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Punk-Poetin trifft Theater-Rebell
Die Sängerin Patti Smith erlebt zum ersten Mal die Bayreuther Festspiele und ist begeistert.
Nordbayerischer Kurier vom 01.8.2005. Von Gert-Dieter Meier.
"Parsifal"-Schluss. Gewitter, Wind, Hagel. Drinnen, im Festspielhaus, entlädt sich ein Sturm der Entrüstung, der sich bricht an einer Welle der Sympathie. Christoph Schlingensief ist für den inneren Sturm verantwortlich. Seine Sicht auf Richard Wagners Weltabschiedswerk spaltet, sorgt für Lagerbildung. Schlingensief genießt diese Polarität. Der Orkan, der ihn trifft, Buhstürme, wie man sie lange nicht mehr erlebt hat im altehrwürdigen Haus am Hügel, sind sein Beleg dafür, dass diese Inszenierung niemanden gleichgültig lässt, sondern etwas auslöst, bewegt, Stürme entfacht. Oder zumindest Nachdenklichkeit nach sich zieht.
Draußen, vor dem Festspielhaus, reißt der Wind Äste ab, Blätter fallen wie im Herbst. Hagelkörner prasseln auf die Festspielhausmarkise, Blitze zucken, Wassermassen brechen sich Bahn. "Wagnerwetter", jubelt ein Franzose, um wenig später seine Kamera zu zücken und Wolfgang Wagner auf seinem Digitalchip zu verewigen. Der Hausherr, müde wirkend, lächelt verständig, zieht sich ins Haus zurück. Er ist ruhig, gelassen. Keine Spur mehr vom Zorn des vergangenen Jahres. Diese Stürme, der innere wie der äußere, können ihn nicht mehr aus der Ruhe bringen.
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Carl Hegemann, Patti Smith und Christoph Schlingensief in Bayreuth |
Mitternacht. In der "Gendarmerie" am Bahnhofsplatz geht es hoch her. Der nächste Ausbruch in dieser stürmischen Nacht. Dicht gedrängt sitzen gut gelaunte Menschen. Sie feiern. Und wie. Christoph Schlingensief und sein Team, die Sänger, Freunde. Wein und Bier fließen in Strömen, Pasta mit Pilzen, die Luft ist schwer von Rauch und abdampfenden Körpern. Premierenfeier eben. Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne) diskutiert mit Dramaturg Carl Hegemann die Veränderungen des "Parsifal" im Jahr eins nach der schweren Geburt, outet sich als glühender Fan dieser Inszenierung. Einen Tisch weiter unterhält sich Christoph Schlingensief mit Patti Smith. Patti Smith? Patti Smith! Die Mutter des Punkrocks, die Rockpoetin, Fotografin, Autorin. Eine der wichtigsten Rocksängerinnen der Neuzeit. Kultfrau, 59, und noch kein bisschen spießig. Sie war im "Parsifal". Und keiner wusste zunächst davon. Fast keiner. Denn Patti Smith war im Auftrag der "Zeit" in Bayreuth. Punklady schreibt über Theaterrebell, wunderbare Idee.
Wie es zu diesem Auftrag kam? In einem Interview hatte sie mal erzählt, dass sie zu Hause nie Rock oder Punk höre, sondern nur eines: Klassische Musik, Oper. Und zack war eine journalistische Idee geboren. Dann könnte sie doch gleich den Schlingensief... Die "Zeit" schickte Tickets für den Flug und für die Bayreuther Festspiele. "Parsifal", "Tannhäuser" that‘s it. Rein in den Flieger, dann drei Stunden Autofahrt, dann "Tannhäuser". Im ersten Akt kämpft Smith gegen den Jetlag, im zweiten ist sie hellwach, am Ende des dritten Aufzugs nur noch eines: begeistert. Thielemann!! Und die Akustik!!!
Der Urknall
Anderntags der "Parsifal", der sich zum Urknall für sie entwickelt. Wagner war Revolutionär, Schlingensief steht ihm in nichts nach. Sagt sie im Gespräch in der Hotellobby des Bayerischen Hofs. Während nebenan mächtig gefeiert wird. Alfons Eberz kriegt viel Applaus, Schlingensief ein großes Hasenbild. Viel Anerkennung, aber auch Ablehnung. Ein Mann aus Zürich haut ihm um die Ohren, dass er den "Parsifal" verhunzt habe. Schlingensief bietet ihm das Gespräch an, der Herr winkt ab. Ruht sich lieber auf seinem Standpunkt aus.
Patti Smith erzählt weiter, die Begeisterung spricht aus ihr. Ich habe ihn verstanden, Schlingensief. Sein Ansatz ist mutig, schlüssig. Diese Oper ist erfüllt von Leben, ein doppeltes Erlebnis. Das Haus, die Tradition, Wagners Musik, Bier und Bratwürste. Und dann dieses wilde Konzept. Die Welt dreht, die Gefühle überschlagen sich, hellwach der Geist. Der Sturm der Gefühle, der Gewittersturm, eine wilde Wagnernacht. Live is beautiful.
Und die Reaktion des Publikums? Wunderbar, ruft sie aus, weil diese Buhs voll des Lebens waren. Voller Stolz hätten die Besucher Schlingensief getrotzt, als wollten sie sich vor jedweder Vereinnahmung schützen. Und es seien keine bösen Buhs, sondern leidenschaftliche Anteilnahme gewesen. I like that.
Erfahrungen? Zuhauf. Sie bewundert die Sänger, wie sie spielen, handeln, singen. Stundenlang. Geniale Leistung. Das spornt sie an. Sie will noch härter arbeiten an sich. Von diesen Eindrücken profitieren. Und jetzt, mehr denn je, sich Wagner erschließen. Klar, sie hat vor ihrem Trip nach Deutschland gelesen, gehört, gelernt. Nun aber, mit diesem starken Eindruck von Bayreuth in Kopf und Seele, will sie sich reinknien in die Musik. Da passt es gut, dass Carl Hegemann ihr die KURIER-"Parsifal"-Beilage in die Hand drückt. Mit einem Parsifal-Text, den Klingsor John Wegner ins Englische übersetzt hat. Noch in der gleichen Nacht will sie ihn lesen. Sie ist ergriffen, berührt von Bayreuth. So sehr, dass sie mehrmals sagt: "You‘re talking to a happy person" (Sie sprechen mit einem glücklichen Menschen).
Happy ist auch Schlingensief. Sein Funke hat gezündet. Und wie. Lange unterhält er sich mit der Kultsängerin. Sie liegen auf einer Wellenlänge, Punk meets Rebell. Reden über gemeinsame Projekte. Patti Smith in "Kunst und Gemüse"? Oder sogar nächstes Jahr im "Parsifal"?? Schlingensief bei Smith auf der Bühne??? Nichts ist unmöglich, scheint es. Wiederkommen will sie unbedingt. Nächstes Jahr, zum "Tristan". Bayreuth hat einen Fan mehr. Die Sängerin, Lyrikerin, Fotografin, die Kultfrau Patti Smith. Die als Kind schon "Madame Butterfly" gehört und Rimbaud gelesen hat, den sie noch immer leidenschaftlich liebt. Die unter anderem Lieder wie "Because The Night" "Radio Ethiopia" oder "Gloria" geschrieben hat.
Gloria überglücklich
Gloria, übrigens, die Fürstin, die früher so gern durch schrilles Outfit gefiel, war auch da, um Schlingensiefs "Parsifal" zu erleben. Sie hat ihn erlebt. Und war überglücklich. Genauso wie der Mann von der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa, Jesco von Puttkamer, der sich über Klingsor und die Rakete freut, den vor allem aber Schlingensiefs Denkanstöße beflügeln.
Der äußere Sturm hat sich längst gelegt. Eine Bilanz: Hunderte von Anrufen bei der Polizei, hoher Sachschaden, umgeknickte Bäume, Wassermassen. Der innere Sturm tobt weiter. Ausgelassen, unberechenbar, schrill, enthusiastisch, kein Sachschaden. Der Punk-"Parsifal" lebt. Andere nennen es Mist, lehnen es ab, sperren sich gegen das, was da auf der Bühne Richard Wagners sich vollzieht. Auch damit kann Christoph Schlingensief leben. Gut sogar. Denn das wäre für ihn wohl die Höchststrafe, wenn plötzlich alle seine Arbeit lieben, verstehen, ihn auch noch geschlossen bejubeln würden. Aber dazu wird es nicht kommen. Da sei Schlingensief vor...
Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2005
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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