CHRISTOPH SCHLINGENSIEF, AREA7, BURGTHEATER WIEN (Artforum)

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Die AREA7-Rezension aus dem US-Kunstmagazin Artforum in deutschsprachiger Version

Von Sabine B. Vogel

Spätestens seit seiner Inszenierung von Richard Wagners Oper „Parzifal“ gilt Christoph Schlingensief den einen als Provokateur und enfant terrible der Theaterwelt, den anderen als zeitgenössischer Nachfolger Joseph Beuys´. Denn was Beuys der erweiterte Kunstbegriff war, führt Schlingensief als erweiterten Theaterbegriff weiter – und das ist ihm jetzt im Wiener Burgtheater in „Areal 7 – Matthäusexpedition“ noch weitaus radikaler gelungen als im Bayreuther „Parzifal“. Basierend auf Johann Sebastian Bachs Oper „Matthäuspassion“ greift Schlingensief aus der Vertonung der Kreuzigungsgeschichte nur einen einzigen Aspekt heraus: die Frage der Erlösung – und inszeniert einen Parcour der „Unerlösbarkeit“.

Wie in all seinen Werken, seien es die TV-Talkshows, Theaterstücke oder Filme, ist auch seine „Matthäusexpedition“ von einer tiefen Abneigung gegen eine geschlossene Handlung getragen. Dafür bricht er auch hier mit allen Konventionen und zerstört zunächst einmal den regulären Ablauf des Theaters. Statt ´Einlass, Hinsetzen, Zuschauen, Pause etc.´ müssen sich die Besucher ihre Zeit selbst gestalten. Festgelegt ist lediglich der Termin ihrer „Führung“: Bühne und ein Teil des Zuschauerraums im Parkett sind umgewandelt in eine riesige, begehbare Installation, die nur in kleinen Gruppen erkundet werden darf. Betont nachlässig zusammengebastelt aus Latten, Brettern und Leintüchern, vollgestopft mit Unmengen von Monitoren und Requisiten, mit Erde und Teppichen auf dem Boden, stolpert man von einem Raum in den anderen, zwängt sich an einer riesigen Maske, an Betten, Kinderwagen und Regalen voller Hasen vorbei, duckt sich durch niedrige Türlöcher und kämpft gegen die eigene, wachsende Hilflosigkeit ob dieser semantischen Kakophonie. Die Maske sei Beuys´ Totenmaske. Im offenen Mund läuft das Video des verwesenden Hasen, das bereits im „Parzifal“ eindrucksvoll zum Einsatz kam. Hier ist „das Geburtszimmer, wo die Mythenlegende beginnt“ (CS). Es folgt ein Raum namens „Steigenberger“, „wo die Mythen besprochen werden“. Hier finden kurze Auftritt statt, von Michael Jackson, einen Abend auch von Bazon Brock, vor allem aber von der Rock-Ikone Patti Smith – im freien Wechsel zwischen Schauspielerei und Wirklichkeit.

Kaum zu sehen vom Zuschauersaal ist im hinteren Teil der Bühne der „Animatograf“, eine sich manchmal drehende Installation mit „Ur-Clo“, „Kreuzweg“, einem „Myonenregen“ und einem Schiff mittendrin. Dieses Schiff stammt aus Namibia, wo Schlingensief mit seinem Team zuletzt stationierte und eigentlich einen Film drehen wollte. Der Film gilt als gescheitert, aber mehr als 100 Stunden Rohmaterial und auch das Original-Schiff bereichern die Wiener Installation. Und auch der Titel verweist auf Namibia: Areal 7 ist ein Township nahe der ehemaligen Kolonialstadt Lüderitz in Namibia.

Es ist unmöglich, Schlingensiefs Erklärungen zu den einzelnen Stationen zu referieren, zu viele Bilder und Worte vermischen sich in einem höchst freimütigen Umgang mit Sinn und Logik. Es entsteht ein Paralleluniversum mit Versatzstücken, die uns durchaus bekannt sind, Mythen und Modelle bis hin zu Schrödingers Katze, hier umgewandelt in einen Hasen. Dazu mischt Schlingensief Referenzfiguren aus der bildenden Kunst, allen voran Beuys und Dieter Roth, aber auch Andy Warhol, in „Areal 7“ gespielt von Fassbinder-Ikone Irm Hermann, dazu noch Verkörperungen von Leni Riefenstahl, Jonathan Meese und Hermann Nitsch. Einen losen Zusammenhang schafft einzig die Behauptung dieses „Animatografen“. Ursprünglich von dem britischen Filmproduzenten Robert W. Paul am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt, ist damit ein Apparat bezeichnet, der bewegliche Fotografien auf die Bühne projiziert. Schlingensief geht allerdings noch einige Schritte weiter: In seinem „Animatographen“ ist alles in Bewegung, nicht nur die Bilder, auch die Installation, die durch neue Durchbrüche, veränderte Wegführungen und ausgetauschte Requisiten Abend für Abend verändert wird. Abgeschlossen ist hier also weder die Handlung noch der Bühnenbau, nicht einmal die Aufführung an einem Ort. Mit dem „Animatographen“ tourte Schlingensief beginnend mit „Parzifal“ bereits nach Island, Neuhardenberg, dann kam Namibia und jetzt Wien, weitere geplante Stationen sind Brasilien und der Himalaya. ´Bühne´ ist also in Schlingensiefs „erweitertem Theaterbegriff“ kein definierter Ort mehr, sondern die ganze Welt. Oder aber ganz abstrakt gesehen ein „Energiefeld“, wie er es formuliert – und das verlangt eben nach pausenlosen Veränderungen und Transformation!