Bei Schlingensief übte Helge Schneider das Hitler-Spiel

Veröffentlicht am Autor admin

In dem Gaga-Film des Skandal-Regisseurs „Menu total“ spielte Helge schon 1986 den Diktator

Berliner Zeitung, Kultur, 10. März 2006

Steht ein Junge mit schwarzem Bärtchen am Fenster. Hebt die rechte Hand. Gestikuliert. Schreit Unverständliches. Helge Schneider hat das Hitler-Spiel schon vor 20 Jahren geübt. In Christoph Schlingensiefs Gaga-Film „Menu total“ spielt Schneider einen Jungen, der, vom Vater vergewaltigt, ins Kellerloch der Phantasie hinabsteigt. Dort wird er Hitler – und murkst seine Familie ab.

Helge Schneider in Menu Total (1986)

1986, bei der Berlinale-Uraufführung, rief Schlingensiefs Film großen Zorn hervor. Wim Wenders verließ unter Protest den Saal, „die größte Sauerei aller Zeiten“ schrieb der Tagesspiegel.

Schlingensief selbst hält das Werk „für meinen besten Film“. Und erzählt im Interview, daß er Jazz-Musiker Helge, „der damals noch nicht auf der Komik-Schiene“ fuhr, zunächst nur für die Musik haben wollte. „Doch eins kam zum anderen“, schon war Helge Hauptdarsteller.

Eigentlich sollte Helge „nur“ die Musik machen…

Und wie sich die Bilder gleichen. Helge war damals zwar noch ein dünnes Jüngelchen. Doch das Irre im Blick hatte er schon gut drauf. Heute, mit 50, spielt er den „wahren Hitler“ unter der Regie von Dani Levy. Und steht dafür morgens um 4 Uhr auf, um sich in drei Stunden Arbeit mit Tränensack, Hängebacke und Bärtchen in das Monster zu verwandeln.

Schlingensief sah die Helge-Rolle in seinem Film übrigens als sein eigenes Alter Ego. Und gab zu Protokoll: „Alle Welt glaubte damals, ich wäre als Kind von meinem Vater vergewaltigt worden. Das wüßte ich jetzt nicht so. Aber jeder von uns hat so ein tiefes Dreckloch, in dem er Familien-Beschädigungen abarbeiten muß. Ich habe mich gerettet, indem ich die Abgründe aufgeschrieben habe.“

Und Helge? Der sagt nix. Der spielt den Kram nur. Aber das richtig gut offenbar. kam

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Christoph Schlingensief-Edition #2: Menu Total


von Harald Mühlbeyer (Screenshot Online)

Als eine Gesamtedition des filmischen Werkes von Christoph Schlingensief werden derzeit seine Kinofilme vom kleinen Label Filmgalerie 451 herausgegeben. Screenshot begleitet die Edition mit Besprechungen der einzelnen DVDs.
Die Presseschau zum Film, auf der DVD enthalten, ist ein Spiegel der Ratlosigkeit, die der Film beim Publikum hinterlässt. Die Inhaltsangaben verschiedener Zeitungen differieren erheblich voneinander, außer wenn der eine vom anderen abgeschrieben hat.

Christoph Schlingensiefs zweiter Langfilm ist kein Film, der einer narrative Struktur folgt – vielmehr scheinen Versatzstücke verschiedener Erzählungen ineinander vermischt, der Zuschauer, so er sich auf den Film einlassen will, wird erleben, wie sich nach und nach eine Geschichte in seinem Kopf zusammensetzt, die sich vermutlich von den Geschichten in den Köpfen anderer Zuschauer immer unterscheiden wird.

Mehrere Realitätsebenen scheint es zu geben, da ist Joe (Helge Schneider) und seine Eltern, er wird später in eine Art Anstalt überwiesen, wo ein Arzt kotzt und ein anderer in Nazi-Uniform herumrennt; da ist eine Wiese, auf der ein improvisiertes Picknick stattfindet, eine Wiese, auf der Joe und ein als Frau gekleideter bärtiger Mann namens Evi (Volker Bertzky, der aktuell unter dem Namen Sergej Gleithmann als Grotesktänzer auf Schneiders Tournee auftritt) von weißgekleideten Zombies verfolgt werden; ab und zu in einer Art Theaterloge Schneider als Hitler verkleidet, immer wieder ein bunkerartiger Kellergang, immer wieder Kriegsgeräusche; Kannibalismus, unartikulierte Stimmen, eine Tasche, die im Wald vergraben wird, nach der gesucht wird, Essen auf möglichst ekelhafte Art; die körnigen, kontrastreichen Schwarzweißbilder sind unterlegt von Schneiders coolem Jazz.

Eine merkwürdige Erfahrung beim Zuschauen: Die Befremdung, die der Film beim Zuschauer erzeugt, löst sich irgendwann auf zu einem Versuch des Verstandes, die Bilder, die Motive zu ordnen und verständlich werden zu lassen; was natürlich nicht restlos gelingt, was jedoch den Vorgang der Organisation einer Geschichte im Kopf des Zuschauers bewusst macht. Vielleicht ist der Film eingeteilt in ein Reich der Lebenden und ein Reich der Toten mit durchlässiger Zwischenwand; vielleicht ist der Film eine Art Traum von jemandem, dessen Traum-Ich von Helge Schneider gespielt wird; vielleicht ist er die Bebilderung einer Psychose des kollektiven Unterbewusstseins, um die Bewältigung der Schuld der Eltern, um Ödipus on the rocks, um orale Lüste. Immer wieder spielt Schlingensief mit den Bildern des Genrefilms: Horror, Film Noir, Melodram werden ins Eklige gezerrt; vielleicht also ist alles als eine Art Travestie-Phantasmagorie der filmischen Form zu sehen. Vielleicht will „Menu Total“ mit seiner Vielzahl von Metaphern, die ins Leere führen, die Gattung des vielschichtigen, symbolüberfrachteten Kunstfilms ad absurdum führen.

Vielleicht aber, und darauf besteht Schlingensief, ist alles einfach nur eine absurde Komödie, über die man sich totlachen sollte, wenn man sich als Zuschauer erst mal die richtige Einstellung zum Film angeeignet hat. Nicht jeder hat das verstanden: Bei der legendären Aufführung im Forum der Berlinale 1986 verließen in den ersten zehn Minuten zahlreiche Besucher den Kinosaal, allen voran Wim Wenders. Später freilich kam Udo Kier, der sich köstlich amüsiert hatte, auf Schlingensief zu: Der Grundstein für eine fruchtbare Zusammenarbeit.


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