„ICH BIN FÜR DIE VIELFALT ZUSTÄNDIG“ (Lesebuch Projekte)

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Christoph Schlingensief im Gespräch mit Michael Kerbler und Claus Philipp

MICHAEL KERBLER: Unser Gespräch möchte ich mit einem Zitat beginnen, von dem ich zunächst dachte, es stammt von Ihnen. Ich lese es mal vor: „Die Menschen sind nicht frei, da ihr Dasein ständig von Gefühlen wie Beklemmung, Angst, Hass und Hilflosigkeit bestimmt wird. Wir brauchen ein Theater, das uns wachrüttelt und unsere Herzen und Nerven anspricht. Das ideale Schauspiel ist mit allen Sinnesorganen wahrnehmbar, das heißt allumfassend. Theater muss wieder feierlich werden, und auf die Zuschauer wie eine Seelentherapie wirken und unvergesslich bleiben. Ich fordere eine von Schauspielern und Zuschauern gemeinsam vollzogene reale Handlung im Theater, und damit eine Überwindung des Unterschieds zwischen Spiel und Wirklichkeit. Ein möglicher Weg führt über das Theater der Grausamkeit, wo der Zuschauer eine existentielle Grenzerfahrung durchlebt. Auf diese Weise wird die Kunst überschritten, und das Theater kein Schauspiel mehr sein, sondern ein Moment des Lebens.“ Ist das etwas, was Sie unterschreiben würden?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Das kann doch jeder unterschreiben! Das könnte auch die Politik sagen, ein Geschäftsmann, eine Angestellte – jeder Mensch auf der Welt, wenn es sein Ziel ist, endlich in den eigenen Film einzutreten. Schon jedes Baby macht sich bei der Geburt schreiend bemerkbar, um wahrgenommen zu werden.

MICHAEL KERBLER: Diese Sätze stammen von Antonin Artaud …

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF:…bei dessen Obsessionen man nie so genau weiß, woran man ist. Er war großartig, ein wirklicher Praktiker. Ich denke wie er, dass Angst eine elementare Produktivkraft im Menschen ist. Sie schlummert in einem, man wird gezwungen, sie sich abzugewöhnen. Einer geht dann zum Psychologen, ein anderer lässt es halt raus. Artaud hat zum Beispiel mit Glockentönen gearbeitet, von denen die Zuschauer zum Vibrieren gebracht wurden. Manche waren nachher taub. An solchen Abenden muss man eben mit Versicherungsschäden oder Regressforderungen rechnen.

MICHAEL KERBLER: Im Gegensatz zu Ihnen hat Artaud eine statische Bühne entwickelt, um die sich die Sesselreihen im Kreis drehen konnten. Sie machen den Animatograph, diese Mehfachprojektions-Drehbühne, zum essentiellen Stück der Inszenierungen. Reichen ihnen die normal gebotenen technischen Möglichkeiten nicht?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Beim Zeitungslesen am Frühstückstisch habe ich irgendwann festgestellt, dass sich die Bedeutung von Artikeln ändert, wenn ich mich dabei um meine Achse drehe. Genau erklären kann ich das nicht, aber es ist so. Es hat ja auch eine Zeitlang gedauert, bis den Menschen klar wurde, dass die Erde keine Scheibe ist und man um sie herumfahren kann, sich das Ganze dreht und es keinen Rand gibt, wo man hinunterfällt. Für Joseph Beuys hat die Mondlandung nach dem Lift-Prinzip funktioniert: Man fährt hoch, ist großartig erregt, stapft im Dunkeln herum, und dann geht es mit dem Aufzug wieder runter. Wahrscheinlich hat das alles Stanley Kubrick gedreht; man weiß es nicht genau. Alle diese Sachen sind natürlich Monopole der Betrachtung, Monopole der Zentralperspektive mit unten und oben.
Was aber passierte nun mit Ernst Messerschmidt, dem deutschen Astronauten, den ich kennen gelernt habe? Als er am Morgen im All die Augen aufmachte, hat er alles verkehrt herum gesehen. Er konnte kein Instrument mehr bedienen. Alle waren geschockt, bis plötzlich ein Wissenschaftler die Sache ins Positive drehte und die Anordnung durchgab: „Unbedingt weiter machen. Vergessen Sie den ganzen Plan, den wir mit Ihnen vorhatten. Sie sind, so wie 5 Prozent der Bevölkerung, die dieses Problem haben, ein Riesenfehler im System, aber das ist die größte Produktivkraft, die wir uns vorstellen können. Machen Sie alles, was Sie können, hören Sie Musik, putzen Sie sich die Zähne, laufen Sie an der Wand rum oder denken Sie was Verrücktes, oder befriedigen Sie sich selbst, und dann schildern Sie, was passiert.“ Solche 5 Prozent sind es, auf die ich letztendlich vertraue, damit Dinge in Bewegung kommen und Indifferenzen passieren. Es geht also um die Hoffnung, dass sich Türen öffnen, die Dimensionen zeigen, die wir verlernt haben, die wir verlernen mussten, weil das System darauf besteht, dass ich mich permanent in einem begrenzten Vernunftraum bewege, mit fest gefügten Vorstellungen von oben und unten.

CLAUS PHILIPP: Um die Zersetzung von Zentralperspektive ist es auch beim Containerprojekt vor der Staatsoper in Wien gegangen. Man konnte herumgehen, sich Bilder ansehen, selbst Fotos machen, wurde in Gespräche verwickelt.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Ein sonst von vielen hingenommener Satz wie „Ausländer raus!“ war plötzlich so öffentlich da oben, dass er sich gegen die Leute gedreht hat. Es war ihnen unangenehm, dass jeder japanische Tourist das fotografieren konnte. Das hat gewisse Gleichgewichtsstörungen verursacht. In beiläufig Akzeptiertes kam Bewegung hinein, plötzlich waren auch die Passanten unmittelbar beteiligt.
Zur Idee der Animatographen möchte ich noch sagen, dass sie zum ersten mal in Bayreuth konkret geworden ist, als ich mich mit der dortigen Bühnensituation beschäftigte. In diesem Raum entsteht nicht, wie sonst in einer Oper, nur so ein Hall, der jeden Ton „schlp“ nach innen saugt, sondern da ist überall noch so ein schöner angenehmer Schmier um die Musik herum und das erfüllt mich. Als ich mir überlegte, einer könnte hinten und der andere möglichst weit vorne stehen, weil dann der Hall besser ist und sofort, habe ich rasch bemerkt: Das ist der Tod des Unternehmens Musik und auch der Tod der Oper letztendlich. Denn Musik ist für mich als Maschine, als Element, als Elixier begreifbar. Sie schält mir Bilder heraus, gibt mir verschollene Bilder zurück. In einer betonierten Szenerie kann das nicht funktionieren. Also habe ich die Familie Wagner angerufen, die gerade in Tokio war, dass sie leider zurückkommen müsse, weil es ein Problem gäbe. Dieses Bayreuth ist zu statisch.

MICHAEL KERBLER: Und sie sind gekommen?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Ja, sie haben ihre Reise abgebrochen, ohne eine vorgesehene Verdienstmedaille anzunehmen. Ich bin mit meinem Auto voller kleiner Modellteile hingefahren und wir haben eine Drehbühne aufgebaut – dabei hat Bayreuth gar keine. Mit Taschenlampen und einemDiaprojektor wurde demonstriert, wie es funktionieren könnte. Wolfgang Wagner, ein toller, allerdings von seiner Umgebung terrorisierter Mann, war der ruhende Pol; ansonsten gab es überall versteinerte Gesichter. Eine völlig abweisende Situation. Irgendwann sagt Gudrun Wagner: „Das ist interessant. Das habe ich hier noch nicht gesehen. Wie geht das?“ Es wurde dann beredet und berechnet und plötzlich kamen erste zustimmende Meldungen und die Stimmung ist gekippt. So kamen wir auf den Weg, die Statik aufzubrechen. Sehen Sie sich im Vergleich die ausgestellten Standfotos der Staatsoper in Wien an. Vielleicht waren diese Inszenierungen erfolgreich, man arbeitet aber mit der Verdummung des Betrachters. Oper kann viel mehr als bloß verblödete Leute anzuziehen. Sie schafft Organismen zur Musik, die genauso autonom sind wie die Musik. Die Musik ist etwas Autonomes, der Organismus Bild kann etwas Autonomes sein. Schlaf meinetwegen ein oder schließ die Augen. Mach sie auf und sieh ein Bild. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Das ist der Rausch, und damit bin ich wieder bei Artaud und wir haben einen wirklich produktiven Abend.

MICHAEL KERBLER: Angela Merkel war ja in der Parsifal-Premiere und hat Ihre Inszenierung wunderbar gefunden; nur die Videos hätten sie gestört…

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: … darauf habe ich ihr gesagt, wenn sie nächstes Jahr nochmals kommt, wird sich das geben. Apropos zuviel Video: Ich sehe gerade Merkel pausenlos auf allen Kanälen und kann das kaum noch ertragen, habe mich aber daran gewöhnen müssen. Inzwischen gehört Frau Merkel zu mir wie so eine Pflanze im Blumentopf. Irgendwie war sie süß. Sie hat mir auch noch Blicke zugeworfen, als der Edmund Stoiber mich umarmte und sich seine Frau bei mir so eingehängt hat, als ob ich eine der Töchter heiraten sollte.

CLAUS PHILIPP: Sie treten wie ein verrückter Bastler auf; trotzdem kommen Sie mit renommierten Institutionen zurecht.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Ehrlich gesagt, weil ich ein tolles Elternhaus hatte. Sei kein Fähnchen im Wind, hat mir meine Mutter gesagt, und zugleich vorgegeben, was ich sagen soll. Das ist die Schizophrenie des Kleinbürgertums. Versuche, so zu tun, als wärst du anders als die anderen, aber gib dir Mühe, auf dem Weg zu bleiben. Daraus hat sich einerseits ein chaotischer, andererseits ein ganz gerader Lebensweg ergeben. Institutionen sind immer klasse. Das Burgtheater ist ein Hammer. Dem Klaus Bachler rechne ich hoch an, dass er einem tatsächlich manchmal nachreist, nicht als Fan, sondern als einer, der sich fragt: „Was macht der Kerl da eigentlich?“ Plötzlich kam dann ein Anruf von ihm; dem hab’ ich im Moment genauso wenig geglaubt, wie dem Anruf aus Bayreuth. An die Burg zu kommen bedeutet für mich eine Aufladung. Ich sitze, ohne dass ich dafür gekämpft hätte, in der Garderobe, die auch Herr Voss und Herr Brandauer haben. Deren Badeschlappen kann ich mir angucken, bevor ich zu Bambiland rausmarschiere. Die Garderobe an der Volksbühne in Berlin macht mich überhaupt nicht an. An Wien mag ich, dass sich die Leute noch pseudoerregen lassen, „es ist ja irgendwie wunderbar“ denken und einem hinten das Messer rein hauen. In Berlin ist alles so „Uääh“ und „Wir sind alle so depressiv in Deutschland …“ und haben sowieso keine Lust mehr auf Kultur. Es gibt, glaube ich, 380 Kunstgalerien in der Stadt, die von 50.000 Euro Jahresumsatz leben. Eigentlich müssten die sich längst andere Sachen überlegen.

CLAUS PHILIPP: Auf der einen Seite macht es einen stolz, Bastionen wie Bayreuth betreten zu dürfen, auf der anderen Seite gibt es doch eine gewisse Wut darüber, dass die dann Dinge wollen, die man gar nicht bringen kann?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Zum Thema Provokation berufe ich mich gern auf Beuys, der schlicht gemeint hat: „Was soll das denn, auch Provokation ist nur ein Produktionsmittel.“ Zugleich sage ich ganz klar, dass jeder Revolutionsansatz von anderen Leuten, die aus Bereichen kommen, die nicht wahrgenommen werden, tausendmal wichtiger sein kann. Ein Kleinbürger wird immer wahrgenommen. Der weiß, welche Tageszeitung er im Bahnabteil oben liegen haben muss, damit man denkt, er wäre intelligent. Dieses Prinzip kenne ich. Und dann kommst du in solche Ahnengalerien rein und fragst dich: Was hast du hier zu suchen? Wie kommst du da hin? Was ist passiert? Solche Begegnungen habe ich aber auch, wenn ich bei Aldi einkaufe. Auch dort frage ich mich: Was hab ich hier zu suchen? Was find ich denn da unten im Regal? Das hört sich jetzt wie Blödsinn an, aber es ist ein Prinzip des Lebens, einen Raum zu betreten, und zu kapieren: Der Raum überprüft mich, und nicht ich den Raum.

CLAUS PHILIPP: Gut, und jetzt gehen Sie mit den Drehscheiben aus dem Parsifal in verkleinertem Maßstab hinaus in die Welt, nach Island, nach Neuhardenberg, nach Namibia, ins Wiener Burgtheater. Und was passiert dann?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: In der Steinzeit, aus der wir herkommen, sitzt man am Lagerfeuer, unterhält sich und nagt an einem Knochen. Plötzlich bemerkst du Schatten an der Wand. Sie bewegen sich, kommen näher. Man erschreckt, wenn einer plötzlich weg ist. Du hebst die Hand und siehst sie an der Wand. Du bewegst die Finger so, dass ein Hase erscheint. Zum ersten Mal hast du das Gefühl, man ist reproduzierbar. Ich bin nicht einmalig. Es könnte ein Abbild von mir geben. Das ist vom Grundgedanken her der Animatograph. Ein altes Militärlager in Neuhardenberg wird zur Bühne. Die Schlacht um Berlin hat da stattgefunden, die V1 wurde entwickelt, Gerhard Schröder hat das großartig kaputte Hartz IV unterschrieben. Das alles passiert dort. Als aktionistische Plattform, als Kirmeskarussell, sammelt der Animatograph auch in Namibia Bakterien, Elemente, Energieströme, Gegenstände ein. Er wird aus am Ort greifbaren Dingen gebaut. Es werden aktionistische Filme gedreht, von Szenen, die zur Musik passieren oder von ganz allein zustande kommen. Die Ereignisse sind nicht mehr kontrollierbar. Die Kamera ist bloß der Versuch, auf Distanz zu bleiben. Das alles nimmt der Animatograph in sich auf und im Theater kann man ihn betreten. Hier trifft sich der Mensch, hier lebt er, hier hinterlässt er seine Spur. In gewissem Sinn funktioniert das wie ein Wäscheständer, der ein Begriff von Demokratie für mich ist, weil Partikel des Menschen im Betttuch hängen bleiben und getrocknet vom Wind der Zeit nach unten fallen, wo sie Humus für neue Demokratie-Lügen bilden. Um solche Arbeitsflächen geht es bei den Animatographen.

CLAUS PHILIPP: Von einer V1 zum Humus? Das ergibt Ratlosigkeit, wenn nicht jeder, ob in einem Slum in Lüderitz oder in hiesigen Theatern, einen individuellen Weg findet und sich aus dem Angebot einen eigenen Film bastelt. Man sieht jedes Mal einen anderen, immer wieder neu geschnittenen Film, und man sieht vor allem immer seinen eigenen?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: So ist es, als kleine Anfangsstufe. Gerade weil es derzeit nicht vorgesehen ist, in kleinen Schritten zu gehen, wird das wichtig, im Sinn von „Lasst mir Zeit, ich brauche Zeit“.
Ich bin ein großer Fan von Dieter Roth, der ja lang in Island gelebt hat, wo mit Hilfe von Francesca von Habsburg der erste Animatograph entstanden ist, was ich gerne sage, weil sie eben auch den Dingen nachreist und sich informiert. Was sie sonst noch an Jet-Set-Gedanken im Kopf hat, ist ihr Problem. Dieter Roth jedenfalls hat am Arsch der Welt gelebt und vor sich hin gewerkt und irgendwann seinen Küchenboden ausgesägt und an die Wand gehängt. Da waren ein Spiegelei drauf, ausgedrückte Zigarettenkippen, Fettflecken. Das als Dokument von zehn Jahren, eine Zeiteinheit, die wir völlig verloren haben. Ob im Theater oder im Kino: Es fängt links an, hört rechts auf; da ist Anfang, da ist Ende. Ein grundsätzlicher Fehler. Von unserem Film aus Afrika kenne ich die Handlung nicht. Keiner der Schauspieler kann bis jetzt sagen, was er gespielt hat. Die Namen wurden permanent verwechselt: Freya, Fricka, Odin, Loki, Edda …

CLAUS PHILIPP: In Namibia, wo ich ein Mitreisender gewesen bin, wurden bei den Wellblechsiedlungen oberhalb von Lüderitz eine Drehscheibe und ein Container aufgestellt. Dieser Raum ist dann mit der Aufforderung eingeweiht worden: „Bringen Sie Dinge in diese Arche, wir werden hier ein Fest feiern.“

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Der Plan war aber nicht ein Ethno-Projekt, zu dem es in Berlin sofort die einschlägigen Reflexe gäbe – Farben mitbringen, sich Locken abschneiden – sondern Vorstellungen vom Reisen. Die griechische Sagenwelt entsteht aus dem Chaos. Da ist etwas gewesen, es wurde zerstört und wieder aufgebaut. Sagen des Nordens, wo der erste Animatograph entstand, gehen von einer Welt aus, die aus dem Nichts entsteht. Das Nichts von Etwas, das Etwas von Nichts – Adorno? Jedenfalls: Die Suche nach den verlorenen Bildern …
Ich fahre also nach Afrika, habe ein Drehbuch, habe einen Produzenten, ein Herz von einem Menschen: Frieder Schlaich, der auch die alten Filme von mir sammelt, herausbringt und restaurieren lässt. Er hat das mit der Filmförderung durchgebracht, kriegt aber für das Projekt keine Raten ausbezahlt, weil es nicht einmal eine Rohfassung gibt. Darauf sage ich, wir vergraben das Material, wie Bobby Beausoleil das Material von Kenneth Anger vergraben hat. Lasst den Film verschwinden, das Meer soll ihn wegschwemmen, und reden wir nur noch über die Bilder, die wir produziert haben. Es gibt ein paar Fotos, auch einige Zeichnungen. Das wäre tausendmal besser als wieder Vorspann und Nachspann, wie es die Produzenten wollen, um zu sagen: Dazwischen kannst du machen, was du willst. Ich will aber keinen Vorspann und keinen Nachspann. Wie kriege ich das in Schritten langsam hin? Wo kriege ich die Leute, wie kriege ich das Verbundsystem dazu? Das ist ein Gedanke, der langsam wächst. „Wie wird der Raum zur Zeit?“ – Das ist die Zentralfrage, die ich mir stelle. Um dem näher zu kommen, kann ich mittlerweile viele Leute, pansexuell veranlagt, wie ich nun mal bin, umarmen, selbst die übelsten Kritiker und alle Ignoranten dieser Welt. Wie also kann der Raum zu Zeit werden, wie kriege ich diese Zeiteinheit hin? Und nicht nur ich, sondern wir. Das ist das Neue – das immer schon da war.

MICHAEL KERBLER: Drehbühnen gäbe es ja da und dort; Sie transferieren aber diese Drehscheiben ins Theater?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Es ist halt kein Bühnenbild mehr. Es sind die Begehungen einer Kamera. Den Animatograph akzeptiere ich nur, weil er sich verselbständigt. Das Ding dreht sich, aus allen Ecken und Enden werden Filme projiziert. Wo anders als im Theater sollte das bei uns derzeit möglich sein? Die Zuschauer stehen drauf, gehen herum, finden es langweilig oder finden es toll. Das Ding dreht sich immer in einem bestimmten Rhythmus. Zwei Naturwissenschaftler haben uns dafür die Erdumdrehung errechnet. Weil eine Projektionsgeschwindigkeit von 25 Bildern pro Sekunde notwendig wäre, unsere Kamera aber nur 16 oder 19 Bilder pro Sekunde aufnimmt, gehen 9 bis 6 Bilder verloren. Die sind aber die interessanten, die der Animatograph durch immer wieder neue Kombinationen sichtbar machen kann. Übrigens sind die obersten Plätze, die Stehplätze, also die billigsten, bei uns die besten. Bei dem Gedanken geht es mir immer gleich besser. Die unten kommen sowieso und haben die Kohle. Das ist Stufe eins. Stufe zwei ist das Element des Theaters. Wir wollen auch für die Theaterzuschauer etwas bringen. Sie sollen den Text von Elfriede Jelinek noch mal nachschmecken können, die aus dem gleichen Grund schreibt, weshalb ich Bilder produziere. Diese Schleusen müssen offen gehalten werden. Bei uns sehen sie, dass diese ganzen Trennungsmechanismen nur aufgeflanschte Formelverfälschungen sind von Gesellschaften, die immer auf ihre Monopole pochen. Während sie herumgehen in einem fast dunklen Raum, werden sie Teil der Handlung, werden aus der Zentralperspektive herausgerissen, merken dass sich alles dreht, sehen es aber nicht.

CLAUS PHILIPP: Area 7 ist der für Ihre Aufführung Namen gebende Slum, in dem der Animatograph aufgebaut wurde. Im Unterschied zum viel verkommeneren Sand-Hotel Slum ist er eine neue Anlage auf dem ehemaligen Golfplatz der Kolonialbewohner von Lüderitz, mit riesigen Flutlichtmasten zwischen den Hütten …

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: … Er ist so angelegt, dass Touristen kurz vorbeischauen können, um eine etwas buntere Verwahrlosung zu sehen. Die Bewohner wurden dorthin evakuiert, weil sie angeblich eine Wasserleitung bekämen, was aber nicht wirklich der Plan ist. Wo sie den 11. September nachgespielt haben, mit den ihnen gegebenen Informationen, war unser Originalschauplatz, mit dem Animatograph, dem großen Schiff mit zwei Masten, an denen die Twin Towers hängen, und dem Container. Der indirekte Aspekt liegt für mich darin, dass die 3.000 bedauernswerten Toten in New York zu einer Paralysierung und zu einem Super-Flash geworden sind, der sämtliche andere Bilder verschüttet. 30.000 Tote in Afrika jeden Tag – die existieren nicht.
Es weiß auch niemand, was ich an der Grenze von Simbabwe zu Südafrika festgestellt habe, dass in einer Ausgrabungsstätte 2.300 Jahre altes chinesisches Porzellan gefunden wurde, es also damals schon Handel mit China gegeben hat. Was findet man aus dieser Zeit bei uns in Gräbern? Selbst sich über solche Relationen zu wundern ist abhanden gekommen. Und wenn ich mich jetzt auf Wagner einlasse, merke ich immer, was diese Monopolisten, die Wagnerianer, wie sie sich nennen, größtenteils für Vollidioten sind, die Wagner auf ein ganz enges Konzept reduzieren. So geht es einfach nicht. Die Kundri trägt einen Schlangenrock, der bis zum Boden geht, sagt die Beschreibung; sie kommt also aus Afrika. Europäische Schlangen reichen nur bis zum Knie. So muss man das mal lesen.
Deshalb unser Angebot von Wundertrommeln. Damit bin ich wieder beim Film, beim Praxinoskop, bei Werner Nekes, wo ich meine Sozialisation hatte und die Filmgeschichte auf eine ganz eigene Art und Weise kennen gelernt habe. Im Moment, in dem man dann nach außen tritt, und seine Augen und Ohren noch halbwegs offen hat und das Gehirn noch angeschaltet ist, denkt man dann vielleicht: Das, was die da vorne als Theater präsentieren, ist ja dem und dem ähnlich. Da gibt es analoge Beziehungen, Reflektoren. Das ist der Moment – ich stehe vor der Kamera; ich bin in der Kamera. Ich stehe vor meiner Welt – ich bin in der Welt. Ich trete in meinen eigenen Film.

MICHAEL KERBLER: Wann ist denn dieser Effekt eingetreten, als Sie feststellten, dass sich mit dem Medium Film mehr machen lässt, als nur fiktive Ausschnitte von Realität abzubilden?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Auslöser war wieder einmal ein Fehler. Mein Vater hat alles gefilmt, die Geburtstagsfeiern, Kind in der Badewanne, Familie im Schnee und so weiter. Er hatte eine Doppel 8-Kamera; der Film musste unter der Bettdecke oder in einem dunklen Raum umgedreht und wieder eingelegt werden und wurde dann in die andere Richtung belichtet. Ich durfte auch filmen und habe einmal aus Versehen den Film zweimal in der Kamera umgedreht. Wegen der Doppelbelichtung ist dann plötzlich einer über den Bauch von jemand anderem gelaufen. Das fand ich toll. Das habe ich auch den Leuten vom Energiekonzern E.ON gesagt, die mich eingeladen haben: Wenn Ihre Firma funktionieren soll, müsste es möglich sein, das übereinander zu legen, und sich dennoch als Mensch wiederzuerkennen. Wenn Sie den Menschen noch entdecken, haben Sie Glück gehabt, dann ist das noch akzeptabel. Damit können Sie jeden Betrieb und jedes kapitalistische System überprüfen! Legen Sie alle Firmen übereinander. An der Stelle muss man ansetzen.

CLAUS PHILIPP: Wenn ich mir das jetzt vorstelle: E.ON macht ein Management-Assessment-Center und Sie erzählen den Leuten dort aus Ihrer Erfahrungswelt. Wird da wirklich jeder bis zum Vorstandsvorsitzenden dasitzen, verständnisvoll nicken und sagen: „Hochinteressant. Eine ganz tapfere, kreative Perspektive. Das setzen wir jetzt um.“ – Solche Beratungen werden aber doch wahrscheinlich nicht ernst genommen?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Dort darf man natürlich nicht hingehen, wenn man ein guter Linker ist. Ich mache aber solche kleinen Schritte, um Zeit zurück zu gewinnen. Ich habe den Leuten gesagt, dass ich mit ihrer Vermarktung von Atomkraft nicht umgehen kann und die Trennung zwischen Naturenergie und Atomkraft wirklich als faires Spiel sehen will. Was in meine Wohnung fließt, können sie ja nicht separieren. Weil ich deren Namen so oft genannt habe, bestellt wohl keiner mehr Strom bei ihnen. Trotzdem ist das für mich interessant gewesen, denn ich habe kapiert, wie so ein Unternehmen funktioniert. Es geht darum: Wir haben keine Zeit. Du musst deinen Job verteidigen bis aufs Messer. Der fortschrittlichste Gedanke wäre, wenn einer, dem die Kündigung droht, selbst kündigt, als Chance zu sagen: „Ich treffe die Entscheidungen. Ich warte nicht …“ Klar, dann ist der Versicherungsschutz weg … Aus meiner Sicht stoßen wir damit auf die alte Frage: Kunst im Gehege oder Kunst draußen. Jeder Mensch ist ein Künstler … jeder Künstler ist ein Mensch … Würde ich da nicht hinfahren, nicht Dirk Baeckers Postheroisches Management lesen, nicht mit Carl Hegemann zu tun haben und solchen Leuten, wäre ich nie auf Sätze gestoßen, wie jenen von Tom Peters: „Wenn Sie alles unter Kontrolle haben, fahren Sie noch nicht schnell genug!“

CLAUS PHILIPP: Genauso wie es den Satz von Peters gibt: „Macht mehr Fehler, und macht sie schnell!“

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Genau: „Macht den Chef zum Pförtner, und den Pförtner zum Chef! Es passieren 100 Fehler, aber zwei davon sind so produktiv, dass das Unternehmen davon profitieren wird.“

CLAUS PHILIPP: So wie bei Ernst Messerschmidt, der phasenweise alles auf dem Kopf stehend sieht.

MICHAEL KERBLER: Wie groß war denn bei E.ON die Versuchung, die Leute zu verarschen, was Sie ja nie tun?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Wenn ich das könnte, wäre ich nicht glücklicher, als wenn ich es nicht mache. Es sitzen eben Leute seit zwanzig Jahren auf dem Sofa, und vorne am Bildschirm läuft einer rum. Darüber entrüsten sie sich maßlos und sitzen weiter auf dem Sofa. Das ist das Prinzip dieser Gesellschaft. Da kann ich nicht mitmachen. Tut mir leid. Das brauchen wir nicht. Im schlimmsten Fall funktioniert das später so. Man legt niemanden herein. Man denkt darüber nach, warum sich Sachen nicht über Kreuz denken lassen, warum es Dinge gibt, die man denken darf, die ansonsten aber nicht mehr erlaubt sind. Das ist so wie mit Theaterkritikern, die nur kommen, um mir zu sagen: „Na ja, Theater war schon mal weiter.“ Meine Antwort: Theater ist verdammt noch mal noch nie von der Stelle gekommen, es ist eine stillstehende Anlage – die zur hochgradig interessanten Versuchsanlage werden kann.

CLAUS PHILIPP: Sie erleben doch den permanenten Switch. Einerseits ist da der Beurteilungsraum für Filme. Theaterkritiker erfinden aber Bewertungskriterien, wie man Schlingensief als Bühnenregisseur zu sehen hat.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Wer macht das schon? Nur die wenigsten tun das. Die meisten Theaterkritiker gehen auch nicht ins Museum, gehen nicht in die Oper, gehen nicht einmal auf die Straße. Sie schreiben bloß Aufsätze darüber, dass es geregnet hat, und sie armes Schwein sich schon wieder so etwas anschauen mussten. So kommen sie auch noch in Theaterjurys.

CLAUS PHILIPP: Und wie ist das mit Kritikern bildender Kunst?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Die sind genauso; sie fliegen nach Miami, trinken Champagner und finden sich toll. Wenn ich in der Schilderung nicht die Begeisterungsfähigkeit der Person spüre, kann es nichts bringen. Es sind diese Fließbandtechniker, die den Blick der Zuschauer verbauen. Kritiker ist ein auslaufendes Modell. Ein Forum im Internet dagegen ist das Leben …

MICHAEL KERBLER: Inwieweit bedenken Sie mit, welchen Eindruck Zuschauer von Ihrer Arbeit mitnehmen könnten? Über Ihre Absichten
wird ja immer wieder gerätselt.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Nehmen wir dazu folgende Situation als Vergleich: Sie wollen mit jemandem Sex haben und nun diskutieren Sie erstmal, wer am Anfang oben liegt. Wollen wir zuerst mit den Fingern dieses und jenes …? Was stellst du dir vor? Da kommt es zu gar nichts mehr! Das wird ein unmöglicher Abend. Es gibt eben Dinge, die ertastet man einfach, die schmeckt man, riecht man, fühlt man. Plötzlich passiert etwas, und das reicht auch erstmal.
Warum müsste ich also sagen: Passen Sie auf, es wird Folgendes geschehen… Und am Ende sind Sie ein geheilter Mensch, der fliegen kann, Sie haben Eselsohren, und hinten kommt Gold raus. Das ist für mich nicht der ideale Betrachter. Dann doch lieber Artaud und einer der taub geworden ist, oder jemand, der einfach sagt: „Nö, ist für mich nichts. Ich geh lieber in die Oper in Wien zum Holender. Das ist meine Welt.“ Das ist alles akzeptabel. Ich bin für die Vielfalt zuständig. Was ich von Beuys und Roth gelernt und übernommen habe, ist, zu sagen: Ich baue etwas und übergebe es irgendwann. Man kann zusteigen, man kann sich auch einbringen, ohne deswegen beklopft zu sein.
Eine alte Frau in Kassel freut sich heute vielleicht über Beuys, weil sie von den 7.000 Eichen etwas hat. Das sind alles kleine Sachen, aber wichtig in dieser Zeit. Darum geht es. Und nicht darum: Um 22.00 Uhr ist Schluss, und dann will ich schnell eine Kritik, will wissen, ob Daumen rauf oder Daumen runter. In vielen meiner Vorstellungen hat am Ende keiner mehr applaudiert, nicht mal ein müdes Buh gab es. Wir sind einfach rausmarschiert, haben kurz die Hand gegen das Licht gehoben, um zu sehen, ob überhaupt wer da war. Es gab auch solche, wo am Ende alle getobt haben. In Bayreuth sind mir teilweise die Haare nach hinten geweht vor lauter Buhrufen. Das sind alles bewahrte Erlebnisse, Belohnungen, schöne Momente, schreckliche Momente, peinliche Momente. Aber was der Einzelne für sich mitnimmt, ist sein Geheimnis. Es wäre schon genug, wenn das ein Lufthauch ist, der Gehirnströme berührt. Das hört sich banal an, aber warten Sie mal ab.

CLAUS PHILIPP: In Namibia wurde ein um 4.000 Rand gekauftes Schiff von 20 Arbeitern und von Wotan, Jesus und Patti Smith den Berg hinaufgezogen, so wie es Fitzgeraldo nicht geschafft hat. Das alles ohne Zuschauer, so als ob Sie das nur für sich selbst machen würden, des Ereignisses wegen. Nitsch hätte 500 Euro Eintritt verlangt, wenn es ihm gelänge, Derartiges in Prinzendorf durchzuziehen.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Hermann Nitsch ist interessant. Das ist jemand, den ich mag. Das hört er vielleicht nicht so gerne, weil ich im
Gegensatz zu ihm ja angeblich so unglaublich politisch bin. Was er macht, ist ein Erlebnis von Polis, von Gemeinschaft. Man irrt vielleicht fünf Stunden herum und fragt sich am Ende: „Was ist denn da passiert?“ Es ist toll, dass das auch im Burgtheater stattgefunden hat, da kann ich dem Bachler wieder einmal nur gratulieren. Die Volksbühne in Berlin hätte das nur durchgewinkt und gesagt: „Was soll denn der Nitsch jetzt hier? Das brauchen wir derzeit nicht.“

MICHAEL KERBLER: Wie ein Vereinsmeier gründen Sie ununterbrochen Vereine, die Bahnhofsmission, die Arbeitsloseninitiative, die sie ja auch baden geschickt haben, oder die Church of Fear. Kann man, so wie es Claus Philipp in einem Artikel zusammengefasst hat, sagen, das alles ist die Church of Christoph Schlingensief ?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Die Sandler-Station war nicht Christoph Schlingensief als Sozialunternehmen, sondern einfach der Versuch, damals in Hamburg, eine Polizeistation beim Bahnhof umzufunktionieren. Dort waren zwei Leute umgekommen und ziemliche schlimme Sachen zwischen Heroinabhängigen, Obdachlosen und der Polizei passiert. Die Station wurde aufgegeben und so konnten wir in ihr eine Bahnhofsmission eröffnen. Kommunikation und Kontakt kann durch Suppe, Tee und ein Mikrophon entstehen. Man braucht nur diese drei Sachen. Jeder darf da sagen, was er will. Unser Benefizabend dauerte sechs Stunden. Irm Hermann und unser Tagesthemenmoderator schliefen irgendwann auf der Bühne ein, das Publikum saß rum. Gleich zu Anfang hieß es, das sei völlig uneffektiv, bringe doch kein Geld für die armen Leute. Ich habe auch kein Geld gefordert, ich habe Autonomie für die Leute gefordert. Alles wurde schließlich übergeben und existiert als autonome Einrichtung immer noch.
Und Chance 2000 war eine Partei zu einem Zeitpunkt, zu dem wir zehn Jahre diesen dicken Mann da hatten, der am Ende immer unerträglicher wurde. Es war der Punkt erreicht, wo man gedacht hat: „Bitte jetzt nicht mehr. Der muss weg. Wir haben sechs Millionen Arbeitslose, die aber nicht vorhanden sind. Sie tauchen nicht mehr auf in der Gesellschaft.“ Also gingen wir daran, im Theater, also innerhalb eines Schutzbereichs, eine Plattform zu bauen – eine Partei für die Minderheit, die aber die Mehrheit hat. Sie wurde als „Spaßpartei“ angegriffen, was angesichts von Spaßvögeln wie Westerwelle oder dem Showstar Schröder grotesk ist. Gerhard Schröder: Die größte Enttäuschung der 68er. Unsere Zentralforderung war, dass ein Sozialhilfeempfänger das Recht bekommt, im Bundestag zu sprechen – also wiederum bewusst ein kleiner Schritt.
Auch unsereiner hätte genug zu sagen. Wann aber sind Boris Groys, Peter Sloterdijk, Bazon Brock, Carl Hegemann oder ich schon gemeinsam im Fernsehen zugelassen? Wir könnten Abende füllen, wild herumdiskutieren. Daraus ergäbe sich etwas. Es müssen Bilder erzeugt werden. Das war immer die Idee meiner ganzen Arbeit. Ich habe immer aus Bildern gelebt, und nicht aus dem Gedanken heraus, dass ich irgendwann mal den Eltern eine Briefmarke mit meinem Porträt zu Weihnachten schenken kann.
Dass ich jetzt die Chance habe, in andere Länder zu reisen, wo mich keiner kennt, wo niemand weiß, was ich gemacht habe, halte ich für ein großes Glück. Da entsteht etwas mit den Leuten, und ich gerate an Punkte, wo ich Insekten, Schmetterlinge, Dreck sammle, tiefste Enttäuschung einsammle, die ich dann mitbringen kann in ein Land, das letztendlich nur aus Fatalismus besteht: „Wird sowieso nichts, ist nichts, war nichts“ – das ist einfach nur negativ. Das Negative irgendwie wieder ins Positive zu wandeln, kann nur bedeuten, zu zeigen, was verpasst wird, wenn man auf diesem Punkt von Negativismus stehen bleibt. Das ist wieder Artaud. Das ist eine Triebfeder, obsessiv. Die kann man nicht abbrechen.

CLAUS PHILIPP: Wie lange kann es Ihrer Meinung nach noch damit weiter gehen, im Dienste von Produzenten, im Dienste der großen Institutionen zu arbeiten? Müsste man – wie Richard Wagner – nicht sein eigenes Bayreuth gründen, und wie würde das aussehen? Wäre das heute ein Reisebüro, mit dem man alle möglichen Destinationen dieser Welt ansteuern kann oder eine Art Projektagentur?

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Das ist schwer zu beantworten, weil ich an dem Punkt noch lange nicht bin. Vorerst geht es darum, sich in diesem Dahinfließen zu bewegen und etwas zu sammeln. Ich habe in Island bei Holmur, in der Nähe, wo Dieter Roth gelebt hat, einen einsamen Ort, der nennt sich „Das Horrorhaus“, „Horrorhaus der Obsessionen“. Dort möchte ich irgendwann die Animatographen aufstellen, an der Erdspalte, wo sich Europa jedes Jahr acht Zentimeter von Amerika wegbewegt. Das fänd’ ich sehr schön, wenn sie diese Lücke ausfüllen würden. Da ich inzwischen Leute gefunden habe, die mir ermöglichen, solche Sachen zu machen und wir mit Tobi, Aino, Henning und Jörg, Maika und Kathrin einfach als gutes Team unterwegs sind, können wir sammeln und bauen und präsentieren, wo immer wir dafür eine Offenheit finden. Das ist großartig, ein Weg der kleinen Schritte. Und dann kehre ich vielleicht irgendwann zurück und sage: Lasst uns das nochmals alles zusammenholen, bevor ich abtrete. Fahr’ mich mit dem Rollstuhl durch. Dann schaue ich mir das noch einmal an. Oder aber ich bin bereits blind, wie mein Vater und dessen Vater. Dann drehe ich die Scheiben, höre die Töne aus verschiedenen Himmelsrichtungen,
kann mir vielleicht ungefähr vorstellen, wo die Monitore stehen. Möglicherweise hat dann aber eine Fremder schon heimlich was umgebaut
hinter meinem Rücken, und ich glaube immer noch, ich sehe mein eigenes Bild, aber es ist eigentlich schon das Bild von anderen. Und dann ist
ein Traum erfüllt.

Komprimierte, von Christian Reder redigierte Fassung eines am 11. Dezember 2005 im RadioKulturhaus Wien aufgenommenen und am 15. Dezember 2005 in Ö1 gesendeten Beitrags zur Reihe Zeitgenossen im Gespräch. Transkription: Sarah Wulbrandt

Aus: Lesebuch Projekte
Vorgriffe, Ausbrüche in die Ferne

Hg.: Christian Reder
Edition Transfer bei Springer Wien New York 2006

Lesebuch Projekte Beiträge von Alexander Kluge, Peter Sellars, Zaha Hadid, Anselm Kiefer, Wolf. D. Prix / (Coop Himmelb[l]au), Brigitte Kowanz, Fons Hickmann, Christoph Schlingensief, Manfred Faßler, Bernhard Kleber, Elfie Semotan, Dirk Baecker, Reinhard Dörflinger (Ärzte ohne Grenzen), Barbara Rhode, Gerald Bast, Gabriele Werner, Burghart Schmidt, Martin Bergmann / Gernot Bohmann / Harald Gründl (EOOS), Ulrich Beckefeld, Walter Holzer, Gottfried Spitzer / Angelika Schindler (Deloitte Auditor), Eva Blimlinger, Robert Misik, Erich Klein, Ernst Strouhal, Claus Philipp, Brigitte Felderer, Boris Manner und Christian Reder

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