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Viel Verstörung im Publikum, Bayreuther Abgründe und Schlingensiefs "Parsifal"


Süddeutsche Zeitung vom 01.08.2005. Von Wolfgang Schreiber.


Leicht kommt man in Bayreuth mit wildfremden Menschen ins Gespräch über Wagner und die Festspielaufführungen - schon auf dem Bahnhofsperron, im Taxi, beim Hotelfrühstück. Man will voneinander wissen, wie Marthaler / Oues "Tristan" oder Arlaud / Thielemanns "Tannhäuser" gefallen haben, wie sich Schlingensiefs überquellender "Parsifal" vom Vorjahr diesmal anlässt. Problem- und Leidmotiv durchgehend: Wagner-Bildsprache heute, moderne Wagner-Regie. Unsicherheit und Skepsis drängen nach außen, schlagen oft um in Ablehnung und Verdammung der radikal-eigenwilligen, dem "Werk" mutmaßlich nicht "dienenden" Inszenierungen.

Wer sich auskennt mit Wagners Welt und Traumfiguren, sie liebt, vielleicht der "Gesellschaft der Freunde von Bayreuth" angehört, kann sich selbstsicher geben - ohne deshalb schon gegen die Bildertücken modernen Regietheaters gewappnet zu sein. Manchmal garantiert Kennerschaft auch fundamentalistische Verfestigung: Die "Verfälschung des Wagnerschen Werkes" wird schnell zur Tatsache. Da muss es befremden, dass die "Liebe" von Tristan und Isolde nicht dazu führt, dass sich beide innig berühren, sondern dazu, dass sie Nähe als Einsamkeit erleben - als scheiternde Liebe. Der Grund: Es geht nicht nur um Texte, sondern um darunter gärende, schwärende "Subtexte", Abgründe.

Tatsache ist aber auch, dass es der betagte und keiner Wagner-Revolte verdächtige Hausherr selbst ist, der glaubt, Regisseure wie Marthaler oder Schlingensief auf den Grünen Hügel einladen, die Festspiele künstlerisch an die Gegenwart "anschließen" zu sollen. Zu Recht. Früher regte man sich auf, wenn der "Fliegende Holländer" nicht sichtbar an Norwegens Meeresküste spielte. Mittlerweile hat niemand mehr etwas dagegen, dass die Wartburg eine - recht vordergründig - reduziert-zeichenhafte Welt darstellt. In Philippe Arlauds poppigem "Tannhäuser" von 2002, die der Franzose in der Personenführung erweiterte, ohne sie deshalb schlüssiger zu machen, triumphierte ohnehin Christian Thielemann mit Festspielorchester und Festspielchor (Eberhard Friedrich) und einer die großen Formbögen in leuchtenden Klang verwandelnden, am Ende mit standing ovations gefeierten Orchesterleitung: glänzend disponiert, kraftvoll romantisch empfunden. Stephen Gould zeigte als Tannhäuser sieghafte Tenorkraft, Ricarda Merbeth schuf eine unruhig auflodernde Elisabeth und Judit Nemeth eine schillernde Venus, so wie Roman Trekel einen duldsamen, nuancierten Wolfram. Das Ensemble um den stimmstarken Landgrafen (Guido Jentjens) agierte als Einheit, doch blass.


Boulez als Bewahrer


Pierre Boulez, Bannerträger der musikalischen Moderne und - seit dem Bayreuther "Jahrhundert-Ring" - auch einer szenischen Erneuerung, spricht heute die Hoffnung aus, Bayreuth "sollte bleiben, wie es ist. Es wurde für Wagners Opern gebaut, und so sollte es auch bleiben". Immerhin wünscht sich Boulez Wagners eigenes Projekt herbei: die Gründung einer "Schule" für Sänger, Bühnenarbeiter, "für alles, was mit Oper zu tun hat". Boulez würde die Schule nicht gern auf Wagners Werk beschränkt wissen - warum also nicht eine Schule des Sehens für alle Besucher? Dem Künstler gilt der gerade (beim Verlag Ellwanger, Bayreuth) erschienene, schön gestaltete Band "Pierre Boulez in Bayreuth", Dokumentation einer tiefen Beziehung zu Wagners Kunst. Der 80-Jährige dirigiert schlechthin meisterhaft eine Aufführung des "Bühnenweihfestspiels", die vielleicht weiter wegführt von jeder gewohnten Bildlichkeit des "Parsifal" als jemals sonst eine Inszenierung. Groß war im Vorjahr der Proteststurm gegen Christoph Schlingensief, er ist es heute.

Bilderspringflut hin oder her - niemand kann sagen, wie das Bühnenkonzept für eine schlüssige "Parsifal"-Interpretation aussehen müsse. Schlingensief ist bei seiner Sicht auf Wagners "Weltabschiedswerk" - hin zum Tod - geblieben, und er hat es sich auch in diesem Jahr nicht leicht gemacht: Wochenlang probierte er, diesmal ungestört, das Stück und dessen vielschichtige Gedanken- und Zeichenwelt. Es gibt teilweise mehr, aber auch noch verwirrendere Personenbewegung, die oft schwer verortbar ist. Geblieben die Überlagerung fast pausenlos ablaufender Videobilder, von Lichtzeichen und Sehperspektiven, Bühnenbauten und Requisiten auf einer die Kulturen der Erde wie improvisiert aufrufenden Drehbühne.

Vor allem beim Ende des ersten Aufzugs, der Gralsenthüllung, wird die totale Grenzüberschreitung hin zum fanatisch kosmopolitischen Welt- und Religionsverständnis greifbar. Was die rätselhafte Aufführung anbietet, setzt ein linear-rationales "Verstehen" des Kunstwerks auf jeden Fall außer Kraft. Die Aufführung bleibt geradezu schmerzhaft überfordernd, vor allem im zweiten Akt. Nichts ist fixierbar durch statische Betrachtung, alles ist im Fluss, dynami-siert. Boulez gelingt eine mirakulös transparente Orchesterdeutung, wie unter einem Atembogen der in Übergängen fließenden Musik. Das Ensemble uneinheitlich: Der Parsifal von Alfons Eberz erklang mächtig, doch unflexibel, Michelle de Youngs Kundry besaß viel Kraft, so wie der Amfortas von Alexander Marco-Buhrmester. Robert Holl sang den Gurnemanz reich an Klangfarben, John Wegner überlegen den Klingsor. Viel Verstörung im Publikum.



Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2005

- "Den Mythos weitererzählen" - Frankfurter Rundschau vom 04.08.2005
- "Schönste Gelassenheit auf der Gerümpelbühne" - FAZ vom 01.08.2005
- "Fortdauernde Bewegung macht den Raum zur Zeit" - Stuttg. Nachr. 01.08.05
- "Viel Verstörung im Publikum" - Süddeutsche Zeitung vom 01.08.2005
- "Erlösung durch ewige Weltsehnsucht" - Der Standard vom 31.07.2005
- "Mythisches Netzhautflackern" - Der Tagesspiegel vom 31.07.2005
- "Weltabschiedswerk in heiterer Zartheit" - Fränkischer Tag vom 01.08.2005
- "Schlingensiefs Parsifal spaltet das Publikum" - dpa vom 30.07.2005
- "Lautstärke bei Schlingensiefs Show" - Die Presse vom 01.08.2005
- "An der Seele reißen" - Die WELT vom 01.08.2005
- "Punk-Poetin trifft Theater-Rebell" - Nordbayerischer Kurier vom 01.08.2005
- "Erlösungsutopie aus Kulturpessimismus" - Landshuter Zeitung




Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung

- Parsifal Bildergalerie 2007 - Fotos der vierten und letzten Spielzeit 2007
- Parsifal Pressespiegel 2007 - Pressestimmen zur vierten und letzten Spielzeit
- Parsifal Pressespiegel 2007 (PDF) - Gesammelte Rezensionen als PDF-Datei
- "Schlingensief ist für mich der reale Tannhäuser" - Interview Philippe Arlaud
- Schlingensief träumt vom "Tristan" in Bayreuth - Schlingensief im Gespräch
-  "Meistersinger" 2007 - Radiokritik zu Katharina Wagners Debut in Bayreuth
- Probengalerie Parsifal 2007 - Fotos der Vorbereitungen zum Parsifal 2007
- Parsifal Bildergalerie 2006 - Fotos der dritten Parsifal Spielzeit 2006
- "Du hast mich inspiriert" - Interview K. Wagner / C. Schlingensief (23.07.07)
- "Opera Review" - A Personal Experience at Bayreuth by David W. Kline
- "Der erweiterte Wir-Begriff" - Boris Groys und Carl Hegemann zum Parsifal
- "Werkstatt Bayreuth" - Carl Hegemann zur Non-Rekralisierung
- "Begegnungen der vierten Art" - Schlingensiefs Zeitreisen, von Jörg v.d. Horst
- "Das Licht kommt von innen" - Jean-Marie Thiers zur Parsifalinszenierung
-  Boulez in Deutschlandradio - Pierre Boulez zur neuen Parsifalinszenierung
- Parsifal Bildergalerie 2005 - Fotos der zweiten Parsifal Spielzeit 2005
- "Alles schreit" - Notizen zur Parsifal-Inszenierung von Carl Hegemann
- "Der erweiterte Hasenbegriff" - Drei Essays zum Parsifal, div. Autoren
- "Wege zu Parsifal" - Kaum noch Illusionen über die Illusion. Von P. Boulez
- "Zum Raum wird hier die Zeit" - Ein Beitrag des Schriftstellers Peter Nadas
- "Der Todestag" - Christoph Schlingensief im Interview mit der FR (2004)
- "Weehee, Weheee" - Schlingensief im Interview mit dem Tagesspiegel (2004)
- "Ein metaphysisch obdachloser Metaphysiker" - Interview mit der SZ (2004)
- Parsifal Pressespiegel 2004 - Pressestimmen zur ersten Spielzeit 2004
- Parsifal Bildergalerie 2004 - Fotos der ersten Parsifal Spielzeit 2004
- Bayreuther Festspiele - Offizielle Homepage der Bayreuther Festspiele
- Parsifal Libretto - Libretto zu Richard Wagners Parsifal als Onlineversion

Bayreuth Dossier

- Parsifal Übersicht

- Parsifal Rezensionen
   2007 als PDF


- Philippe Arlaud über
   Schlingensiefs Parsifal

- Schlingensief träumt
   vom "Tristan" in
   Bayreuth

-  Deutschlandradio zu
   K. Wagners Debut

- Gespräch K. Wagner /
   C. Schlingensief (FR)

- Parsifal Review
   by David W. Kline

- Groys / Hegemann:
   Der erweiterte
   "Wir"-Begriff

- Carl Hegemann:
   Werkstatt Bayreuth

- Jörg van der Horst:
   Begegnungen der
   vierten Art

- Wagnerverband
   Frankreich: Das Licht
   kommt von innen

-  Pierre Boulez
   zum Parsifal 2005


- Carl Hegemann:
   Alles schreit

- Der erweiterte
   Hasenbegriff

- Peter Nadas: Zum
   Raum wird hier die Zeit

- Pierre Boulez:
   Wege zu Parsifal


- FR Interview mit
   Schlingensief (2004)

- Der Tagesspiegel
   Interview mit
   Schlingensief (2004)

- SZ Interview mit
   Schlingensief (2004)



Bilderstrecken

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Pressespiegel

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- Presse Spielzeit 2007
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Externe Links

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- Parsifal Libretto





Parsifal
Inszeniert von Christoph Schlingensief
Bayreuther Festspiele
2004 − 2007

Dirigent: Pierre Boulez

Inszenierung:
Christoph Schlingensief

Chorleitung:
Eberhard Friedrich

Bühnenbild:
Daniel Angermayr, Thomas Goerge

Kostüme: Tabea Braun,
Aino Laberenz

Video:
Meika Dresenkamp, Monika Böttcher

Lichtdesign:
Voxi Bärenklau

Künstlerische Mitarbeit: Carl Hegemann

Darsteller:
Amfortas: Alexander Marco-Buhrmester; Titurel: Kwangchul Youn; Gurnemanz: Robert Holl; Parsifal: Alfons Eberz; Klingsor: John Wegner; Kundry: Michelle de Young; 1. Gralsritter: Clemens Bieber; 2. Gralsritter: Samuel Youn; 1. Knappe: Julia Borchert; 2. Knappe: Atala Schöck; 3. Knappe: Norbert Ernst; 4. Knappe: Miljenko Turk; Klingsors Zaubermädchen: Julia Borchert, Martina Rüping, Carola Guber, Anna Korondi, Jutta Maria Böhnert, Atala Schöck; Altsolo: Simone Schröder

Webredaktion:
Jörg van der Horst, Patrick Hilss