WAHNSINN IST, DAß WAGNER NICHT ZU ÄNDERN IST (FAZ)

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Die letzten Wiederaufnahmen in Bayreuth: Christoph Marthalers „Tristan“ und Christoph Schlingensiefs „Parsifal“

Mauricio Kagel träumte davon, die Musik des „Parsifal“, Wagners „Sehnsucht nach dem Absoluten“, in Bayreuth einmal auf vollständig verdunkelter Bühne zu erfahren: „Man stelle sich vor, keine stehenden Chöre mehr, kein quälendes Warten auf Veränderung: Der Triumph der reinen Vorstellungskraft.“ In ähnlichem Sinn hat Patrice Chereau den „Tristan“ einmal als ein „Hörstück“ bezeichnet. Tatsächlich grenzt die Aufgabe, den in beiden Werken auskomponierten Innenwelten eine szenische Entsprechung zu geben, ans Unlösbare. So fluide und übergänglich ist das motivische Netz aus Ahnungen und Erinnerungen, das Wagner hier beziehungszauberisch webt, so abgründig, morbide und stets nah an der Auflösung bewegt sich diese Musik in ihrer Neigung zur harmonischen Verflüssigung und zur Verräumlichung der Zeit, daß die Versuche, sie in einem Bühnengeschehen bildlich zu fixieren, meist wie ernüchternde Begrenzungen wirken.

Die beiden letzten Wiederaufnahmen der Bayreuther Festspiele zeigten nun zwei komplementäre, in ihrer Konsequenz gleichermaßen radikale Pole der szenischen Annäherung an Wagners große Rätselwerke – und machten das Dilemma um so plastischer. Christoph Marthalers nur minimal überarbeitete „Tristan“-Inszenierung aus dem vergangenen Jahr markiert die Grenzen eines Regietheateransatzes, der zwar die Anstrengung einer deutenden Durchdringung auf sich nimmt, seine Inszenierungsthese dann jedoch ohne Rücksicht auf musikalisch überschießenden Sinn verfolgt. Marthaler setzt seine prinzipiell einleuchtende Idee einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten, von Grund auf vergeblichen Liebe zweifellos schlüssig um – so schlüssig allerdings, daß von all dem süchtelnden Sehnen und dauerekstatischen Sich-Verzehren, von der gigantischen Verschmelzungsutopie, der die Musik hier grenzüberflutend entgegenströmt, nichts mehr übrig bleibt. Anna Viebrocks trostlos vor sich hin modernder Bühnenraum, in dem man von Akt zu Akt eine Etage tiefer zu sacken scheint und dessen Poesie sich in einer Art Neonwürmchenballett erschöpft, tötet von Beginn an jede Hoffnung auf Erfüllung.

Tristan und Isolde erscheinen als Anti-Liebespaar, deren innere Panzer sich selbst von härtesten Liebestrankdrogen nicht erweichen lassen. Verklemmt sitzen sie auf zwei Hockern nebeneinander, während Wagner die Liebesnacht herniedersinken läßt – er als eine Art Schiffssteward in scheußlich blauer Uniform, sie im hellgelben Kostüm. Alle Gesten ihrer Liebe haben sie sich irgendwo geliehen. Sie ergehen sich in Zärtlichkeiten wie aus der Kaffeereklame und in Verruchtheiten wie aus einem Loriot-Sketch. Er legt den Kopf in ihren Schoß, sie zieht sich ihren Handschuh aus und nimmt ihn zwischen die Zähne. Später rennt Kurwenal mit dem Kopf gegen die Wand, haucht Tristan sein Leben in einer Intensivstation aus, stirbt Isolde ihren Liebestod unter seinem Bettlaken. Die Inszenierung malt das vollendete Bild einer Tristan-Depression, gegen die Nina Stemme als eine leidenschaftliche, glühende Isolde mit dunklem, wunderbar voll und rund klingendem Sopran, scheinbar unerschöpflicher Kraft und großer Ausdrucksintensität ansingt. Robert Dean Smith ist ein respektabler Tristan. Was seinem hellen, leichten Tenor an Glanz abgeht, macht er durch ein wunderbares Legato und schöne Phrasierungen wieder wett. Petra Langs Brangäne verfügt über leuchtendes, strömendes Soprantimbre, wenngleich sie dazu neigt, die Konturen hin und wieder ein wenig zu verschleifen. Ralf Lukas ist ein markiger Melot, Kwangchul Youn ein etwas starrer König Marke, Hartmut Welker ein darstellerisch charakteristischer, stimmlich leider unzulänglicher Kurwenal.

Nach dem Einbruch des Dirigenten Eiji Oue im vergangenen Jahr hat Peter Schneider das Festspielspielorchester nun fest im Griff. Es ist ein grundehrlicher, handfester „Tristan“. Symphonisch durchgeformt, zupackend, ja forsch in den Tempi, frei von nervenzerfasernden Überreiztheiten, Zimperlichkeiten und Entgrenzungsflausen jeglicher Art, exzessiv nur in der Lautstärke, kompakt und pausbäckig im Klang, kurz: unerträglich gesund.

Christoph Schlingensiefs hypertrophe „Parsifal“-Inszenierung möchte die Begrenzungen des Regietheaters sprengen. Deutung ist Schlingensief verdächtig. In der Auslegung eines ästhetischen Sinnes wittert er schon eine Instrumentalisierung des Kunstwerks, das mißbraucht würde zur Illustration dürrer Botschaften und papierner Thesen. Dieser Gefahr begegnet er mit dem halsbrecherischen Versuch, jenseits aller Hermeneutik ein Bühnengeschehen zu erfinden, das es als eine eigenständige, sinnliche Ebene mit der Vieldeutigkeit und der Komplexität der Musik aufnehmen kann, das also einen unmittelbaren künstlerischen Reflex auf sie gestaltet. Man kann das größenwahnsinnig nennen oder mutig. Langweilig wird die von ihm beschworene, die Aufnahmegrenzen beinahe sprengende Bilderflut jedenfalls nicht. Auch daß man nicht dauernd den erhobenen Zeigefinger des Regisseurs zu spüren bekommt, der einem erklärt, was der Komponist gemeint hat, öffnet einem die Sinne neu. Gelungen erscheint die oft schier undurchdringlich wirkende Überlagerung von szenischen Vorgängen und exzessiven Videoprojektionen in ihrer Suggestion neuer, irreal-utopischer räumlicher Perspektiven – etwa in der sonst meist peinlichen Abendmahlsszene des ersten Aktes, die hier eine beinahe erhabene Aura erhält. Und natürlich paßt das Unterlaufen einer linearen Erzählhaltung irgendwie zum „Parsifal“. Doch in diesem „irgendwie“ liegt das Problem dieser synkretistischen, Assoziation über Assoziation blendenden Inszenierung. Denn sie mutet einem zu, sich mit Wagners überwältigenden Klängen im Ohr in die privatesten Winkel der Schlingensiefschen Einbildungskraft zu versenken, mit all den Obsessionen, Skurrilitäten, Widerlichkeiten, die es dort zu entdecken gibt. Das ist zum einen nicht sehr angenehm und lenkt zum anderen von der Musik ab.

Irgendwann im Laufe des langen Abends hat man einfach genug von all den Robben und Maden und Hasenkadavern, die da über die todeslagerähnliche, mit Stacheldraht umzäumte Versammlung von Vertretern aller Weltreligionen flimmern, von den dicken Urmamas, den (dieses Jahr hinzuerfundenen) islamistischen Terroristen, den vulgären Fruchtbarkeitssymbolen und Teufelsfiguren, dem ewigen Blutgemansche. Natürlich funktioniert auch Schlingensiefs sprachlose Inszenierung letztlich nicht völlig ohne eine Deutung. „Parsifal“ soll hier eine Nahtoderfahrung spiegeln. So schreiten die Gestalten am Ende durch den berühmten Tunnel einem gleißenden Licht entgegen, während man im Zeitraffer einem Hasen beim Verwesen zusehen darf.

Schlingensief beschert dem „Parsifal“ wieder jenes mystisch verschwiemelte, privatreligiöse Moment, das ihm die Regisseure in den vergangenen Jahrzehnten so mühsam auszutreiben versucht haben. In eine Bayreuther Unsitte immerhin hat Schlingensiefs Inszenierung Bewegung gebracht: Nach der Abendmahlsszene stürmte der an dieser Stelle sonst verpönte Beifall los, ohne daß jemand protestiert hätte. Es trat freilich auch niemand zur Verbeugung vor die Szene.

Musikalisch blieb der Abend etwas blaß. Adam Fischer leitete das Orchester anstelle von Pierre Boulez in den beiden vergangenen Jahren und sorgte dafür, daß Wagners Bühnenweihfestspiel mit der Leichtigkeit einer Haydn-Symphonie daherkam. Bei aller Vorliebe für klangliche und agogische Differenziertheit, Durchhörbarkeit und schlanke, zügige Formentwicklungen vermißte man hier doch einen gewissen expressiven Abgrund. Gesungen wurde prächtig: Alexander Marco-Buhrmester war ein Amfortas ohne Weinerlichkeiten, Evelyn Herlitzius eine äußerst intensive Kundry, auch wenn ihre Stimme schon die ersten Schärfen aufweist. John Wegner als Klingsor, Robert Holl als Gurnemanz und Alfons Eberz als Parsifal hielten ein mehr als solides Niveau.

Daß dieser „Parsifal“ im übernächsten Jahr abgesetzt wird, habe nichts mit dem Unmut des Publikums zu tun, beteuert man im Pressebüro der Festspiele. Im Gegenteil, Schlingensief passe sogar sehr gut nach Bayreuth. Die Neuinszenierung im Jahr 2008 wird Daniele Gatti dirigieren. Wer ihn inszenieren wird, steht noch nicht fest, es kursiert der Name des jungen norwegischen Regisseurs Stefan Herheim. 2009 wird es keine Neuinszenierung geben, 2010 einen neuen „Lohengrin“. Doch zuvor bekommt Katharina Wagner im kommenden Jahr ihre große Chance als Regisseurin der „Meistersinger“. Die Wiederaufnahme von Philippe Arlauds „Tannhäuser“ soll dann Fabio Luisi musikalisch übernehmen. JULIA SPINOLA

Text: F.A.Z., 04.08.2006, Nr. 179 / Seite 33