„DAS LEBEN IST EINE PROVOKATION“ (TAGESANZEIGER)

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Christoph Schlingensief im Interview aus Anlaß seiner Installation „Querverstümmelung“ in Zürich

Von Sarah Stähli

TA: Beim Durchgang durch die Ausstellung haben Sie gesagt: «Erinnern heisst Vergessen». Ist Erinnerung und Vergänglichkeit ein Thema der Ausstellung?

CS: Das Erinnern spielt momentan eine grosse Rolle für mich, weil dieses Jahr mein Vater gestorben ist. Ich fange jetzt an, Geschichten über ihn zu erzählen. Objekte, Gegenstände, Fotos kommen zum Vorschein. Diese Erinnerungen sind wie belichtete Kabinen, dunkle Gruften.
Der Film am Anfang der Ausstellung ist eine Doppelbelichtung. Mein Vater hat den Film mit einer alten Doppel-8-Kamera gedreht und aus Versehen zweimal belichtet. Als ich diesen Film mit sieben Jahren gesehen habe, war das sensationell. Ich habe dann selber angefangen zu filmen und meine Filme auf alles Mögliche projiziert. Einmal habe ich meine Mutter beim Kochen mit einer Projektion „bestrahlt“. Sie musste dann im Dunkeln weiter kochen, bis der Film zu Ende war. Dieses Übereinanderlegen von Realem und Konserviertem interessiert mich. Dasselbe habe ich auch auf der Tonebene gemacht. Ich habe die Filme jeweils auf einen Fernseher projiziert, das Bild ausgeschaltet und nur den Ton beibehalten. Die Klänge einer Vorabendserie überlagerten sich dann mit meinen Aufnahmen.

Ist es für Sie selbstverständlich, persönliche Themen in Ihrer Arbeit aufzugreifen?

Ich verstehe nicht, dass viele Leute so tun, als hätten sie nie eine Familie gehabt. Oder sich nie einer Gruppe zugehörig gefühlt. Viele Politiker haben ja angeblich gar keine Vergangenheit.
„Persönlich“ heisst aber bei mir nicht, dass ich meine Fussnägel filme und dann von grosser Kunst spreche. Ich rede auch nicht über eine Privatmythologie. Den Begriff Familie fasse ich viel weiter. Es gibt in meinem Leben Ersatzväter, Ersatzmütter. Meine behinderten Schauspieler sind auch eine Familie für mich, ohne deren Kraft könnte ich viele Filme gar nicht machen.

Mit den behinderten Schauspielern haben Sie unter anderem die Musicstar-Parodie «Freakstars 3000» gedreht. Wie schaffen Sie es, diese Menschen nicht bloss zu stellen?

Den Begriff „behindert“ sollte man ignorieren. Es gibt mehr „Normale“ unter den angeblich Behinderten als unter uns. Ich mag keine Dressur von Menschen, die „behindert“ sind. Ich sage ihnen nicht: Zeig mal vor, was du gelernt hast. Sie zeigen mir etwas und kommen nicht auf die Idee, dass sie mir gefallen müssen. Wir brüllen uns auch an, ich behandle sie genauso wie meine anderen Schauspielern.
Vor etwa sechs Jahren hatte ich einen grossen Tiefpunkt. Da ist Horst Gelonneck, einer der „behinderten“ Schauspieler, aufgetaucht. Ich stand auf der Bühne und in dem Moment, als ich loslegte, machte Horst, ohne mich zu imitieren, etwas ganz Wahnsinniges aus meiner Performance. Das war unglaublich, er hat eine Türe aufgestossen. Es war, als würde er sagen: Merkst du eigentlich nicht, dass du da oben nur noch Mätzchen machst?

Ist die Ausstellung auch eine Rückkehr zum Film?

Meine Arbeit hat mit Film begonnen. Dass die meisten Filme noch erhalten sind, ist ein Glücksfall, denn ich sehe darin viele Parallelen zu späteren Arbeiten.
Ich will aber nicht nur Filme machen. Das Theater reizt mich zurzeit nicht mehr so, die Oper hingegen sehr. Theater bildet sich politisch zuviel ein. Theater müsste mehr sein als ein lauer Cocktail, der allen gefällt. Bei der Hamlet-Inszenierung in Zürich zum Beispiel habe ich das Theater als Forschungsanlage benutzt. Ich habe Experimente durchgeführt, die sich plötzlich aus der Türe bewegen konnten, auf die Strasse rannten und dann wieder zurückkamen. Leider haben damals viele nur „den Schlingensief“ gesehen.

Ist es schwierig, sich von dieser Rolle als Provokateur zu distanzieren?

In Zürich grüssen mich die Leute auf der Strasse. Da ist etwas hängen geblieben und es ist nicht nur der Schlingensief, bei dem man gleich die Polizei rufen muss, es war auch viel Sympathie da. Die Medien haben mich als Provokateur einbauen müssen, weil sie Schlagzeilen brauchen und ihre angeblich dummen Leser nur dann etwas verstehen, wenn Namen genannt werden.
Es gibt immer Momente, in denen man sich selber nicht so mag. Nur musste ich früher das immer gleich kundtun und den wilden Mann markieren.
Die Museumsarbeit ist ein wichtiger Schritt. Ich nehme das Museum als Schutzraum komplett für mich in Anspruch. Zum Denken, zum Experimentieren ist dieser Raum grossartig. Wenn die Leute enttäuscht sind, dass ich nicht mehr provoziere, dann ist das nicht mein Problem. Sollen sie sich doch eine andere Tablette einwerfen.
Ich bin der Meinung, wer das Leben nicht als Provokation empfindet, ist schon tot. Ich komme auf die Welt: das ist doch eine Riesenprovokation!

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich werde in Brasilien drei Wochen an einer «Opern-Geisterbahn» arbeiten. Eine Installation, durch die man mit dem Auto fährt oder läuft. Dort wird es zum Beispiel ein ständiges Finale mit Schlussapplaus, das alle drei Minuten wiederholt wird, zu sehen geben und eine ewige Premierenfeier, an der alternde Opernsänger besoffen rumstehen und erzählen, wie toll sie einmal waren.
In Brasilien werde ich unter anderem mit Trommlern und Favela-Kindern zusammenarbeiten, Menschen, die ich noch nie gesehen habe. Aber ich will das Risiko eingehen. Die Überforderung interessiert mich. Der «Ausländer Raus»-Container in Wien hat mich nur in dem Moment fasziniert, in dem ich ihn nicht mehr kontrollieren konnte. Ich mag es, wenn sich meine Arbeit verselbstständigt, die Bilder autonom werden.

Zürcher Tagesanzeiger, 5.11.07

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