LAUNIGE TROPEN – SCHLINGENSIEF IN MANAUS (FAZ)

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Auf seiner rastlosen Suche nach Orten, die ihn „noch überfordern können“, ist Christoph Schlingensief wieder einmal fündig geworden. Zwei Monate hielt er sich in der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus auf. Da war er in einer Weltecke angelangt, in der alles zu einem Kraftakt wird. Schlingensief hat am Amazonas seinen derzeit wichtigsten Kompagnon wiedergetroffen: Richard Wagner, der allerdings schon länger als er heimisch in Manaus ist. Denn dort wurde vor zwei Jahren der komplette „Ring des Nibelungen“ aufgeführt. Das Terrain war also bereitet, doch mit Schlingensief kam nun ein neuer Erlöser für das „Amazonas-Opernfestival“ in seinem elften Jahr.

Von Josef Oehrlein, Manaus

Der „Ring“ war noch der Versuch, zu beweisen, dass man Wagner im ungewöhnlichsten Opernhaus der Welt, dem Teatro Amazonas in Manaus, überhaupt und vielleicht sogar mustergültig aufführen kann. Schlingensief lässt ganz einfach die Tropen, ihre Mythen und Menschen, ihre Bilder und Zerrbilder auf Wagner los, vermengt alles ordentlich mit seinen eigenen Obsessionen und schaut, was dabei herauskommt. In diese „Zwischenwelt“, in der alles unfertig, provisorisch, vorläufig und vergänglich wirkt, jagt er den „Fliegenden Holländer“ und lässt ihn als Nosferatu-Verwandten die scheinbare Ordnung einer spirituellen Gemeinschaft reichlich durcheinanderbringen. Der Hohepriester der Gemeinde heißt Daland. Er macht gleich zu Beginn eine wundersame Wandlung vom katholischen Bischof zum radikalen und recht geschäftstüchtigen Sektenführer durch, dessen wichtigste Ritualhandlung darin besteht, junge Mädchen zu köpfen.

Kautschuk und Samba

Schlingensief hat die Eindrücke seiner Brasilien-Aufenthalte sorgsam in seine Inszenierung hineingepackt: schwarze Rituale, die Favelas, den Regenwald, den Amazonas, sogar die Kautschukballen, die im einstigen Reich der Kautschukbarone von Marys Mädchen anstelle des Spinnrads gedreht werden. Vor allem aber den Samba. Am Ende des zweiten Aktes, wenn endgültig klar wird, dass Senta dem Holländer verfallen ist, bricht eine Sambatruppe in das Theater ein und begleitet die Szene mit ohrenbetäubendem Trommeln.

Das Bühnenbild, ein Labyrinth aus Innen- und Außenräumen mit Wachtürmen, Kanzeln und einem Stacheldrahtzaun, erinnerte überdeutlich an Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“-Inszenierung. Auch diesmal flutet er die Bühne regelrecht mit visuellen Eindrücken. Zu dem Gewusel der Figuren kommen wieder unzählige Filmeinspielungen hinzu. Die meisten Sequenzen hat er mit seiner Bolex-Handkurbelkamera in der Umgebung von Manaus gedreht, vor allem in einem verfallenen Kloster, das auch einmal Krankenhaus und Gefängnis war. Dorthin hatte er sogar das Orchester schaffen und in weißen Gewändern die „Holländer“-Ouvertüre spielen lassen. Aber er zitiert ebenso Pasolinis Film „120 Tage von Sodom“ und konterkariert seine Aufnahmen von vegetativer Materie, von schlüpfenden Larven und toten Fischen mit der strengen Geometrie einer Arbeit des frühen deutschen Experimentalfilmers Oskar Fischinger.

Schlingensief im ungewöhnlichsten Opernhaus der Welt

Die Hauptfiguren des Stücks werden von einem Heer schlingensiefscher Phantasiefiguren begleitet, es wimmelt nur so von Ministranten, buckligen Missgestalten, Sambatänzerinnen, Nonnen, Jungfrauen. Wie eine ewige Braut, die von Daland als Ritualfigur verwendet wird, geistert die zwergwüchsige deutsche Darstellerin Karin Witt durch die Aufführung. Eifrig spielen die Bewohner einer Favela von Manaus sich selbst. Trotz der Flut an Visionen und Assoziationen bleibt die Geschichte erkennbar. Die Affäre zwischen dem Holländer und Senta endet vergleichsweise plausibel: Sektenvater Daland ersticht seine Tochter Senta. Der Holländer steigt in einen Kokon und entschwebt in den Himmel, ebenso wie das schneeweiße Larvengewand, in das Senta wie eine Raupe zuletzt gekleidet war.

Vieles wirkte noch am Premierenabend halb roh und improvisiert. Aber so sollte es sein. Alles ist Veränderung. Besonders in den Tropen. Die Bilderflut ließ bisweilen vergessen, dass es auch noch Musik gab. Der Wagner-erfahrene brasilianische Dirigent Luiz Fernando Malheiro, der vor zwei Jahren den „Ring“ über weite Strecken mit großer Einfühlung souverän durchstand, wirkte diesmal etwas weniger inspiriert und kam mit seiner „Amazonas Filarmônica“ über eine solide Leistung nicht hinaus.

Das Sängerensemble wirkte recht uneinheitlich. Dem sonoren, stimmgewaltigen Daland des in Brasilien lebenden Amerikaners Stephen Bronk, einer altbewährten Stütze des Festivals, stand Gary Simpson als ein etwas farbloser Holländer gegenüber. Er war allerdings erst spät während der Proben anstelle eines anderen Sängers engagiert worden. Die brasilianisch-japanische Senta Eiko Senda brillierte mit schönen Spitzentönen, forcierte oft aber allzu sehr. Die farbige Sängerin Elaine Martorano gab eine expressive Mary im Sambakostüm, ohne den sonst üblichen keifenden Gouvernantenton. Ricardo Tuttmanns Erik wirkte robust, Martin Mühles Steuermann klang etwas eng und bemüht.

Das brasilianische Publikum empfand das Schlingensief-Panoptikum nicht im Geringsten als provokativ, nur ganz wenige Buhrufe mischten sich in den überschwenglichen Beifall. Unentschieden blieb ohnehin, wer da wen provoziert hatte: Die tropische Exuberanz vermochte selbst noch einen Berserker wie Schlingensief herauszufordern. Sein „Holländer“ war am Ende so brasilianisch, dass niemand auf die Idee kam, mit Wagner sei hier etwas Besonderes geschehen. Unterschiedliche Meinungen gab es nur darüber, ob der Auftritt der Sambatrommler unbedingt sein musste. Die hatte Schlingensief zwei Tage zuvor bei der Festival-Eröffnungsfeier im Freien vor dem Opernhaus viel wirkungsvoller eingesetzt. Da durften sie die „Holländer“-Schlussszene in eine karnevalistische „Erlösungs“-Prozession verwandeln.

Auf der Suche nach Selbstüberforderung

Am Ende waren alle glücklich, vor allem die Verantwortlichen der Goethe-Institute in São Paulo und Rio de Janeiro, die Schlingensiefs Wähnen nach einem neuen „Zwischenreich“ rechtzeitig erkannt, ihn in das Zauberland des Synkretismus gelockt und mit dem Festival in Manaus zusammengebracht hatten. Für die deutschen Kulturvermittler war das „Holländer“-Projekt in Manaus, zu dem auch die Kulturstiftung des Bundes einen größeren finanziellen Beitrag leistete, ein werbewirksamer Auftakt zu ihrem „Tropen“-Schwerpunktthema, das von einer großen internationalen Ausstellung gekrönt werden soll.

Text: F.A.Z., 24.04.2007, Nr. 95 / Seite 33