STREITKULTUR JA, PROVOKATION NEIN (BERLINER MORGENPOST)

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Berliner Spaziergang: Die Sonntagsserie in der Berliner Morgenpost. Jochim Stoltenberg trifft Berliner, die in der Stadt etwas bewegen. Treffpunkt ist ihre Lieblingsecke. Heute: ein Spaziergang mit Regisseur Christoph Schlingensief

Von Joachim Stoltenberg

Wer sich mit Christoph Schlingensief einlässt, ist vor Überraschungen natürlich nicht gefeit. Wer in dem „als heiligen Narren und genialen Wüterich verehrten und als zynischen Provokateur verachteten“ („Der Spiegel“) Film- und Theatermann, Aktionskünstler und Dozenten auch im privaten Umgang einen ziemlich ungehobelten Klotz vermutet, der irrt schon mal gründlich. In dem intensiven Telefon- und Mailverkehr, der uns den Weg zu einem Spaziergang ebnete, klangen Höflichkeiten, beste Umgangsformen und Entschuldigungen für immer neue Vertröstungen an, die ich so nicht erwartet hatte. Als der vermeintliche Bürgerschreck endlich Zeit findet, die nächste Überraschung. Ob wir uns nicht an der Weltzeituhr am Alexanderplatz treffen wollten, dann könnten wir durch das Saturn-Kaufhaus am Alex spazieren …

Erinnerungen am Alexanderplatz
Auf die Minute genau („Ich steh auf Pünktlichkeit“) treffen wir uns dort, wo sich einst die ganze DDR verabredete. Warum ausgerechnet hier, frage ich den 46-Jährigen, der mit seinem schwarzen Stoppelhaarschnitt, dem Dreitagebart, der schwarzen Joppe, der dunklen Jeans und dem Rucksack im Kreuz auch äußerlich noch immer jugendliche Frische ausstrahlt. „Als ich Anfang der Achtzigerjahre zum ersten Mal in Ost-Berlin war, hab ich mich auch hier getroffen; mit einem Ehepaar, das in der DDR Dokumentarfilme drehte. Ich hab die beiden leider nie wieder gesehen. Das hier ist also ein Stück Erinnerung.“
Auch Reminiszenzen an die Geschichte dieses Platzes, an seine von Alfred Döblin dramatisierte Umgebung? Wohl weniger, denn statt darauf zu antworten, mokiert er sich über die nicht endenden Umbauarbeiten. „Ich hab mit meiner Freundin gewettet, dass alles vor der Fußball-WM fertig wird. Denn es kann doch nicht sein, dass so ein Platz ein solches Durcheinander bietet, wenn all die Ausländer uns besuchen. Denkste. Immer noch eine Wüstenei.“ Und lachend folgt das mehr oder weniger ernst gemeinte Bekenntnis: „Da kann man sehen, dass ich mittlerweile doch Patriot geworden bin.“
Durch Absperrgitter, vorbei an Bauarbeitern mit ihren lärmenden Schleifmaschinen, bahnen wir uns den Weg über den Alex. Ihn lockt Saturn, mich weniger. Warum zieht ausgerechnet ihn dieser Konsumtempel der Elektronik magisch an? „Ich bin ein großer Fan elektronischer Gerätschaften und gucke mich gern um, was es an Neuem gibt. Ich laufe da einfach nur rum und lass mir was erklären. Und wenn ich ganz schlecht drauf bin, versuche ich immer, den Verkäufer zu widerlegen, weil ich mich doch ganz gut auskenne mit Computern.“

Computer locken
Und schon beginnt er ausführlich von Computern zu erzählen. Wir spazieren munter weiter; vorbei an Saturn über die Alexanderstraße Richtung Volksbühne. Glück gehabt. Aber doch noch die Frage, ob er selbst beim Elektronikgucken zum Provokateur tauge? „Eben nicht – das ist nur Fachwissen. Über Dinge, mit denen ich mich auskenne, tausche ich mich gern aus, auch kontrovers, wenn es sein muss. Meine Arbeit dagegen handelt häufig von Zuständen, die ich nicht verstehe, und die ich gerade deshalb ausprobieren und hinterfragen will. Das ernsthafte Stellen von Fragen oder Experimentierfreude haben aber nichts mit Provokation zu tun. Provokateure sind die, die immer auf alles eine Antwort haben und mir im Vorbeigehen mal kurz die Welt erklären wollen. Die Nachrichten im Fernsehen, die sind die wahren Provokationen, nicht das Theater. Mit 25 Jahren Film-, TV- und Bühnenerfahrung weiß ich sicher besser als andere, wie einige Mechanismen funktionieren …“ Er weiß also, wie man Menschen herausfordert, aus der Reserve lockt? „Ich streite mich gern und finde auch, dass es dem Berliner Kulturleben extrem an Streitkultur mangelt. Es gibt natürlich immer immens viel Aufruhr um das Postengeschacher in den Kulturinstitutionen, da zieht jeder gern seine Strippen, bläht sich auf und hängt seine Kompetenzen in den Wind. Um künstlerische Inhalte, um Aussagen, um Freude am Experimentieren geht es überhaupt nicht. Gerade das Theater, das ich im Geheimen hasse und zugleich liebe, ist ein Gebiet geworden, in dem sich alle mit ihren Intendantenverträgen bequem zurücklehnen und sich dann noch anmaßen, ihren abendlich 200 Abonnenten eine kritische Haltung zu politischen oder gesellschaftlichen Zuständen vorzugaukeln.“

Der Regisseur als Clown
Seine Gedanken beginnen sich zu überschlagen, er wehrt sich gegen das Klischee vom ewigen Provokateur. „Ich halte mich nicht daran auf, wenn jemand in mir mal wieder den Provokateur entdeckt. Ich weiß, dass ich es nicht bin, dass meine Arbeit für viele Attribute herhält, aber nicht als Skandal. Ich bin auch kein Pessimist, sondern Realist, der Theater auch so wahrnimmt. Ich gehe nicht auf die Bühne und spiele mit ,Hamlet“, Folge 2006, mal eben die Welt vor. Ich hole die reale Welt mit rauf auf die Bühne und gehe dann auch mal durch die vierte, fünfte oder sechste Wand bis zum Kern …“
Wie im September in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, an dem wir gerade vorbeikommen, mit dem Stück „Kaprow City“, betitelt nach Allan Kaprow, dem Erfinder des Happenings aus Kalifornien. „,Kaprow City“ ist eine begehbare Installation, die die Aufgabe hat, klarzustellen, dass der normale Betrachter nicht alles sieht; zu hinterfragen, was er sieht; davon zu berichten, was er glaubt, gesehen zu haben, und wie Dritte davon berichten – darum geht es. Und nicht um Prinzessin Diana, die auch vorkommt und die von Jenny Elvers-Elbertzhagen und Kerstin Grassmann dargestellt wird. Doch was schreiben die Zeitungen? Irgendwas von einem Diana-Stück. Absoluter Quatsch. Es ist eine Performance und Diana nur eine Randerscheinung.“ Viele Kritiker haben „Kaprow City“ zerrissen. Fühlt sich der Macher Schlingensief einmal mehr missverstanden? „Sie dürfen nicht nur die Springer-Presse lesen! Lesen Sie auch den Wiener ,Standard“, den Schweizer ,Tagesanzeiger“, zahlreiche Kunstmagazine, den ,New Yorker“ oder die ,Süddeutsche Zeitung“. Wenn das Verrisse waren, dann ist die Morgenpost ein Zeitmagazin. Aber natürlich lese ich Kritiken. Ich lese sie aber nicht mit dem Impuls, dass da hochgradig kompetente Damen und Herren hochgradig kompetent ihr Urteil fällen. Ich lese sie als subjektive Äußerung eines Besuchers, der aus Gründen, die nicht immer nachvollziehbar sind, das Privileg besitzt, dass seine Meinung abgedruckt und veröffentlicht wird. Einige Kritiker sind Partner, wie Zuschauer auch, die bereit sind, sich mit einer Arbeit auseinanderzusetzen. Andere rotzen fünf Minuten nach Vorstellungsschluss ihr Todesurteil ins Notebook und tauchen dann unter, weil sie ihr Gekritzel für derart ultimativ halten, dass es dazu nichts mehr zu sagen gibt; oder einfach, weil sie feige sind.“

Dennoch – dürfen seine Zuschauer oder Betrachter manchmal das Gefühl haben, von ihm zum Narren gehalten, auch verarscht zu werden? „Ich will zu Abenteuern verführen, auch wenn es nur das Abenteuer ist, einmal komplett gegen den Strich zu denken. Wenn ich überhaupt jemanden zum Narren halte oder verarsche, dann mich selbst. Die Leute müssen mich auch als Narr, meinetwegen auch als Clown empfinden, denn das erst eröffnet die Möglichkeit, dass sie sich im selben Licht sehen wie ich mich. Ich versuche, den Bogen hinzukriegen zwischen meinem Leben aus Unwissenheit und Überforderung und dem Leben der Zuschauer, in denen es ähnlich läuft …“
Wir spazieren keineswegs ziellos durch den Berliner Osten. Der in einem Apothekerhaushalt katholisch erzogene Westfale führt mich entlang einiger seiner Stationen in dieser Stadt. Über den Kollwitzplatz lenkt er mich weiter ans Ende der Knaackstraße, Ecke Danziger Straße. Dort, im zweiten Stock eines damals noch grauen Mietshauses, hatte er seine erste feste Berliner Wohnung.
Schlingensief und Berlin – am Anfang war nur Verachtung. Als er hier 1988 für das ZDF erstmals ein fremdes Drehbuch („Schafe für Wales“) verfilmen sollte, endete das in einem Fiasko, und Schlingensief war mit Berlin fertig. Auch mit der Wiedervereinigung konnte er zunächst nichts anfangen. „Da fuhren plötzlich überall Trabis rum, die Wessis schmissen mit Bananen nach den Ossis, die hatten eine Sprache, die ich nicht verstand, und Klamotten, die ich schrecklich fand. Und alle redeten davon, dass wir nun ein Volk seien. In meiner kleinen Mülheimer Wohnung hab ich mir gesagt, das stimmt doch alles überhaupt nicht. Die können nur den Horror bei uns erleben, und ich möchte keine zwei Wochen bei denen wohnen. Daraus ist dann mein Film ,Das deutsche Kettensägenmassaker“ entstanden: Die Ossis kamen als Freunde und wurden zu Wurst gemacht.“

Stolz auf Bayreuth
Manche halten den Streifen, auch schon zu DVD verarbeitet, mittlerweile für einen Kultfilm. Immerhin brachte er Schlingensief wieder nach Berlin. 1993 engagierte ihn die Volksbühne als Regisseur. „Heute habe ich die Stadt wirklich gern. Wenn man so angeflogen kommt und herunterschaut – ich find das total toll.“ Weniger toll findet er, dass der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit der Stadt nun auch noch als Kulturattaché vorstehen will. „Ich mag den Wowi. Aber ich hab jetzt keine Lust, wenn man unter Kultur bald nur noch versteht, über den roten Teppich zu latschen, mit dem Champagnerglas auf einbeinige Schwerkranke in der Vierten Welt anzustoßen und auf Benefizabenden rumzusitzen, bei denen vielleicht auch noch der 140-jährige Johannes Heesters ,Ich brech die Herzen“ oder ,Heut geh‘ ich ins Maxim“ singt. Deshalb schlage ich vor, dass man dem Wowereit scharf auf die Finger guckt, damit er Leute mit Profil verpflichtet, die ihre Meinung sagen und sich Meinungen anderer anhören, und die nicht schweigsam geworden sind wie Peymann, Castorf, Ostermeier, Lilienthal oder Wilms. Theater ist eine Bühne, auf der will ich Leute hören, die das Maul aufmachen. Aber in Berlin mauscheln alle rum und lassen sich ihren Vertrag verlängern.“
Auf einer ganz großen Bühne, der in Bayreuth, inszeniert er im nächsten Jahr seinen „Parsifal“ schon zum vierten und damit nach Tradition des Hauses Wagner auch zum letzten Mal. Wie war das eigentlich 2003, als ausgerechnet ihm an dieser Weihestätte urdeutscher Oper angeboten wurde, etwas für ihn völlig Neues zu versuchen? Eine Provokation der anderen Art? „Ich war völlig überrascht. Bis zum Schluss. Als mir Wolfgang Wagner in der Beethoven-Suite des Berliner Hotels Westin Grand den Vertrag überreichte, hab ich immer noch für möglich gehalten, dass alles nur ein Scherz mit versteckter Kamera sei … Viele Wagnerianer erwarteten dann, dass der Schlingensief in Bayreuth einpoltert und ,ihren“ Parsifal zuscheißt. Hat er aber nicht.“

Kritiker sind leiser geworden
Das Echo nach der Premiere 2004 war geteilt. Aber nachdem er weiter an seiner film- und bildorientierten Inszenierung gearbeitet hat, sind die Kritiker leiser geworden. „Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass ich Bayreuth ein bisschen weiter geöffnet habe, in dem Sinne, dass man seine Arbeit von Jahr zu Jahr weiterentwickeln kann, dass der Begriff von der ,Werkstatt Bayreuth“ wieder eine Berechtigung hat. Das hört sich arrogant an, soll es meinetwegen auch …“ Wer wäre nicht stolz, auf dem Grünen Hügel das Zepter geschwungen zu haben? Seitdem ist er noch besser im Geschäft, auch im internationalen.
Wir sitzen mittlerweile draußen an einem Biertisch vor des vielgesichtigen Künstlers erster Berliner Wohnung bei Kaffee und einem Stück Kuchen. Das Klingeln von Christoph Schlingensiefs Handy unterbricht unser Gespräch. Er entschuldigt sich, ich kann nicht weghören. „Hallo, ja ich bin gerade mit Herrn Stoltenberg unterwegs. Wir machen einen interessanten Spaziergang, und ich erzähl ganz viel durcheinander …“ Nichts als die Wahrheit. Zu der gehört auch, dass ihn verkennt, wer im Schubladendenken verharrt.

3.12.2006