DER ZEITMASCHINIST

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Laudatio von Christoph Schlingensief auf Alexander Kluge, anläßlich der Verleihung des Filmpreises der Stadt Hof 2006

DER ZEITMASCHINIST. ALEXANDER KLUGE

„Selbstmord begeht, wer nicht in diese Welt paßt. Frau Gaby Teichert hat Krach mit der Obrigkeit. Ihre Auffassung von Geschichte, meint ihr Vorgesetzter, sei wie ein Gemisch aus Kraut und Rüben. Doch Gaby Teichert versucht nur, die Dinge in ihrem Zusammenhang zu sehen.“
[DEUTSCHLAND IM HERBST, Off-Kommentar zur Kluge-Episode VERLORENE GESCHICHTE]
Alexander Kluge wurde am 14. Februar 1932 in Halberstadt als Sohn eines Arztes geboren. Daß er als solcher nicht die mehr oder weniger naheliegende Laufbahn als Arzt einschlägt, mag bereits markieren, daß Kluge niemand war und ist, der vorgezeichnete Wege betritt. Statt dessen hat er eine äußerst krude Mischung aus Rechtswissenschaft, Geschichte und Kirchenmusik (!) studiert. Zwischen Himmel und Hölle ist er gerade da unterwegs, wo sich in Denken und Handeln nur wenige von uns hinbewegen. Kluge durchstöbert die Randbezirke der Aufklärung, er kratzt an den Hirnrinden. Er forscht nicht nach dem selbstverständlichen Gesamtbild, das klar und unzweideutig vor uns liegt, er forscht nach den unverständlichen Puzzleteilen, aus denen sich eine Art von Verstand erst zusammensetzt. Er ist ein Archäologe der Jetztzeit.
In gewisser Weise also hat Alexander Kluge doch den Weg des Arztes eingeschlagen: Er ist Chirurg der deutschen Geschichte, einer Geschichte, die zwar geschrieben steht, aber in all ihren Facetten noch in keinster Weise erzählt worden ist. IN GEFAHR UND GRÖßTER NOT BRINGT DER MITTELWEG DEN TOD (1974) ist dementsprechend auch mehr als nur ein Filmtitel aus dem umfangreichen und klugen Kluge-Werk. Es zieht sich wie eine Parole durch all seine Arbeiten. Wie Frau Teichert, seine Hauptfigur in DEUTSCHLAND IM HERBST (1978), ist Alexander Kluge „…auf der Suche nach den Grundlagen der deutschen Geschichte, entweder nach einem Unterstand für den dritten Weltkrieg oder nach vorgeschichtlichen Funden“.

Alexander Kluge ist der Prototyp des Zeitreisenden, der seiner Zeit auch oder gerade deshalb voraus ist, weil er die Vergangenheit befragt. Weitere Filmtitel sind programmatisch anti-programmatisch: ABSCHIED VON GESTERN (1966), ANGRIFF DER GEGENWART AUF DIE ÜBRIGE ZEIT (1985) oder DEUTSCHLAND IM HERBST (1978), das vom neuen deutschen Film unter Federführung Kluges gezeichnete Un-Sittengemälde jenes Zombiedeutschlands, das zwischen Nazi- und RAF-Terror erfolglos versucht, seine ungeliebte Geschichte in Staatsbegräbnissen zu verscharren. Es sind immer frontale Angriffe auf die Gegenwart und auf die Menschen, die von sich behaupten, im Hier und Jetzt zu leben. Nicht die Zukunft, nicht das, was noch sein könnte, nennt Kluge utopisch. Er kennzeichnet die Geschichte als Utopie, also gerade das, was schon gewesen ist.

Was die Medienmaschinen zwischen Hitler, Guido Knopps tausendjährigem Doku-Star, und den einfach so hingerotzten Memoiren des selbsternannten, selbstgefälligen Friedenskanzlers Schröder als Historie disponieren, stellt Kluge zur Disposition. Das ist seine Art, die ihn für alle deutschen Gegenwarten der vergangenen Jahrzehnte so unentbehrlich macht – und die er mit viel zu wenigen von uns teilt. Die schönsten Utopien waren, bleiben, und vor allem sind dabei aber seine Filme selbst, und so ist es auch nur konsequent, daß in seiner Filmographie, die eigentlich ja nur so vor Science-Fiction-Filmen wimmelt, auch zwei ausgewiesene Science-Fiction-Filme zu finden sind – DER GROßE VERHAU (1970) und WILLI TOBLER UND DER UNTERGANG DER 6. FLOTTE (1971).

Für Alexander Kluge, den Mann an der Zeitmaschine, versteht es sich beinahe von selbst, daß er bei aller Verortung in der Gegenwart permanent in Parallelwelten unterwegs ist: Parallel zu einer Regieassistenz bei Fritz Lang (1958) schreibt er an ersten eigenen Drehbüchern; und während er 1960 bei den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen für seinen ersten Kurzfilm BRUTALITÄT IN STEIN (1959) noch einen Hauptpreis gewinnt, stellt er zwei Jahre später als Mitunterzeichner des Oberhausener Manifests das gleiche Filmfest und die Filmwelt, zumindest die deutsche, auf den Kopf.

Weil sich Geschichte als vergangene und abgehakte Dimension in Kluges Arbeiten in permanent wirkende Gegenwart auflöst, wirkt es an dieser Stelle nicht veraltet, wenn man ihn als kollektiven Arbeiter, als Arbeiter für das Kollektiv bezeichnet. Er ist das seltene Exemplar des zurückhaltenden Intellektuellen, der seine Meinung nicht zum Kanon erklärt, sondern seine Sichtweise als eine mögliche Haltung unter vielen zur Diskussion stellt. Vor das eigene Wissen stellt Kluge seine um ein Vielfaches größere Neugier, Wissen zu wollen, Fragen zu wollen, anstatt vorgestanzte und selbstverliebte Antworten zu plärren.

Er ist ein Film-, und spätestens mit der Realisierung seiner Idee eines „Herausgeber-Fernsehens“ in Form der Produktionsfirma dctp, auch ein Fernsehanalytiker. Im Fernsehzeitalter der rasanten Schnitte und versendeten Bilder hat Kluge das stehende Bild zum Stilleben erklärt. Genauso markant ist seine neugierige, „unsichtbare“ Stimme, die aus dem Off heraus seine ins Bild gesetzten Experten zu den wirklich zeitlosen Themen befragt, die da z.B. lauten:
Im Himmel, da ist kein Bier. Cowboys tanzen Polka – Nachfahren böhmischer Emigranten in Texas,
Wenn Roboter gesellig sind, werden sie intelligent, sagt ein Forscher
oder
Postoperative Texte. Heiner Müller liest Gedichte, die er während einer Operation schrieb.

Was Alexander Kluge für mich interessant gemacht hat, schon lange, bevor ich ihn kennen lernte und mich von ihm „Kamerad“ nennen lassen durfte, ist sein schlichtweg sympathischer Zug, nicht in der Position des Vordenkers, die er schon so oft eingenommen hat, zu erstarren, sondern mit dem selben Engagement auch vormachen zu wollen, getreu seiner These, „daß jeder von uns seine eigene Revolution ist“. Bilder der Gegenwart, Schrift, Dokumente, Spielfilmminiaturen, Versatzstücke aus Stummfilmen, Opernzitate, erfundene oder zum Teil erfundene Lebensläufe mit dem unnachahmlichen Peter Berling, die deutsche Märchentradition, Fragmente aus Kinderbüchern, bildliche Darstellungen von Aberglauben – das alles stößt in seinen Bildern aufeinander und steht zur Verarbeitung, zur Selbstmontage, zur Selbstrevolution bereit.

Ehrenvoller als jede Laudatio, die man auf Alexander Kluge halten kann, sind die Meinungen derer, die von seinen Zeitreisen und Expeditionen ins Menschenreich wenig hielten. Die Geschlossenen Fernsehanstalten RTL, Sat.1 oder VOX versuchen seit Jahren, Kluges Formate zu beschneiden, weil sie sich jeder Quotengeilheit und jedem Voyeurismus widersetzen. Der ehemalige RTL-Programmchef Helmut Thoma hat Alexander Kluge einmal „einen Quotenkiller“ genannt, seine Kulturmagazine seien so deplaziert wie „Zwölftonmusik im Zirkus“. Von einem blasierten Wirklichkeitsproduzenten, der mittlerweile als Leiche im Senderkeller vor sich hinmodert, sind größere Komplimente ja gar nicht zu bekommen.

Kluge lebt und arbeitet, forscht und reist derweil weiter durch die Zeit. Er selbst hat sein ästhetisches Programm mit der Unaufgeräumtheit und Vorläufigkeit von Baustellen, von Werkzeugkästen verglichen. In solchen Formulierungen schimmert eine Vorstellung vom Film durch, das den kleinsten Mosaikstein – zumindest für einen Film- oder Fernsehaugenblick – zur größten Ideologie erklärt.

Im Anblick aller historischer und zeitgemäßer Ideologen, die uns mit Vorliebe so erbärmlich im Stich lassen, bleibt Alexander Kluge der Inbegriff des leidenschaftlichen Ideologen im permanenten Paralleluniversum, auf den wir uns, dank der Macht seiner Bilder, der Macht seiner Gefühle, „blind“ verlassen können.

Hofer Filmfest, 26.10.06