NACH DER SCHEIDUNG (FAZ)

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Moritz Eggerts Oper „Freax“ und Schlingensiefs Freakstars…

VON WOLFGANG FUHRMANN

Es muss als ein glänzender Höhepunkt in Christoph Schlingensiefs künstlerischem Wirken angesehen werden, dass er Moritz Eggerts Oper „Freax“ nicht inszeniert hat. Keine zwei Wochen vor der Uraufführung in der Bonner Kunsthalle hatte das Beethoven-Fest bekanntgegeben, dass „Musik und Inszenierung getrennt“ dargeboten würden. Schlingensiefs Beitrag, eine Performance mit Filmprojektion, wurde in der Pause gezeigt, die Oper konzertant uraufgeführt. Zu Beginn des Abends hatte Eggert dem Auditorium pathetisch verkündet: „Ich lege meine Musik in Ihre Hände. Sie, das Publikum, sind jetzt die besten Regisseure dieses Stücks.“ Hinterher freilich hätte man den Regieauftrag gerne wieder zurückgegeben.

Warum gingen Regie und Musik getrennte Wege? Auf seiner Website hat sich Schlingensief dezidiert dazu geäußert. Die Oper „Freax“ lehnt sich an Tod Brownings Film „Freaks“ von 1932 an, der lange in einigen US-Bundesstaaten verboten war, weil er Behinderte als Hauptdarsteller und Sympathieträger einsetzte (während die normal Gewachsenen die eigentlich Bösen sind, an denen die Freaks zuletzt archaische Rache nehmen). Dieser Film gab Schlingensief wesentliche Impulse für die eigene Arbeit mit seiner Behinderten-Truppe, den „Freakstars“, und dass diese nun „ausgerechnet bei dem Thema, das ihr Thema ist, nur als ,Generalpausenfüller‘ und Referenzmaterial vorkommen“ sollten, sei der Anlass gewesen, die Sphären von Musik und Regie zu trennen.

Im fertigen Bühnenbild und vollen Kostüm saßen die Sänger nun mit den Noten in der Hand – was allerliebst wirkte, wenn etwa Johannes Flögl als Romeo in einem schlaff vom Körper hängenden Schneeleopardenkostüm beim Hinsetzen immer seinen Plüsch-Schwanz artig zur Seite legte. Text und Szenenanweisungen waren von der Übertitelungsanlage zu lesen, und das Beethoven-Orchester Bonn leistete unter Wolfgang Lischke Hervorragendes. So bot sich jede Gelegenheit, unabgelenkt von szenischen Umtrieben über das „Was“ des Werkes nachzudenken, wie es Eggert im Programmheft emphatisch gefordert hat.

Es gehe ihm, so hatte er vorab erklärt, eigentlich gar nicht um Behinderte, sondern um Schönheitsideale: Die seien einerseits immer subjektiv, andererseits sehe man ja an den dürren Models, wohin das führe. Das geistige Niveau, auf dem sich die Oper nach einem Libretto von Hannah Dübgen bewegt, ist damit schon markiert. Angesichts einer schlagworthaft prätendierten Medien- und Gesellschaftskritik kann sich der Zuseher beruhigt zurücklehnen – wie so oft, wenn diese Stichworte fallen. Auf sie gab Schlingensief die richtige Antwort, als er die Beteiligung der Behinderten forderte – und er wäre nicht Schlingensief, hätte er diese richtige Antwort nicht sogleich ins Konsequent-Abseitige weitergeführt: Die Behinderten hätten, als Zentralthema, auch selbst zu singen. So absurd dies auch wirken mag, wäre damit doch etwas gewagt worden, so wie in Schlingensiefs Theater mit Behinderten etwas gewagt wird, und sei es, sich den Vorwurf der Ausbeutung zuzuziehen.

Für Eggert hingegen ist das Behindertsein nur ein flüchtiger Charakterstrich in einer Dramaturgie, die Personen nach dem Muster von Seifenopern skizziert. Die Frage, was etwa das Dasein eines siamesischen Zwillings von dem eines Hermaphroditen unterscheide, erscheint den Autoren nur insofern interessant, als das Zwillingsschwesternpaar ein Duett singen kann, während der Hermaphrodit seine gespaltene Identität allein, nur im Dialog zwischen Brust- und Falsettstimme, verhandeln muss.

Daraus entstehen dann schöne Nummern; die Darsteller Hege Gustava Tjönn/Barbara Schmidt-Gaden (Anne-Marie/Marie-Claire) sowie vor allem der Countertenor Otto Katzameier (Dominique) entpuppten sich denn auch als die Publikumslieblinge des Abends. Das Nummern-Singen ist die Form, in der Textautorin und Komponist am ehesten zusammenfinden – alles andere beschränkt sich auf die sattsam bekannte Deklamation unmusikalisch konzipierter Stadttheaterdialoge. Bezeichnenderweise macht es musikalisch dabei keinerlei Unterschied, ob das Zwitterwesen Dominique sich im ersten Akt in einer Travestienummer zur Schau stellt oder ob es im zweiten Akt seine unerwiderten Gefühle für Isabella bekennt: Registerwechsel und Stil sind dieselben, die Schlussphrase wird mehrfach verklingend wiederholt, wie in einer großen Nummer im Friedrichstadtpalast.

Tatsächlich scheint sich diese Oper in ihren prägnanteren Momenten weniger auf die eigene Gattungsgeschichte zu beziehen, als in Szenenwechsel, Dramaturgie und musikalischer Gefälligkeit der Popkultur nahezukommen, ohne freilich wiederum eine entsprechend leichte Konsumierbarkeit zu erzielen. Die anspielende, zitierende (unter anderem „Rheingold“ und Beethovens Neunte) und verfremdende musikalische Sprachlosigkeit dieser großorchestrierten Partitur wirkt am freiesten und unverkrampftesten in den Barszenen, wenn Eggert für Es-Klarinette, Trompete, Akkordeon, Violine, Bass und Schlagzeugset ganz unverfälscht jazzige Hintergrundmusik komponieren kann. „Freax“ ist ein andersbegabtes Musical.

Von Christoph Schlingensief mag man nun halten, was man will, auf die Rolle des geläufigen Kunstgewerbetreibenden versteht er sich nicht; wie Eggert mal ein Fußballoratorium für die Ruhrtriennale, mal ein Behindertenstück fürs Beethovenfest zu komponieren, wäre ihm fremd. In Schlingensiefs Installation und Film „Fremdverstümmelung, 2007“ gaben sich seine Freakstars bei bester Laune einem Festmahl hin, im Arrangement an Leonardos „Das letzte Abendmahl“ erinnernd. Darüber wurde ein Schwarzweißfilm projiziert, der auch die Kreuzigung eines Freaks zeigte; neben Zitaten von Theodor W. Adorno und Erving Goffman las man unkommentierte Aussagen von Menschen, die nach einem Unfall als Behinderte wieder zu sich kamen. „Soll ich jetzt etwa mein ganzes Leben unter Blinden verbringen?“, fragte da einer. Und ein anderer mochte einfach nicht glauben, dass die Maske im Spiegel nun sein Gesicht sein sollte. Diese paar Minuten überbelichtetes Pausenfilm lösten in den Betrachtern mehr Fragen aus als der ganze, quälend aufgeplusterte Opernapparat vor- und hinterher.

FAZ, 4.9.07