SCHLINGENSIEFS WILDE, TOLLE KREBS-MESSE (DIE WELT)

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Mit seiner „Kirche der Angst“ gelingt Christoph Schlingensief in Duisburg ein großartiges Comeback

Die Gebläsehalle auf dem Gelände eines ehemaligen Stahlwerks in Duisburg sieht innen tatsächlich aus wie eine Industriekirche, lang, schmal, neogotisch, nicht viel anders als die sakralen Gebäude, die im 19. Jahrhundert errichtet wurden. Christoph Schlingensief hat diesen Eindruck noch verstärkt, indem er die hohen Fenster mit bunten Glasmalereien verzieren ließ. Und das Publikum sitzt auf echten Kirchenbänken.

Der Gottesdienst, den der letzte unterhaltsame Wahnsinnige des deutschen Theaters hier im Rahmen der Ruhrtriennale zelebrieren lässt, hat allerdings wenig mit der gezähmten staatsfrommen Vernunftreligion zu tun, die sich das Kaiserreich damals wünschte. Es ist eine wilde synkretistische Messe, in der viele Götter, Dämonen und Heilige beschworen werden.

Der Regisseur und der Krebs

Der Himmel erscheint offenbar nicht so leer, wie es Christoph Schlingensief während der schwärzesten Phasen seiner Krebserkrankung vorkam und wie er es in zahlreichen Interviews vor der Premiere von „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“ erzählt hat. Maria, Gott und Jesus sind eben doch da, stellt er am Ende der Vorstellung fest, nachdem er zwischendurch mal geflucht hat, dieser ganze „Kirchenkack“ könne ihm gestohlen bleiben. Und neben der traditionellen christlichen Besetzung ist sogar noch Platz für einen Heiligen namens Joseph Beuys, aus dessen „fünftem Evangelium“ auch Auszüge verlesen werden. Hier ist der Prophet mit dem Hut allerdings ein schwarzer Mann.

Überhaupt nimmt Schlingensief die Zutaten für sein liturgisches Zeichengewitter von überall her: Katholische Messknaben und -mädel, ein schwarzer Gospelchor und christliche sowie jüdische Priester treten auf. Heidnisches wird zitiert: Der verwesende Hase, Symbol von Fruchtbarkeit und Tod, der schon in Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“ so zentral war, ist wieder da. Bocks- und stierköpfige Pane und Minotauri ziehen durch die Filme, die auf den Leinwänden rechts, links, oben und unten in diesem Kirchengebäude flackern.

Es fällt auf, wie abendländisch Schlingensiefs religiöser Kosmos ist. Außereuropäisches schleicht nur sich dort ein, wo er afrikanische oder südamerikanische Mischreligionen einzubeziehen scheint (zugegeben: nicht jede Quelle erschließt sich dem Betrachter – die Aufführung hatte keine Fußnoten). Islam und Buddhismus stehen ihm ebenso ebenso fern wie die moderne westliche Kaufhausesoterik.

Das Denken der Klassiker

Doch Schlingensiefs Weltbild ist auch eine Kunstreligion. Sein ganzes Leben lang hat er immer wieder gefragt: Was haben die Klassiker uns heute noch zu sagen? Nur dachte er dabei an andere Klassiker als Peter Stein: An die Kirchenväter der modernen Entgrenzungskunst. An Beuys, an die Fluxus-Bewegung, an die Wiener Aktionisten (deren Schock-und-Ekel-Performances er allerdings schon lange nicht mehr zitiert, als wäre er milde geworden) und manchmal auch an Rudi Dutschke.

Der junge deutsche Film, der revolutionäre Aufbruch der Oberhausener Kurzfilmtage – all diese starken Bewegungen, für die Schlingensief zu jung war und die er immer wieder beschwörend zu reanimieren versuchte, werden in die Duisburger Messe integriert. Schlüsselszenen der Bewegung wie Nam June Paiks Performance mit einem Cello aus drei Fernsehapparaten sind nachinszeniert für kleine Schwarzweiß-Filme – das Medium des Rückblicks. Und wer die Kreuzigung Christi mit Zwergen und Behinderten nachstellt, der begibt sich in den langen Schatten von Luis Buñuel.

Dazwischen ist viel Tiefprivates. Ein Film zeigt Schlingensief schmerzenswimmernd wie er: „Nicht mehr berühren!“ fleht. Man hört Tonbandaufzeichnungen, auf denen er erzählt, wie die Krebsdiagnose bekam. Am Ende bricht er in Tränen aus. Dazwischen wirken die Sätze seiner Mutter auf dem Anrufbeantworter fast wie eine komische Erleichterung.

Seine Tagebuchaufzeichnungen

Schlingensief selbst tritt erst ganz zum Schluss auf. Davor lässt er sich von einem Schauspieler vertreten. Seine Tagebuchaufzeichnungen lesen zwei so unterschiedliche Diven wie Margit Carstensen und Angela Winkler. Die erste, einst dem Fassbinder-Clan verbunden, gehört schon lange zum Schlingensief-Personal.

Doch Angela Winkler bei Schlingensief? Das überrascht doch ein wenig. Sie wandelt bisher im ganz anders gearteten Theater-Universum Peter Zadeks. Und noch in seiner Volksbühnen-Produktion „Die Berliner Republik“ hat Schlingensief Angela Winkler von Sophie Rois fein parodieren lassen. Jetzt hat der Kindskopf mit dem Netz seines Charismas offenbar auch sie eingefangen. Und es ist großartig, wie sie als Tod mit der Taschenlampe die Kinder des Chors anleuchtet und diese daraufhin umfallen. Der Schreckliste und das Heiligste als aufgekratztes Kinderspiel – das ist der ganze Schlingensief in nuce.

Diese Szene hat ein Vorbild in jenem Film, den Schlingensiefs Vater Hermann-Josef 1966 gedreht hat. Man sieht den kleinen Christoph und seine Freunde mit Spielzeuggewehren herumballern. Irgendwann steht der Fünfjährige an einer Mauer und wird „erschossen“. Er sinkt zusammen und „geht tot“. Das ist das letzte Bild dieses 90minütigen „Oratoriums“. Es ist Kitsch. Naiv. Frivol. Banal auch, weil doch wirklich jeder solche Kinderspiele gespielt hat und weil jeder dann irgendwann stirbt. Aber es ist groß.

Man war ja nach der Interview-Offensive vor der Premiere misstrauisch gestimmt. Bei der Berliner Opernpremiere „Jeanne d‘Arc“ im Frühjahr, die Schlingensief vom Krankenbett aus inszenierte, stand er ja schon Ruch der Jenseitigkeit. Das waren Vorraussetzungen, die den kritisch-unvoreingenommen Blick trübten. Nun hat er sich freiwillig wieder in die irdische Trivialität des Medienzirkus zurückbegeben. Da konnte man auch wieder schärfer hinsehen.

Es ändert aber nichts. Nach eher schwächeren Produktionen über uninteressante Medienfiguren wie Lady Diana ist Schlingensief wieder ganz der tolle Alte. Es ist als hätte ihn die Krankheit vom Pfad der blödsinnigen Zerstreuung auf das zurückgeworfen, was ihn wirklich etwas angeht.

Wenn es unter uns einen Menschen gibt, der das Zeug zum Schamanen hätte, wie sie in früheren Zeiten die Schlüssel zu den Pforten zwischen dieser und anderen Welten bewahrten, dann ist es Schlingensief. Und ganz nebenbei war es der unterhaltsamste Gottesdienst, an dem ich je teilgenommen habe. Schlingensief muss Papst werden. Wenigstens Narrenpapst. Dann kann der Islam einpacken.

Von Matthias Heine
Erschienen in der WELT vom 22.09.2008