ICH GIEßE MEINE SOZIALE SKULPTUR (THEATER HEUTE)

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Christoph Schlingensief über seine Krebserkrankung, die Bedeutung des Sprachflusses, Joseph Beuys, und warum das Christentum eine Riesenfreude sein könnte

In der Berliner Wohnung Laberenz/Schlingensief. Christoph Schlingensief kocht Tee.

CHRISTOPH SCHLINGENSIEF Das ist ein Antikrebstee aus Japan …

EVA BEHRENDT Im Ernst?

SCHLINGENSIEF Nee. Du kriegst ganz viel so Zeug, Teufelskralle, Katzenkralle, davon zwei Liter am Tag trinken, und dann geht der Krebs zurück. Mir wurde Hypnose angeboten, ein Apotheker hat mir ein komplettes Mineralien-Sortiment geschickt. Manche wollen Geschäfte machen, aber alles was hilft, ist okay.

EB Wird man automatisch zum Spezialisten, wenn man an Krebs erkrankt?

SCHLINGENSIEF Krebs, das merkt man sehr schnell, ist nicht universell. Er ist bei jedem anders. Das macht die Sache auch so gefährlich, weil man immer lernt: Tust du das, passiert das. Tust du dieses, passiert jenes. Ich habe meist etwas anderes erlebt, als man mir erzählt hat. Bei meiner ersten Chemopackung passierte drei Tage nichts. Sich übergeben, Haarausfall, das ist bei mir alles nicht passiert. Stattdessen hat die Seele unglaublich protestiert, die Zellen haben geschrieen. Alles hat getobt in mir. Es gab keinen Ausweg, keine Fluchtmöglichkeit, das Zeug war in mir drin. So stelle ich mir die Hölle vor. Deshalb meine ich auch, jetzt ist es erstmal überstanden. Was das Sprechen, das Handeln, das Tun betrifft: Ich hab nicht mehr diese kindliche Unschuld, die ist weg. Ich überlasse diesen Krebs nicht der Schulmedizin. Es wird besser, wenn ich mich nicht drum kümmere. Am liebsten würde ich jetzt ein halbes Jahr lang spazieren gehen und Leute besuchen. Ich hab sogar Lust, Proben anderer Regisseure zu besuchen. Da hätte ich mich früher nie drum geschert.Umgekehrt sind die Leute ein bisschen geduldiger mit mir. Ich kann eher zugucken, auch bei den eigenen Proben habe ich Glücksgefühle. Früher bin ich da immer gleich reingerannt, hab alles vorgespielt, am liebsten alle Rollen übernommen. So wie bei «Attabambipornoland ». Da waren lauterWeltstars auf der Bühne. Und wer hat 90 Minuten lang gesprochen? Ich! Horror.

EB Als Künstler soll man – zumindest nach altem romantischem Künstlerbild – aus sich selbst schöpfen. Geht das auch in der Kollektivkunst Theater?

SCHLINGENSIEF Unabhängigkeit muss man sich leisten können. Wie Paul McCarthy oderMatthew Barney. Die haben ihren Fundus an Material, ihre Werkstätten und Mitarbeiter, sind selbständige Unternehmer. Theater ist ja eine seltsame Veranstaltung. Je näher die Premiere rückt, umso mehr Leute schauen drauf. In Duisburg konnten wir eine Woche vor der Premiere schon eine Art Durchlauf machen. Eswar ein großerGlücksfall, dass ich mit so vielen alten Freunden arbeiten konnte. Die Behinderten waren wieder dabei, Carl Hegemann, Voxi Bärenklau, das alte Team. Dann habe ich fast fünf Tage nur darauf verwandt zu gucken, welche Filme in welcher Kombination mit derMusik laufen. Diese Konzentration und Geduld habe ich früher nicht gehabt, da musste das alles immer live und spontan passieren. Gleichzeitig hätte ich in meinem geschwächten Zustand ohne die Hilfe von Aino (Laberenz), Sophia (Simitzis), Meika (Dresenkamp) und Anna (Heesen), die teilweise auch die Regie übernommen haben, gar nicht arbeiten können. Auch Margit Carstensen war eine große Hilfe. Die fand es falsch, aus den Texten Szenen zu bauen. Ich hatte ja anfangs die Idee, daraus eine Komödie oder einen Spielfilm zu machen.

EB Komödie? Klingt makaber.

SCHLINGENSIEF Lachen war auf der Station so selten geworden. Das gabs überhaupt nicht. Als mir im Krankenhaus eine verrückte Frau vor die Zimmertür gekackt hat, da hab ich zum ersten Mal wieder gelacht, und zwar so, dass ich meine Narben festhalten musste. Alle dachten, jetzt ist er durchgedreht. Margit hat mir durch ihr komisches Sprechen meiner eigenen Texte bewusst gemacht, dass das alles auch sehr absurd ist. Und ich wollte ja auf keinen Fall nur auf die Tränendrüse drücken. Sie war auch dabei, als ich meine Lungenembolie bekommen habe, was dann bei der einen Seite, die ich nur noch habe, blöd ist. Da war sie hier auf dem Balkon eine rauchen, und ich bin drinnen fast erstickt. Als sie zurückkam, hatte ich schon in die Hose gemacht.

EB Dokumentieren Sie sich in allen Lebenslagen selbst?

SCHLINGENSIEF Überhaupt nicht. Bei mir ist es wichtig, dass dieser Sprachfluss dabei ist. Vor allem abends. Ich hab Angst gehabt ab 17 Uhr. Da kamen die Geister wie so Figuren angeflogen.Mir wurde kalt von unten nach oben. Unbeschreiblich. Da gibt es ein unglaubliches Stimmengewirr, nicht, weil ich irre bin, aber das muss dann raus. Das Ding (Tonbandgerät) war derMülleimer. Ich hab da mein Mantra so reingeredet.Wahrscheinlich werden dabei irgendwelche Endorphine ausgeschüttet. Auch im Krankenhaus habe ich immerzu erzählt und Gedanken formuliert. Am Morgen, als der Professor fürAnästhesie kam, hab ich schon schwadroniert. Irgendwann sah ich sie tuscheln und auf die Geräte gucken. Da stellten sie fest, dass das Morphium ausgefallen war. Aber ich hatte vor lauter Erzählen und lautem Denken keine Schmerzen! Auch in den OP-Raum bin ich wie zu einem Auftritt gefahren.

EB Das hört sich wie Psychoanalyse ohne Analytiker an …

SCHLINGENSIEF Egal ob mit oder ohne. Ich halte eigentlich von beidem nichts. Ich habe ja immer in Hochgeschwindigkeit gearbeitet und ein Riesenglück gehabt. Und dann sagt einer innerhalb von zehn Sekunden: «Das sieht aber scheiße aus.» In demMoment – dong – ging so ein Hitzeschlag durch mich durch. Da war eher die Frage: Was kann ich tun? Da hab ich, noch bevor ich operiert wurde, das Buch zur «Johanna»-Inszenierung in zwei, drei Nächten wie ein Wahnsinniger bearbeitet. Ein Freund meinte: «Jetzt lass das doch mal, erstmal die Krankheit!» Aber ich habe gemerkt, ich muss es machen, solange ich es noch spüre. Genau wie in Duisburg. Da durfte ich plötzlich wieder fühlen und entscheiden, handeln und analysieren. Bei den nepalesischen Verbrennungsritualen gehört auch alles zusammen, Leben und Sterben. Das hat mich magisch angezogen.

EB Es gab also schon eine Sehnsucht, das Erlebte in Kunst einzuspeisen?

SCHLINGENSIEF Ich habe gerade eher dasGefühl, die Bilder haben das Erlebte vorweggenommen. Ich entdecke erst jetzt, dass das schonmal da war als Angst, die sich nicht formuliert hat. Der Krebs ist für mich nicht nur ein chemischer Unglücksfall, sondern auch ein spirituelles Ding. Das hat ein Gesicht. Der Krebs ist in der Zeit entstanden, als ich mich um das Weltabschiedswerk von Herrn Wagner gekümmert hab und umErlösung. In meinen Geschichten– «Kühnen », «Parsifal» – gibt’s immer Verweise auf die Erlösungsfrage, gottseidank nicht immer ernst, weshalb «Das deutsche Kettensägenmassaker» auch ein lustiger Film ist. Aber Wagners Todessehnsucht hab ich mir komplett angezogen. Und selbst nach der Operation musste ich mir wie im Wahn den «Thementag Tod» auf 3sat ansehen. Da ging es ums Sterben, aber auch um die Veränderungen, diese kleinen Schritte, die den Abschied nicht mehr ganz so schmerzhaft machen.

EB Es gibt in «Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir» sehr persönliche Momente. Sie als Kind im Super8-Film, direkt nach der Diagnose auf Tonband, weinend imVideo und live als Jesus, der das Abendmahl austeilt. Haben Sie keine Angst, sich so zu offenbaren?

SCHLINGENSIEF Carl Hegemann hat drüber philosophiert, ob die Leute nachher nicht denken: «Jetzt hat er sich ausgeweidet.» Ich hab dann immer gesagt: Die Fluxusfilme sind für mich wichtiger. Das ist genau diese Ecke von Werner Nekes, wo ich herkomme. Das andere ist der sich wahnsinnig selbst liebende Künstler, der bürgerlich das Klavier zersägt. Darin steckt ja auch die Vorstellung vom Leben als Fluss, der Wunsch, dass Kunst und Leben zusammenkommen. Allein der Vorsatz ist schon Schwachsinn. Daran ist auch Beuys mit seinen Jüngern krepiert. Du kannst das nicht lehren und praktizieren. Die Hauptgedanken von Beuys sind tatsächlich in der Sprache passiert.
Ich versuche ja auch gerade, Sprache nicht nur zu nutzen um zuzuballern. Früher habe ich mich danach gesehnt, in den Situationen aufzugehen, mich zu verlieren. Jetzt gucke ichmit großer Ruhe und Distanz drauf. Manchmal ist da beängstigend wenig Gefühl, bevor es doch wieder ausbricht aus dem Fundus der Bilder. Da merke ich, dass ich die Erfahrungen doch nicht ganz abgeben und sagen kann: «Jetzt habt ihr das Problem an der Backe, tschüss bis zur nächsten Krankheit.»

EB In der «Kirche der Angst» haben Sie auch erzählt, dass Sie sich selbst nicht richtig lieben können, haben von der Utopie des Autonomseins gesprochen. Da dachte ich, dass es schon ganz schön Abstand zu sich selbst braucht, um das, was man in einer existenziellen Situation empfunden hat, als Material für Kunst zu benutzen.

SCHLINGENSIEF Ich glaub auch, dass man das in der Kunst braucht. Ich wünsch ja keinem die Erfahrung von Krebs, damit er sich wieder fühlen kann. Eine Psychotherapeutin im Publikum meinte, es sei unglaublich, dass ich so drauf bin. Normalerweise würden die Krebspatienten lange mit sich ringen. Da hab ich gesagt: «Ich gieß ja jetzt gerade auch diesen Krebs in eine Form.» Ich gieße gerade meine soziale Skulptur. Ich bin der Bildhauer. Und ich arbeite am erweiterten Krankenbegriff.

EB Der Begriff «soziale Plastik» stammt auch von Beuys. Wie wichtig ist Beuys für Schlingensief?

SCHLINGENSIEF Ich hab ihn mit 16 als Zuhörer kennengelernt, als ich mit meinem Vater im Essener Lions-Club einen Vortrag von Beuys über die Entwicklung der Marktwirtschaft gehört habe. Da sagte er, dass das Gesellschaftssystem in sieben Jahren komplett zerstört sein würde. In dem Moment sind alle älteren Herren, die vorher eingeschlafen waren, aufgewacht und haben ganz laut gebellt. Das hab ich mir gemerkt. Als ich die Partei «Chance 2000» hatte, sind Beuys-Leute wie Stüttgen oder Rappmann auf mich zugekommen undmeinten, «Wähle dich selbst!» wäre von ihnen gewesen. So kamen wir ins Gespräch. Ich finde Beuys wichtig in meinem Leben, aber ich hab auch meine Zweifel. Vielleicht hab ich ja noch die Gelegenheit, ihn komplett umzudeuten. Auf jeden Fall ist er ein Schlüssel für die Auseinandersetzung mit Kunst in der Gegenwart.
Weil die Kunst in der Gegenwart sich das Denken nicht mehr richtig leistet, außer vielleicht mit Meta-Meta-Aufsätzen, die ich nicht lesen will. Er hatte als einer der ganz wenigen begriffen, dass Kunst Denksysteme ins Wanken bringen kann. Und im besten Fall durfte ich so etwas auch in meinerArbeit erleben. Bei Beuys konnte auch der Normalmensch einfach einsteigen, sei es, weil er wütend war, sei es, weil man die Ahnung hatte, der Typ weiß viel und hat ein Herz. Das sind einfach gute Faktoren, die ich in der Kunst ganz oft vermisse. Ich mag an Beuys, dass gedacht wurde.

EB Wird denn, wer seine Wunde zeigt, geheilt?

SCHLINGENSIEF Das mit derHeilung ist so eine Sache. In den Talkshows haben wir ja genug Leute, die angeblich ihre Wunde zeigen. Aber meist haben die schon meterdicke Verbände drüber. Medienkritik ist dabei gar nicht mein Thema. Es gibt Stoffe, da vermutest du auf den ersten Blick, dass hier mit Kalkül gearbeitet wird. Auf den zweiten Blick merkst du, dass das etwas ist, das sich musikalisch mit dir verbindet, dadurch plötzlich auch mit dir zu tun hat und deshalb auch deine Fragen mit in den Raum wirft. Nicht unbedingt die Antworten. Vor einem Jahr habe ich auf dem Theater noch rumgehackt, im Moment ist es wieder das Labor, das ich liebe.

EB Kennen Sie Scham in Verbindung mit Theater?

SCHLINGENSIEF Bernhard Schütz hat da eine Tür geöffnet, dass man auf der Bühne manchmal anfing Sachen zu machen, die schon an die Grenze gingen. Es gab Vorstellungen, wo wir beide mit dem Rücken zum Publikum standen und uns nach einer Dreiviertelstunde so zugeflüstert haben: «Sag mal, was machen wir jetzt, Bernhard, was machen wir jetzt?» Und er: «Ich weiß auch nicht mehr, ich weiß auch nicht… » Sag ich: «Das ist doch furchtbar!» Und er: «Ja, ich schäm mich in Grund und Boden.» Und ich: «Ich auch.» Auch für meine Krankheit habe ich mich die ersten sechsWochen extrem geschämt. Ich konnte mich nicht mehr mögen. Das war schon immer eine Grunddisposition – auch wenn das anders aussieht, weil ich manchmal so rumgetobt bin, bei der Partei oder auch dem Wien-Container oder «Talk 2000» oder der MTV-Show. Aber das waren nur Teilaspekte.Ungefähr so wie ein Selbstzerstörungsurlaub nach der Kunstaktion. Tief drin hatte ich oft das Gefühl, dass die Arbeit doch nicht richtig gut war, nicht konsequent genug oder auch nicht wirklich liebend. Nicht ehrenhaft, also aufrichtig. Sowie Carl Hegemann sagte bei «100 Jahre CDU»: «Der Abend ist lustig, aber mehr auch nicht, und vor allem hast du nicht richtig gebeichtet.»

EB Früher waren Ihre Inszenierungen oft politischer. Stimmt die Beobachtung, dass Ihre Arbeiten in den letzten Jahren immer persönlicher geworden sind?

SCHLINGENSIEF Schon meine Filme hatten ganz viel mit mir zu tun. «Egomania» von 1987 zum Beispiel mit der obsessiven Welt, in die ich mich damals in meiner Dachzimmerwohnung in München verstrickt hatte. Eine Wohnung mit Wasser, aber ohne Strom. Thomas Meinecke wohnte im Haus, auch Prostituierte. Mein Denken und Schreiben dortwar sehr melodramatisch, einsam, sentimental, hasserfüllt. Die Filme haben viel mit Fassbinder und Schröter zu tun, nur dass ich darin einen Humor verfolge, der nicht ironisch ist oder zynisch-sarkastisch. Ein hoffnungsloser, überdrehter Humor. Da wird Schrecken verbreitet, und gleichzeitig muss man lachen. Wie auch jetzt wieder bei diesem Abend. Später hab ich mehr preisgeben können, manchmal auch fast unter Zwang, immer musste da die Familie auftauchen …

EB … sie ist auch in Duisburg vorgekommen, in Super-8-Aufnahmen und als Konflikt mit Ihrer Mutter.

SCHLINGENSIEF All dieses Streben nach Erfolg von früher, weil Mutter und Vater dann auch begeistert sind und die Verwandtschaft sich allmählich beruhigt … Es ist ja absurd, mit 47 solche Überlegungen! Aber ich kann die auch jetzt noch nicht abstoßen, obwohl es schon wesentlich besser ist. Mein Vater ist weg, und mit meiner Mutter hatte ich in dieser Zeit auch eine ziemlich harte Auseinandersetzung, die aber nun im Frieden geendet ist. Ich liebe sie. Und meinen Vater auch. Sie haben ihr Leben gelebt, und das haben sie ziemlich kräfteverzehrend hinbekommen. Und trotzdem frage ich mich, ob ich noch irgendwann ganz ohne Eltern auf derWelt sein werde. Ich wünsche meiner Mutter nicht den Tod. Aber wie ist das Gefühl, wenn man keine Eltern mehr hat, denen man vieles erklären wollte, auch wenn es keine Chance zum Verstehen gab? Dann wieder derGedanke: Mein Gott, die ganze Familie Schlingensief fliegt auseinander. Schon Vaters Erblindung, die Depression – meine Eltern sind beide depressiv –, dann der Tod meines Vaters, Schlaganfall derMutter und jetzt das noch. Wer ist daran interessiert, dass wir kaputtgehen? Wer walzt da so über uns, wer will das so haben?

EB Ist jemand schuld daran?

SCHLINGENSIEF Zum Glück sterben auch engelhafte Wesen. An unserem Lebensstil kann es nicht liegen. Aber die Frage ist zu stellen, finde ich. Das hat nichts mit der Schuldfrage im Rechtswesen zu tun, das ist das Bedürfnis des Menschen, etwas tragen zu wollen. Schuldbewusstsein heißt deswegen auch, wissen, wie man eingreifen kann. Das ist doch die große Hoffnung. Wenn man sich nur dem medizinischen Fortschrittswahn hingibt, dann ist das ja eine Abgabe von Autonomie. Man möchte beteiligt sein, selber wissen, warum etwas so ist. Das ist doch nichts Schlimmes. Der Katholizismus macht’s schlimm. Es gibt so ein katholisches Heft, der «Tagesbote». Der hat geschrieben, ich würde mit meiner Krankheit auch diesmal provozieren wollen: «Schlingensief täte gut daran, sich auch einmal Gedanken übers Sterben zu machen, bevor es zu spät ist.» Das ist dieser katholische Höllenhorror. Zum Kotzen! Mit diesem Katholizismus habe ich für immer gebrochen. Sie drohen, sie erheben die Erde zum Fegefeuer. Für mich ist das Leben momentan die helle Freude! Ich werde, um es mal in der Sprache dieser Katholikenzombies auszudrücken: den Teufel tun!

EB In der «Kirche der Angst» kommen Sie nur zum Austeilen der Hostie auf die Bühne. Ist das auch Voodoo?

SCHLINGENSIEF Ja klar, esset mein Fleisch, trinket mein Blut. Das ist doch wunderbar. Jesus hat übrigens dabei ganz glücklich geschaut und gelacht! Er fand das nicht nur erotisch, sondern auch heilsam. Überhaupt könnte das Christentum eine Riesenfreude sein. Die tun nur leider so, als wären wir noch im Mittelalter. Gott ist absolut zeitlos. Der braucht diese Jahresringe nicht. Eine Kirche, in der man Gott anschreien oder ihm Paroli bieten kann, das hätte bestimmt großen Erfolg. Und es wäre eine echte Befreiung. Wenn ich wiederkomme, werde ich Papst, und da wird dann kräftig ausgemistet.

EB Woher nehmen Sie die Freiheit, sich in Jesus hinein und über alle möglichen Ehrfurchtsgebote hinweg zusetzen?

SCHLINGENSIEF Wahrscheinlich,weil meine Eltern das mit mir praktiziert haben. Zum Beispiel hatte meine Mutter in den Sommerferienmal einen Hitze-Kollaps und kriegte keine Luft mehr. Da hab ich ein Gelübde abgelegt, dass ich ein Bild male und in Altötting dreimal imKreis laufe. Wir sind dann tatsächlich nach Altötting gefahren. Da gab’s Kinderkreuze, mit so einem bin ich losgezogen. Mein Vater meinte nach einer Runde, «so, komm, jetzt reicht’s, das ist genug». Mir war’s recht, dass es vorbei war, auch ein bisschen peinlich. Aber da hab ich Kirche als etwas ganz Geborgenes und Spielerisches erfahren, weil mein Vater nicht auf folternde Totalerfüllung bestanden hat. Da fand ich ihn großartig!

EB Und außerhalb von Kirche? Sie sind jemand, der anscheinend gar keine Berührungsängstemit Leuten hat. Weil Sie immer sehr direkt auf Augenhöhe auf sie zugehen.

SCHLINGENSIEF Ich hatte gedacht, durch die Krankheit würde ich die Leute jetzt nicht mehr so oft umarmen. Ich soll ja möglichst Omnibusse und Flugzeuge und Massenaufläufe meiden. Wegen Infektionsgefahr. Aber in Duisburg habe ich bestimmt Hunderte von Menschen umarmt. Die Geste ist drin. Was heißt die Geste? Ich mag das, mach das einfach.

Etwas später am Telefon: ein neuer Zwischenstand. Schlingensief macht eine Kurzkur in Bad Schandau.

EB Mitte November haben Sie die Rohfassung der «Kirche der Angst» nochmal im Gorki Studio in Berlin gezeigt. Zu Beginn der Vorstellung «Der Zwischenstand der Dinge» haben Sie vor dem Publikum angedeutet, dass Sie eine neue Krebs-Diagnose bekommen haben. Wie gehen Sie damit um?

SCHLINGENSIEF Man versucht natürlich alles Mögliche: Ernährungsumstellung, Reinigung und der ganze Kram. Mir wurde der Kopf untersucht, da ist alles blitzeblank. Trotzdem hat diese Magnetresonanztomografie einen Schock ausgelöst, weil ich plötzlich realisiert habe, wo das Scheißzeug überall sein kann. Aino und ich waren überzeugt, dass ich jetzt zwei, drei Jahre wieder ins Leben einkehren kann – und jetzt muss ich schon wieder die nächste Tablette fressen. Das ist zwar keine Chemo, gibt aber Nebenwirkungen. Mittlerweile könnte ich bei chemischen Versuchsanlagen problemlos durch die kontaminierten Zonen rennen. Wie es ausgeht, wissen wir nicht.

EB Zu Beginn der dritten Vorstellung haben Sie sich außerdem darüber geärgert, dass manche Kritiker ratlos waren und ihre «Kriterien» dahinschwinden sahen.

SCHLINGENSIEF Ich hab mich nicht geärgert. Das war früher. Nein! Es war plötzlich die Erkenntnis geboren, dass es Kritiker gibt, die für wirkliche Lebensinhalte keine Maßstäbe haben, diese aber umsomehr fordern und einklagen. Man kann es ja keinemvorwerfen, wennman nicht damit umgehen kann. Ich kann ja auch nicht richtig damit umgehen, weil ich nichtweiß,was man tun könnte. Nur ein paar haben verstanden, dass hier ein Kunstwerk aufgeführt wurde, das nicht nur mit meinemTod zu tun hat. Aber bei manchen Kritikern ist es so, dass ein Kritiker auf gar keinen Fall menschlich sein darf.

EB Der «Zwischenstand»war keine Totenmesse, sondern in seiner Offenheit sehr ermutigend und doch formal so offen, dass jeder seinen eigenen Film dabei laufen haben konnte.

SCHLINGENSIEF Ich habe das offen ausgesprochen, umes in seiner Mächtigkeit anzugreifen, das werde ich weiterhin tun, und das kann mir auch keiner nehmen. Wennman so ’ne halbe Stunde beim MRT in der Röhre liegt und drum herum hämmert es und du weißt, die Ärzte gucken jetzt alle auf einen Monitor … Mein Gehirn lieb ich schon sehr. Das Reden und schnelle Denken und die ganzen Bilder und all das. Wenn das alles angeknabbert wäre! Diese halbe Stunde war hardcore, und ich hatte ziemlich schwarze Täler seither. Ich dachte immer, ich hätte noch 35 Mal Weihnachten vor mir. Dieses Jahr werd ich das wohl problemlos hinkriegen, aber wie ist das nächstes Jahr? Mir ist klar geworden, dass ich einen Auftrag habe, das mitzuteilen. Und ich hoffe natürlich, dass sich durch das Mitteilen etwas umformt oder dass man das etwas kräftiger oder besser erleben und ertragen kann. Die dritte Ebene ist wirklich der völlig autonome Betrachter, der dabei mit sich umgehen muss. Dann ist das nicht Christoph Schlingensiefs Leidensweg, sondern viel mehr.

EB Wie geht es jetzt weiter?

SCHLINGENSIEF 25 Prozent sterben, weil da einfach die Krankheit nicht zu stoppen ist, bei 50 Prozent kann der Mist zum Stillstand gebracht werden. Das ist gerade das Ziel, und 25 Prozent der Patienten werden einfach weiterleben. Da wollen wir hin. Die Ärzte wollen mich vonmeiner Arbeit profitieren lassen. Der Kampf gegen die Krankheit wird einfach konkreter. Ich lasse viel Revue passieren. Aino und ich sitzen händchenhaltend da und denken darüber nach, wo wir überall waren. Es gab schon tolle Arbeiten, wir haben das mal zusammengerechnet, 78 Stücke, Theater und Aktionen, ohne die ganzen Filme und Installationen, Objekte, Bilder und Skulpturen. Ich bin schon scharf darauf, das nochmal zu sehen und zu lesen. Und ich bin stolz auf das Archiv, dass meine Freunde seit fast zehn Jahren an meiner Seite erstellt haben und nun noch intensiver dran arbeiten. Da soll mehr von meiner filmischen Arbeit rein. Die war immer das Zentrum meines Denkens. Der Film, das Bild, das Erinnern, das Übermalen. Ich glaube, es geht nichts verloren. Das hab ich als größte Erleichterung.
Manchmal sterben Künstler früh, und für ihr Werk ist das oft auch ganz gut. Bevor sie sich im Alter nur noch selbst zitieren. Deshalb will ich auf keinen Fall mehr Künstler sein, da will ich dann doch lieber leben.

Aus: Theater Heute, 01/2009