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"Begegnungen der vierten Art"
Schlingensiefs Zeitreisen: Mit Parsifal nach Pingvellir.
Von Jörg van der Horst.
"Es ist nur ein Modell.
Es ist mein Entwurf für eine Maschine,
mit der man durch die Zeit reisen kann.
Sie werden bemerken, daß es einzigartig schiefwinklig aussieht und sonderbar flimmert,
so als sei sie irgendwie unreal."
H.G. Wells, Die Zeitmaschine
Es zählt zu den Grundansichten der Theateraktionismen und vitalen Instal- lationen Christoph Schlingensiefs, daß jeder Körper eine Ausdehnung in vier Dimensionen aufweisen muß: die drei Ebenen des Raumes und eine vierte, entscheidende – die Zeit. Dies- und jenseits der Bretter, die die Welt bedeuten, neigt der Mensch von Natur aus dazu, eine unrealistische Unterscheidung zwischen den drei ersten und der vierten Dimension zu treffen, weil sich sein Bewußtsein nun einmal von Anfang bis Ende seines Lebens mit Unterbrechungen entlang der Zeitdimension bewegt. PARSIFAL geht es da nicht anders, denn noch die Kunst gehorcht physikalischen Gesetzen. Wenn er also zum Ende des III. Aufzugs des Jahres 2004 ins ewige Licht geht, kommt der PARSIFAL 2005 an gleicher Stelle aus eben diesem Licht heraus. Die Erlösung hat kein Ende, im Laufe eines Jahres hat sich lediglich die Bühne einmal gedreht. PARSIFAL geht weiter, "zum Raum wird hier die Zeit".
Bei der vierten Dimension, von der hier die Rede ist, handelt es sich um eine Zeitreise durch die Arbeiten Schlingensiefs, deren Einzelteile erst das Gesamtkunstwerk, den Schlingensief-Kosmos, begründen. Als die Zeit endlich gekommen ist, tritt sein PARSIFAL aus der Menge der Teilchen hervor, um anschließend wieder in den Fluß der Projekte einzutauchen. Er steht nicht isoliert im Raum, PARSIFAL hat Anschluß gefunden! Seine Kontakte ragen weit hinaus in den Schlingensief-Kosmos. Sie reichen zurück bis zu den Theaterarbeiten der neunziger Jahre, die sich zunächst gegen die Vierte Wand richten (1oo JAHRE CDU), dann von der Bühne rauschen (ROCKY DUTSCHKE ´68) und schließlich die Auflösung des Theaterraumes selbst für sich entdecken (BITTE LIEBT ÖSTERREICH); sie ragen noch weiter bis zu Schlingensiefs Filmen der DEUTSCHLANDTRILOGIE (1989-1992), die den Verfall eines Raumes mit Namen Bundesrepublik erforschen. Seit 2004 ist PARSIFAL zudem Mitglied der CHURCH OF FEAR, der "Internationalen Vereinigung von Terrorgeschädigten", die Mitbegründer Schlingensief ein Jahr zuvor auf der Biennale in Venedig präsentiert hat. Hier wie dort lassen sich Spurenelemente von PARSIFAL nachweisen. Es behaupte also niemand, Schlingensief sei so ahnungslos an PARSIFAL geraten wie die Jungfrau ans Kind. PARSIFAL und andere Projekte sind stets nur Ausschnitte, dreidimensionale Erscheinungen eines vierdimensionalen Seins, einer Vierten Art [ars, artis; lat. Kunst, Kunstwert].
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Schlingensiefs Parsifal Inszenierung in Bayreuth, zweite Spielzeit, Juli 2005 |
Aus dem Umfeld der Relativitätstheorie wissen wir, daß jeder Gegenstand des Universums mit einer so genannten Weltenlinie beschrieben wird, die alle Punkte und Positionen in Raum und Zeit miteinander verbindet; schneiden sich zwei oder mehr Weltenlinien, findet ein Ereignis statt. Ganz so verhält es sich im Raum-Zeit-Kontinuum der Kunst mit den Arbeiten von Christoph Schlingensief. Dort, wo die Linien des DEUTSCHEN KETTENSÄGENMASSAKERS, ROCKY DUTSCHKES und der CHURCH OF FEAR sich kreuzen, entsteht der Bayreuther PARSIFAL. Die Linie, die dieser seither selbst zieht, führt bei nächster Überschneidung zum ANIMATOGRAPHEN, Schlingensiefs aktueller Arbeit, die dem PARSIFAL insbesondere die Drehbühne verdankt. Schneidet die Weltenlinie irgendeines Teilchens niemals eine andere, so geschieht mit diesem Teilchen absolut nichts, und es ist unwichtig, seinen Ort zu irgendeinem Zeitpunkt zu bestimmen. Mit der Bedeutung ästhetischer Hermetik, der sich Schlingensiefs Gesamtkunst schlüssig versagt, ist es ähnlich. Die Kunst, so sagt er mit Beuys, gehört ins Leben. PARSIFAL gehört ins Leben! Er ist einer von uns, denn er ist der reine Tor. Zumindest ein Spätzünder ist er. Über die zahllosen Interpretationen hinaus, die Wagners Bühnenweihefestspiel seit seiner Uraufführung zuteil wurden, hat PARSIFAL sich doch erst unter Schlingensiefs Kommando auf die beschworene Raum/Zeitreise begeben. Er hat die Grenzen der Mythenwelt übertreten, er hat sogar Bayreuth verlassen, und hat sich auf den Weg in die Lebenskunstwelt von Reiseleiter Schlingensief gemacht. Womöglich wähnt er sich noch immer nicht weit, aber wenigstens schreitet er jetzt in größeren Schritten.
"Wir wissen sehr gut, daß die Zeit nur eine Spielart des Raumes ist."
Im Mai 2005 bereist Schlingensief das von der Zeit vergessene Island auf der Suche nach Motiven für den ANIMATOGRAPHEN, eine begehbare Drehbühneninstallation, innerhalb derer er seine Aktionsfelder Film, Theater, Performance und Oper zu einer übergeordneten Aktionskunst verschmelzen läßt. Die Drehbühne hat er seinem Bayreuther PARSIFAL explantiert, um sie dem ANIMATOGRAPHEN als Leben spendendes Organ wieder einzupflanzen. Sie verwandelt Raum zu Zeit, ist das Herzstück des Projekts. Sie bannt die auf ihr vollzogenen Aktionen und Erfahrungen und projiziert die filmisch, fotografisch, sprachlich und musikalisch gesammelten Dokumente. Mit seinem Filmteam macht Schlingensief Station in Pingvellir, der nationalen Gedenkstätte östlich von Reykjavik. Vor mehr als 1ooo Jahren trat hier das Althing der Wikinger zusammen, eine Art politisch motivierte Gralsversammlung, die den Grundstein des heutigen Parlamentarismus legte. Energetische Aufladung erfährt der Ort durch die eurasische und amerikanische Kontinentalplatte, die hier aus dem Erdinneren hervortreten und jährlich acht Millimeter auseinanderdriften. Einstein stützte seine Theorie auf die Annahme, daß es im Universum keinen Zustand absoluter Ruhe gibt, die Ordnung aller Dinge im Kern also auf Unruhe basiert. Damit ist zugleich die Chaostheorie der Kunst bezeichnet, deren vehementester Vertreter Raumforscher und Ordnungshüter Schlingensief ist. Für seinen ANIMATOGRAPHEN ist Pingvellir also mehr als ein dankbares Filmset vor vulkanischer Kulisse, denn hier treffen Naturgesetze auf politische Programme, Urzeitchaos auf Verwaltungsmaßnahmen. Als zeitlose Zeitzeugnisse fließen die Dreharbeiten in die Präsentation, die Geburt des ANIMATOGRAPHEN ein, die vom 13. – 15. Mai auf dem Reykjavik Art Festival stattfindet; im Sommer 2005 halten sie Einzug in Schlingensiefs PARSIFAL. Der ANIMATOGRAPH ist in Bayreuth angekommen.
Die Weltenlinien ziehen sich fort. Fundstücke des ANIMATOGRAPHEN kehren in den PARSIFAL zurück. Schlingensiefs Modell des ANIMATOGRAPHEN, das sich auf der Wagner-Bühne installiert, mutet an wie eine gewöhnliche Wäschespinne. Ist diese erst aufgestellt und sind ihre Leinwände gespannt, dann entfaltet sich im Kleinen die wahre Größe der animatographischen Projektionsfläche. Sie will begangen, belebt und bedacht sein, nicht von den Künstlern unter den Menschen, sondern von den Menschenkünstlern selbst. Die projizierte Bewegung auf den Flächen und in den Tiefen der Installation wird potenziert durch die Bühnenrotation des ANIMATOGRAPHEN, eine endlose Zeitschleife. So wie das Begehen der Zeit- und Transformationsmaschine zu einer Dopplung der Person führt, indem sie aus dem alltäglichen in den animatographischen Raum tritt und wie in einer Blue Box in die Projektionen integriert wird, so betont Schlingensiefs PARSIFAL den Double-Charakter der Figur; eine Vervielfältigung des eigenen Ichs, mit der es Isolation und Unwissenheit zu kompensieren versucht. Schlingensief stellt ihm, wie auch der Antiheldin Kundry, einen Doppelgänger zur Seite, höhere Wesen, die einerseits die Dualität des Ichs unterstreichen, andererseits die Loslösung von allem Irdischen, wodurch letztlich das Irdische noch mal so sehr bekräftigt wird. PARSIFAL entpuppt sich als Einäugiger unter den Blinden und hat damit beste Aussichten, im ANIMATOGRAPHEN als Odin wiedergeboren zu sein.
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Schlingensiefs Animatograph in Rotation, Reykjavik, 14.05.2005 |
Gralsgeschichte und Sagenwelt verbinden sich zum Mythos Mensch. Die Verwandlungen, mehr noch die Mutationen, die den PARSIFAL vom I. bis zum III. Aufzug prägen, sind identisch mit den Metamorphosen, denen Schlingensief sich und uns im ANIMATOGRAPHEN aussetzt: die Urmutter im Kral mutiert zur personifizierten Edda, der nordischen Götterdichtung. Diese ist Ausgangspunkt der Zeitmaschine, weil sie Wissen vergangener Generationen mit Erlösungsphantasien und Visionen von Zukunft verbindet, die allesamt in die Ragnarök, die Götterdämmerung, münden.
"Auf dieser Maschine werde ich die Zeit erforschen. Ist das klar? In meinem ganzen Leben ist es mir nie mehr Ernst gewesen."
Odins Göttervogel schließlich, der auf Island in Gestalt eines Strauß ins Bild lief, stellt das Schlußbild des diesjährigen PARSIFAL. Er ist symbolischer Mittler zwischen den Welten, zwischen Göttern und Asen, zwischen PARSIFAL und ANIMATOGRAPH, zwischen Kunst und Leben. Wie jede andere Arbeit des Zeitreisenden aus Oberhausen auch, wäre PARSIFAL, der Gegenstand im Schlingensief-Universum, für sich genommen nur ein bedeutungsloser Punkt im Koordinatenkreuz der Kunst. Zum Erlebnis, zum Abenteuer, wird er mittels seiner vielfachen Querverstrebungen, mittels der sich schneidenden Weltenlinien. Wo PARSIFAL die Drehbühne des ANIMATOGRAPHEN betritt, entsteht ein Ereignis mit Nachhall, besser noch: mit Nachbelichtung.
Ganz in diesem Sinne ist zum Ende des Bühnenweihefestspiels der heilende Speer zum Beuysschen Hirtenstab geformt. Es ist Schlingensiefs Glaubensbekenntnis an die Kraft einer menschlichen Kunst.
© Jörg van der Horst
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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