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"Das Licht kommt von innen"


Zuschauer Jean-Marie Thiers, Wagnerverband Frankreich zur Parsifalinszenierung.


"Parsifal" ist keine Schauspielaufführung. "Parsifal" ist eine Idee, deren Geheimnis sich weniger leicht erschließt als die Grundstruktur eines Romans. Es ereignet sich dort nichts. Genau hiervon ist die Rede in Bayreuth Ende August 2004, wo überall darüber getuschelt wurde, dass Herr Wagner versucht war, Herrn Schlingensief mit einer Lanze zu erstechen, aufgrund eines Gewimmels von Hasen auf der Bühne, was, so hieß es, in unverschämter Weise eine unangemessene Fruchtbarkeit der Ritter symbolisiere… Herr Boulez soll angeblich Bayreuth verlassen haben, um die Entrüstung der Zuschauer nicht mehr aushalten zu müssen, die schreiend vor einer Inszenierung standen: "Oh Gott, oh Gott, oh mein Gott… mich stört und mir gefällt das nicht." Man konnte nur hoffen, dass der Vorhang nie mehr aufging für all das, was sich an Verheerendem ankündigte. Zweifellos, mit dem spärlichen Licht im ersten Akt war es nicht möglich, ein Durcheinander zu erforschen, das der Postbote Cheval und André Breton nicht besser hätten machen können. Athleten behandeln die Personen wie Gegenstände, Gefängnis- oder Museumswärter, in der einen wie der anderen Funktion gleichermaßen unbeteiligt und gleichgültig; oft erschließt sich nicht, wozu sie nütze sein sollen, Vektoren, Träger von etwas, das nicht wahrgenommen werden kann. Der Hase, unschuldig und dennoch Anlass zum Ärgernis, überdeckt alles in Form statischer Videos, im Wechsel mit dem Brownschen Rhythmus von Bakterien. Vielleicht suchen sich menschliche Wesen ihren Weg mit dem kärglichen Licht von Funzeln. Wach auf, meine Seele, das Chaos, die Unordnung, das Nutzlose werden sich nicht erklären. Du wirst nicht, wie die Schwachen, sagen: "Aber was hat denn dieser Hase da gerade gemacht?" Das Chaos, das ist die Verwirrung der Gedanken, die noch nicht fertig gedacht oder zu einfach und simpel übertragen sind. Mein eigenes Denken ist dort, auf der Bühne, vollgestopft und behindert von Unnützem. Gurnemanz, in ein unglaubliches Tierfell gehüllt, ist eine zu augenscheinliche Bestätigung hierfür. Die Hybris des Geistes wird betont durch die Technik der Drehbühne, die unablässig auf das gleiche unkontrollierbare, wenngleich nach und nach gereinigte Universum verweist. Chaos! Eingeschlossensein! Allgegenwärtige Schranken, unvollendete Bögen, die Ähnlichkeit haben mit Fähigkeiten und kraftvollen Möglichkeiten. Das bin ICH.




Das Auftauchen des herrlichen, unbefleckten Einfaltspinsels verweist auf Amfortas‘ besudelte Reinheit, und das grundlegende Band ist geknüpft. In einem kümmerlichen Licht verteilt Amfortas großzügig sein Blut ­ Ursache von Verwirrung und Geschrei ­ und die Vertreter aller Riten kommen und tauchen ihre Hände in dieses Blut und drücken sie dem Kleid der Schlichtheit und Einfältigkeit auf.


Das Licht ist nicht nötig, es kommt von innen.


Christoph Schlingensief hat den Mythos in den Mittelpunkt des Dramas gestellt und gibt diese Idee nicht mehr auf. Parsifal ist der Sündenbock, aus dem die gewaltige Macht des Heiligen, die seiner natürlichen Kraft entgegengesetzt ist, ein Schlachtopfer macht. Die Verwirrung geht von Amfortas auf Parsifal über in der Hoffnung, das Durcheinander zu beenden, indem das auserkorene Opfer Buße tut. Aber das wird nicht funktionieren. Der Kampf zwischen Rot und Weiß hat begonnen, das Schlachtopfer ist bestimmt und hat den Ruf, seine Rolle anzunehmen, um die Verwirrung und das Chaos abzuwenden, die durch Amfortas‘ Verfehlung entstanden sind. Unfähig, sich zu einigen, wenden die Träger des Heiligen Gewalt gegen Parsifal an, um ihre Auseinandersetzungen zu beenden. Der Sündenbock steht fest, konfrontiert mit den Dauermythen der Menschheit bis hin zu dem Christus, der alle Bildnisse zerstört, während ganz einfache und harmlose Menschen, gedankenlos und ohne böse Absicht, nämlich die Zuschauer, in aller Unschuld die Objekte des Mythos verkennen: quälender Tod des namibischen Hasen, Schwindligwerden vor der Frau; oder aber sie erleben die Opferung teilnahmslos. Die Einstimmigkeit, die sich rund um die Übertragung von Amfortas‘ quälender Last an Parsifal einstellt, entstammt einer angepassten Gesellschaft, in der alle Rituale aufeinander abgestimmt werden, um den Protest des Opfers nicht wahrnehmen zu müssen. Parsifal, fern der Offenbarung, erleidet den Mythos der Opferung. Auf diese Weise reinigen sich alle Gesellschaften, um ihre schlechten Erlebnisse abzustreifen, auch wenn das erlösende Ritual lediglich ermöglicht, das ausgesuchte Opfer in seine Rolle zu zwingen.

Im zweiten Akt, heller, mit beständigeren Videobildern, tauchen dauerhafte Strukturen auf, ein Haus, die Struktur von Bögen. Das Unnütze ist noch in Fülle vorhanden, so wie die Menschen aller Zeiten sich mit Modellen belasten, während die Elemente der Wahrheit bereits bekannt sind, sich aber noch nicht offenbart haben. Parsifal ist im Besitz der Lanze, denn als Schlachtopfer ist er fähig, Teil der gewaltigen Macht des Heiligen zu sein. Er ist auch im Besitz des Schäferstabes. Klingsor nimmt die Lanze an sich, um sie gleich darauf wieder frei- zugeben, ahnend, dass ihm das Zeichen der Gewalt nicht nützen wird, wenn er nicht gleichzeitig der ruhigen und gelassenen Überzeugungskraft mächtig ist. Dieses Detail ist wichtig für die Darbietung, es fixiert den Moment, in dem der Mythos zu bröckeln anfängt, da das ausgesuchte Opfer seine Verurteilung nicht akzeptiert hat; es stellt sich den Blumenmädchen und der Macht der Dunkelheit entgegen sowohl mit seinem Protest als auch mit der Kraft seines Mitgefühls. Parsifal ist nicht mehr Opfer. Auf seinem Kleid, nun wieder unbefleckt und blütenweiß, bleibt nur das durchbohrte Herz dargestellt, während hingegen Kundrys Kittel voller Blut ist. Der Opfertransfer ist vollzogen: die Glitzerpuppe, wenig überzeugend, mit angepasstem Verhalten, entblößt sich physisch, gibt das unangemessene jungfräuliche Zeichen von überholtem Reiz auf und wird zur Trägerin des Opfers, dem sie sich aus freien Stücken ausliefert.




Es ist alles gesagt, Parsifal kann zum Befreier des dritten Aktes werden. Hierzu muss er seinen Anklägern so erscheinen, wie sie ihn zurückgelassen haben, damit sie ihn wieder erkennen und er nicht als neu auftauchende Macht erscheint. Er wird folglich seine Transzendendierung als vollkommen verwandeltes Opfer vollbringen. Seine Überzeugung geht über die nachahmenden, zusammengepferchten Völker hinaus, verherrlicht Kundry als Hottentotten-Venus, die Trägerin allen Zwanges und aller Knechtschaft ist, was diejenigen, die die Mythen unbewusst gebrauchen, verkennen. Schlingensief sammelt die Zeichen, wie er die Indizien gesammelt hatte. Die Videos nehmen feststehende Bilder auf, das Haus wird zum Dorf, umgeben von einer bedrohlichen Mauer, die Tiere erstarren, die Menge, endlich im vollen Licht zu sehen, zeigt sich in ihrer Verschiedenartigkeit. Gurnemanz schüttet, zusammen mit einer Statistin, eine bemalte Leinwand aus, wie um einzufordern, dass sie der Reinheit zurückzugeben sei. Das Rot verblasst vor dem Weiß, das den gesamten vorderen Teil der Bühne überschwemmt. Der Gral kann erscheinen. Schlingensief erlöst die Menschheit jedoch nicht durch einen Machtwechsel.


Der gehörnte Meister


Parsifal kann nicht wie seine Vorgänger herrschen, dafür müsste er ihre Gewalttaten erneut in Anleihe an "die antike Straße der perversen Menschen" begehen. Und davor wird klar gewarnt: In einer schier unerträglichen Videosequenz hebt ein gehörnter Meister-Gott-Satan-Guru, ganz in Rot gekleidet wie seine Anhänger, den Kelch hoch. Das Ritual als Selbstzweck, das nachahmende Erblinden, die Karikatur der Transzendenz sind da, bedrohlich bis zum letzten Augenblick. Aber Parsifal senkt nicht die Stirn vor seiner Initiationskraft. Die Menge, im Gegenlicht, ist noch in der Höhle. Schatten und Realität sind noch nicht voneinander getrennt. Die Pythia-Kraft lastet auf Amfortas. Parsifal will nur erlösen, nicht herrschen. Die Mythen müssen sterben. Und sie sterben, so wie die Hasen an ihren eitrigen Geschwüren verfaulen, genauso ekelerregend wie die Exzesse, die sie einst erzeugt haben. Die Großartigkeit des Themas zeigt sich: Ganz hinten auf der Bühne, versperrt durch eine weiße Etamine, öffnet sich eine kleine Türe, die ein intensives weißes Licht durchlässt, wie eine lange gesuchte Wahrheit, die stört, so wie eine Erkenntnis, während Parsifal, Mensch, ohne Speer und Stab, erschöpft, allein, klein, schmucklos, aber aufrecht in das Licht tritt und hinter sich alle versteinerten Bilder zurücklässt. Gewiss, Wagner hat keine christliche Oper geschrieben. Er ist eingetreten für eine Menschheit, die durch einen Akt des Bewusstwerdens erlöst wird. Schlingensief hatte die Kühnheit, die antiken und modernen Quellen der Anthropologie des Heiligen heraufzubeschwören. Er hat den Gedanken Wagners, ursprünglich tastend und suchend, bearbeitet und enthüllt. Es wäre schade, Parsifal von nun an einen Platz im Pantheon der Mythen zuzuweisen, ihn auf eine einfache Wiederkehr zu reduzieren. Er bricht die Mythen, deren bequemster der ist, dass schicksalshaftes Herrschen, das von Natur aus gut und von allen akzeptiert ist, unvermeidlich degeneriert. Parsifal unterbricht diese Verkettung, indem er den Befreier aus seiner mystischen Bedingung befreit. Man kann nun an das dialektische Denken Zoroasters erinnern, in dem der religiöse Mensch die Idee des Schlachtopfers abschafft, da er zum Guten und nicht zur Sünde geboren ist, im Gegensatz zur christlichen Denkungsart. Natürlich darf man Zoroaster bei seinem persischen Namen, Zarathustra, nennen. Diese bescheidene Schönheit, eine kleine Türe zu der gewaltigen Aufgabe, die es zu erfüllen gilt, entfernt den Zuschauer von der Apotheose oder vom Scheiterhaufen, befreit seinen Geist vom anfänglichen Durcheinander und lässt ihn dem Licht gegenübertreten, dem er sich aus freien Stücken anschließen kann, während die Musik ausklingt. Man muss den "Parsifal" in der Inszenierung von Christoph Schlingensief immer und immer wieder sehen, um zu spüren, wie uns die Emotion des Wagner‘schen Werkes ergreift und überflutet, bis hin zu Tränen der Freude.


Jean-Marie Thiers, ein begeisterter Wagnerianer, besucht seit 25 Jahren die Bayreuther Festspiele. Im August 2004 brachte er seine Eindrücke von der "Parsifal"-Inszenierung Schlingensiefs zu Papier. Gisela Brambrink-Lattermann hat den Text übersetzt.



Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung

- Parsifal Bildergalerie 2007 - Fotos der vierten und letzten Spielzeit 2007
- Parsifal Pressespiegel 2007 - Pressestimmen zur vierten und letzten Spielzeit
- Parsifal Pressespiegel 2007 (PDF) - Gesammelte Rezensionen als PDF-Datei
- "Schlingensief ist für mich der reale Tannhäuser" - Interview Philippe Arlaud
- Schlingensief träumt vom "Tristan" in Bayreuth - Schlingensief im Gespräch
-  "Meistersinger" 2007 - Radiokritik zu Katharina Wagners Debut in Bayreuth
- Probengalerie Parsifal 2007 - Fotos der Vorbereitungen zum Parsifal 2007
- Parsifal Bildergalerie 2006 - Fotos der dritten Parsifal Spielzeit 2006
- "Du hast mich inspiriert" - Interview K. Wagner / C. Schlingensief (23.07.07)
- "Opera Review" - A Personal Experience at Bayreuth by David W. Kline
- "Der erweiterte Wir-Begriff" - Boris Groys und Carl Hegemann zum Parsifal
- "Werkstatt Bayreuth" - Carl Hegemann zur Non-Rekralisierung
- "Begegnungen der vierten Art" - Schlingensiefs Zeitreisen, von Jörg v.d. Horst
- "Das Licht kommt von innen" - Jean-Marie Thiers zur Parsifalinszenierung
-  Boulez in Deutschlandradio - Pierre Boulez zur neuen Parsifalinszenierung
- Parsifal Bildergalerie 2005 - Fotos der zweiten Parsifal Spielzeit 2005
- "Alles schreit" - Notizen zur Parsifal-Inszenierung von Carl Hegemann
- "Der erweiterte Hasenbegriff" - Drei Essays zum Parsifal, div. Autoren
- "Wege zu Parsifal" - Kaum noch Illusionen über die Illusion. Von P. Boulez
- "Zum Raum wird hier die Zeit" - Ein Beitrag des Schriftstellers Peter Nadas
- "Der Todestag" - Christoph Schlingensief im Interview mit der FR (2004)
- "Weehee, Weheee" - Schlingensief im Interview mit dem Tagesspiegel (2004)
- "Ein metaphysisch obdachloser Metaphysiker" - Interview mit der SZ (2004)
- Parsifal Pressespiegel 2004 - Pressestimmen zur ersten Spielzeit 2004
- Parsifal Bildergalerie 2004 - Fotos der ersten Parsifal Spielzeit 2004
- Bayreuther Festspiele - Offizielle Homepage der Bayreuther Festspiele
- Parsifal Libretto - Libretto zu Richard Wagners Parsifal als Onlineversion

Bayreuth Dossier

- Parsifal Übersicht

- Parsifal Rezensionen
   2007 als PDF


- Philippe Arlaud über
   Schlingensiefs Parsifal

- Schlingensief träumt
   vom "Tristan" in
   Bayreuth

-  Deutschlandradio zu
   K. Wagners Debut

- Gespräch K. Wagner /
   C. Schlingensief (FR)

- Parsifal Review
   by David W. Kline

- Groys / Hegemann:
   Der erweiterte
   "Wir"-Begriff

- Carl Hegemann:
   Werkstatt Bayreuth

- Jörg van der Horst:
   Begegnungen der
   vierten Art

- Wagnerverband
   Frankreich: Das Licht
   kommt von innen

-  Pierre Boulez
   zum Parsifal 2005


- Carl Hegemann:
   Alles schreit

- Der erweiterte
   Hasenbegriff

- Peter Nadas: Zum
   Raum wird hier die Zeit

- Pierre Boulez:
   Wege zu Parsifal


- FR Interview mit
   Schlingensief (2004)

- Der Tagesspiegel
   Interview mit
   Schlingensief (2004)

- SZ Interview mit
   Schlingensief (2004)



Bilderstrecken

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Pressespiegel

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Externe Links

- Bayreuther Festspiele
- Parsifal Libretto





Parsifal
Inszeniert von Christoph Schlingensief
Bayreuther Festspiele
2004 − 2007

Dirigent: Pierre Boulez

Inszenierung:
Christoph Schlingensief

Chorleitung:
Eberhard Friedrich

Bühnenbild:
Daniel Angermayr, Thomas Goerge

Kostüme: Tabea Braun,
Aino Laberenz

Video:
Meika Dresenkamp, Monika Böttcher

Lichtdesign:
Voxi Bärenklau

Künstlerische Mitarbeit: Carl Hegemann

Darsteller:
Amfortas: Alexander Marco-Buhrmester; Titurel: Kwangchul Youn; Gurnemanz: Robert Holl; Parsifal: Alfons Eberz; Klingsor: John Wegner; Kundry: Michelle de Young; 1. Gralsritter: Clemens Bieber; 2. Gralsritter: Samuel Youn; 1. Knappe: Julia Borchert; 2. Knappe: Atala Schöck; 3. Knappe: Norbert Ernst; 4. Knappe: Miljenko Turk; Klingsors Zaubermädchen: Julia Borchert, Martina Rüping, Carola Guber, Anna Korondi, Jutta Maria Böhnert, Atala Schöck; Altsolo: Simone Schröder

Webredaktion:
Jörg van der Horst, Patrick Hilss