl klar ist, dass es um mich geht. Für mich sind das kleine Mutproben. Man ist schüchtern, wenn man Krebs hat, dann freut man sich, wenn man draußen sein kann.

So wie das hier in der Gebläsehalle aussieht, wird die Aufführung ein Gottesdienst.

Es wird, im zweiten Teil, ein Begräbnisgottesdienst, eine Totenmesse, so wie ich sie mir vorstelle, die Defizite der anonymen kirchlichen Rituale, die mich schon als Kind gestört haben, sollen angegangen werden. Der Versuch, eine Kirche zu bauen, die zu mir passt und mir wirklich hilft und die dann vielleicht auch anderen hilft. Vielleicht wird ein Kind beerdigt. Ich habe einige meiner kindlichen Seiten verloren. Dabei möchte ich keinem Achtjährigen das Leben vergraulen, indem ich ihm erzähle, was ihm mit Sicherheit alles noch blüht. Aber ich glaube, ich habe da noch ein paar kleine Kämpfchen zu kämpfen, weil ich mir vom Glauben und von einer Glaubensgemeinschaft mehr erwarte, als die Kirche leistet.

Was erwarten Sie in Ihrer Kirche?

Es ist eine große Befriedigung und ein großes Privileg, dass jetzt in meiner Kirche aus Oberhausen Texte gesprochen werden, die ich in einem Zustand totaler Angst und Ungewissheit produziert habe. So wie ich bei meinem ersten Auftritt in dieser Kirche Höllenangst hatte, weil ich als Messdiener alles falsch gemacht habe. Dass diese Kirche jetzt als Bühne dasteht, auf der andere Fürbitten gesprochen werden als die üblichen Routinesentenzen – die wollte ich schon immer austauschen, weil den Leuten da ein solcher Nonsens vorgegeben wird. Oder dass es jetzt nicht mehr heißt „Durch meine Schuld“, sondern „Durch meinen Irrtum“. Vielleicht kann man den ganzen Kultus dadurch noch mal anders betrachten. Wirksamer und mit weniger Angst.

Es geht Ihnen darum, im Ritus durch Veränderung eine neue Kraft zu finden?

Ja, auf jeden Fall. Ich habe nicht vor, die Kirche einzustampfen. Und Protestantismus ist mir zu hölzern, es gibt schöne, dunkle, geruchsintensive Ecken im Katholizismus, die ich nicht missen will. Ich möchte aber weg von dieser festgefahrenen Routine und dem blöden Anspruch, dass es eine Institution geben soll, die weiß, wie’s mit Gott läuft. Dafür liegen mir zu wenig Karten auf dem Tisch und ich habe zu wenig Möglichkeiten, mich persönlich einzubringen. Es ist alles zu schematisch und übergestülpt. Wenn ich Gott als Teil von mir betrachten könnte, wäre das ein Riesenschritt nach vorne. Das kann ich aber nur, wenn ich zu mir stehe. Da ist wieder die Frage der Autonomie. Wenn ich plötzlich sage, dass ich zu mir stehe, egal ob ich Krebs habe oder nicht, ob ich geschafft habe, was ich schaffen wollte, dann bin ich auch bereit zu sterben. Das wäre mal ein Ansatz. Kein Mann mit Bart, sondern ein System, dessen Teil ich bin. Das habe ich als Selbsterkenntnis jetzt auf dem Brot liegen, und das muss ich essen und weiter lernen. Das schmeckt mir. Ich nutze die Zeit jetzt anders als früher.

Das hört sich sehr entschieden an. Früher waren bei Ihnen immer Zweideutigkeiten eingebaut.

Früher sagte ich auf die Frage meiner Mutter, ob es geschmeckt hat: „Kann sein, kann aber auch nicht sein.“ Das ist es, was mich inzwischen in der Kunst oft stört. Die Beliebigkeit und die Gleichgültigkeit. Soll ich das wirklich in der Zeit, die mir noch verbleibt, alles anschauen und wichtig finden, was da so auf dem Markt ist? Damit will ich niemandem einen Vorwurf machen, aber was mich angeht, versuche ich jetzt eher mal zu sagen, was ich glaube, was mich ausmacht. Auch wenn das vielleicht viel weniger ist, als ich gedacht habe.

13. September 2008