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FREAKSTARS 3000 - DER FILM (2003)
"Eine großartige Persiflage auf weit mehr als nur das Superstar-Gedöns im Fernsehen, eine sehr humorvolle Unterhaltung - und vor allem: eine Show mit behinderten Menschen als alleiniger Mittelpunkt ohne jedes Verständnis- gesäusel. Das dürfte einzigartig sein!" (Frankfurter Rundschau)
Nach einer Idee des deutschen Aktionskünstlers und Theatermachers Christoph Schlingensief startet Regisseur Hans-Joachim Paczensky im April 2002 ein TV-Projekt, das geistig und körperlich Behinderte bewußt in den kreativen Prozeß des Fernsehmachens einbeziehen soll. Mehr noch, übernehmen sie die Federführung eines Projekts, das in der (deutschen) Fernsehgeschichte seines gleichen sucht – und es in rauhen Mengen findet. Nach Dreharbeiten im April und Mai des Jahres gehen die FREAKSTARS 3OOO, eine Zusammenarbeit der ROYAL Produktion Berlin mit der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz im Auftrag von VIVA / VIVA Plus, am 8. Juni erstmals auf Sendung. Die sechsteilige Reihe beschert dem Jugend- und Musiksender Traumquoten und löst eine Debatte um die Alltäglichkeit von Behinderung aus, innerhalb derer auch Albträume wahr werden.
INHALT
FREAKSTARS 3OOO ist ein 3o-minütiges Magazin für eine vermeintlich normale Gesellschaft, die vermeintlich sonderbare Zeitgenossen als behindert abstempelt und auslagert, um sich die himmelblau lackierte Fernsehtristesse nicht zu versauen – eine wahre Aktion Mensch, von Beschränkten für Beschränkte. Zwischen Hochglanzvideos aus den HipHop-Getthos und coolen bis schockgefrosteten VJ´s holen Bewohner des Tiele-Winckler-Heims in Berlin-Lichtenrade vereinsamte Zielgruppen ins Leben und Reißbrettfernsehen auf den harten Boden der Tatsachen zurück. Innerhalb einer zur Ödnis verkommenen TV-Landschaft, in der geistige Provinzfürsten wie Gottschalk, Maischberger oder Kerner das Zepter schwingen, holen die FREAKSTARS das Bild hinter dem Bild vor die Kamera. Episoden wie Freakman, Homeshopping und Presseclub führen ad absurdum, was Medienwissenschaftler als richtungsweisend und Fernsehkritiker als Boom bezeichnen. Die FREAKSTARS laden ein zur großen Expeditionsreise durch die nur noch mäßig magischen Kanäle eines Marshall McLuhan. Sie halten den Einschaltquotenreglern und Marktanteilsnehmern, den Zuschauern, einen Spiegel vor, aus dem eine bisweilen schwer erträgliche Fratze zurück gafft.
Angelehnt an den unverklappten RTL2-Müll POPSTARS, aus dem heraus selbsternannte Tanztrainer und Psychotherapeuten Retortenbands wie die No Angels oder Bro´Sis kramten, zieht sich das Casting für die Band MUTTER SUCHT SCHRAUBEN durch alle FREAKSTARS-Folgen. Vom ersten Vorsingen bis hin zum Premierenauftritt und zum Release des Debutalbums wird dabei die alles beherrschende und dennoch längst rhetorische Frage gestellt, die auch Regisseur Paczensky umtreibt: "Was heißt eigentlich normal? Und wer ist hier behindert? Wie funktioniert ein Rollstuhl und wer bestimmt, wer drin sitzt und wer schiebt? Nur die Phantasielosen stürzen sich in die Realität und, wie billig, zerschellen daran!"
Christoph Schlingensief, Idee und Buch: „Die Depressionsrepublik Deutschland braucht ein Gegenmodell. Ein Modell, das es längst gibt! Ein Modell mit dem Namen: SYSTEM 2. Motto: Wir sind gesund und ihr seid krank! Uns seht ihr so, wie ihr selbst seid!“
Bei FREAKSTARS 3OOO arbeiten Paczensky und Schlingensief auch mit Kollegen und Freunden zusammen, die sie bereits bei anderen Projekten begleitet haben. Helga Stöwhase (bekannt geworden als Nena und Sabine Christiansen), Kerstin Grassmann (bekannt geworden als Lebensgefährtin von Oliver Kahn und Telefonjoker bei Günther Jauch), Mario Garzaner (Rudi Dutschke und Karl Moik), Werner Brecht (Franz-Josef Strauß und Träger des Iffland-Rings für seine Darstellung des Erich Böhme in der n-tv-Inszenierung TALK IM TURM) konstruieren ihre ganz eigene Medienwirklichkeit und zeigen Herrn Schmidt, wie Dadaismus im Fernsehen tatsächlich aussieht. Gemeinsam mit Neuentdeckungen wie Michael Binder und Horst Gelonneck fordern sie keinerlei Mitleidsbonus, weder für die „Bekloppten“ noch für die „Originalverpackten“ (Dieter Bohlen). Es kommt lediglich zu Gegenüberstellungen der gesundheitlich minder Bemittelten und der in Alltag und Medien minder Vermittelnden, deren Eloquenz und Ernsthaftigkeit immer auch den Hauch des Erhabenen und Welterklärenden mit sich schleifen.
Neil Young-Fan Horst Gelonneck („Crazy Horst“), Vocals und Trompete bei MUTTER SUCHT SCHRAUBEN: „Um eines deutlich zu sagen: Sollte irgendein Heilsbringer FREAKFILM besuchen, um Verständnis zu heucheln oder sein Gewissen zu polstern, dann fordere ich ihn jetzt schon auf, Kinokarte und Popcorn ins Klo zu schmeißen. Unsere Zappingtour ist kein Akt der Menschlichkeit und unterstützt keinen guten Zweck. Die Freakstars sind keine Missionare, auch wenn es viel zu missionieren gäbe: prämenstruierende Girlgroups, Grinsautomaten, nekrophile Volkstümler und alkoholabhängige Moderatoren, die nüchtern an das Gute im Menschen appellieren…“
Kerstin Grassmann: „Ihr Manager der Welt, ihr seid doch alle krank! Das Geheimnis eurer Krankheit ist die Menschengattung selbst. Revolution ist Krankheitskraft, sonst wäre es ja keine. So viel Schizophrenie wie heute war nie! 18-jährige Popmatratzen schreiben Memoiren und der Verteidigungsminister grölt „Es gibt nur einen Rudi Völler“. Mit diesen Klonkünstlern muß es ein Ende haben. Sterbehilfe für alle, für alle Spaßapostel und trocken gelegten Gesundbrunnen!“
FREAKFILM 3OOO sucht Mitstreiter, keine Fangemeinde. Die Freakstars rekrutieren die Bewohner der Geschlossenen (Fernseh-)Anstalt Deutschland und erklären Einfalt und Aussatz auf allen Bildschirmoberflächen den einzig wahren Medienkrieg. „Krücken zu Pflugscharen“, so Regisseur Paczensky, „um diesen brach liegenden Acker einmal komplett umzugraben! Wir machen die wirklich Blinden sehend.“
So wie FREAKSTARS 3OOO hat auch der FREAKFILM im Anschluß an seine Pressevorführung Begeisterung und harsche Ablehnung gleichermaßen hervorgerufen. DER SCHNITT spricht von einem „grandiosen Neuanfang für den Deutschen Film“, die FAZ registriert eine Neudefinition des Autorenfilms, „bei dem die Macher nicht nur Regie führen, sondern auch alle Haupt- und Nebenrollen besetzen“. CINEMA hingegen sieht im FREAKFILM eine „talentfreie, weil von Krankheit verseuchte Zone“, die BUNTE „ein Deutschland, das es so nicht gibt und das wir auch nicht wollen“.
Einem empörten und durchaus bekannten TV-Gesicht, das sich in einem Brief an Regisseur Paczensky persönlich über FREAKFILM 3OOO beschwerte und eine Inkenntnissetzung der Landesmedienanstalt ankündigte, schrieb Paczensky ebenso persönlich zurück:
„(…) Ihre harsche Aburteilung beruht auf einer Ansammlung von Vermutungen, die ich Ihnen nicht nehmen will. Da gerade Sie aber um die Verhältnisse im Fernsehapparat wissen, führt Ihre Argumentation vollkommen und offenbar willentlich in die Irre. In aller Bescheidenheit nehmen wir, die Freakstars, zufrieden, aber nicht selbstzufrieden zur Kenntnis, daß jener Umgang mit dem Thema Behinderung, der in Ihrem Schreiben zum Ausdruck kommt, Ursprung und Antrieb für die Realisation der Kinoversion gewesen ist. Ihre abschließende Vorhaltung, der Film trete nicht für einen „ungezwungenen Umgang mit Gehandicapten“ ein, richtet sich meinem Verständnis nach gegen Ihren Beitrag selbst. (…)
Ich betrachte es nicht als meine Obliegenheit, Ihre Zweifel an einer „angemessenen Aufklärung“ der an den Dreharbeiten Beteiligten über Intention und Inhalt der Produktion zerstreuen zu müssen. Seien Sie Ihrerseits aber bitte so freundlich und registrieren Sie folgenden Sachverhalt: Das Filmkonzept war mitnichten ein „Schnellschuß“, der sendefähigen Version ging eine siebenmonatige Vorbereitungszeit voraus. Nicht minder frühzeitig und unverkrampft gestaltete sich der Kontakt zu den Darstellern, allesamt Bewohner des Tiele-Winckler-Hauses in Lichtenrade. Das Tiele-Wickler-Haus ist eine gemeinnützige Einrichtung der Stiftung Diakonissenhaus Friedenshort, das sich seit über 90 Jahren für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung einsetzt. Es wäre sicherlich interessant, die an FREAKSTARS und FREAKFILM engagiert mitarbeitenden Betreuer, geschult durch ihren täglichen Umgang mit den Hausbewohnern und nicht weniger geschult durch den alltäglich-gesellschaftlichen Umgang mit eben diesen, mit ihrer fahrlässigen und schlichtweg abstrusen Bemerkung zu konfrontieren, der Film knüpfe an „nationalsozialistische Propaganda zur Rechtfertigung der Euthanasie- und Massenvernichtungsprogramme“ an. (…)
Ebenso wenig ist der Filmtitel aus einer „Bierlaune“ heraus entstanden. Erlauben Sie mir jedoch die Frage, weshalb Sie zur Definition des Freakbegriffs ganz offensichtlich ein Lexikon zu Rate ziehen, anstatt ihn assoziativ und gemäß seiner umgangssprachlichen Bedeutung fließend zu erklären? Indes erwidere ich Ihre Frage, ob bei der Produktion „überhaupt an die Zuschauer“ gedacht worden sei, dahin gehend ausdrücklich mit Nein, als es nicht darum ging, einem Publikum jedweder Altersklasse einen schlichtweg unterhaltenden Abend zu ermöglichen. Daß es trotzdem möglich ist, über die Darsteller und ihre Authentizität zu lachen, ist letztlich ihrem schier unerschöpflichen Vorrat an Ausdrucksmöglichkeiten zu verdanken. Wieso also soll das ungeschriebene Recht der Mitwirkenden auf Selbst-Darstellung hinter Ihrem Recht auf Abendunterhaltung zurück stehen? Fühlten Sie sich penetriert, Herr …? War Ihnen der cineastische Anblick Behinderter in Verbund mit dem nicht inszenierten Ausdruck von Lebensfreude unangenehm? Sehen Sie den Ihrerseits angeführten Art. 1 GG tatsächlich im Hinblick auf die Arbeit mit Behinderten vor einem großen Publikum verletzt? Geht es Ihnen wirklich um eine Verletzung der Würde behinderter Mitmenschen? Oder geht es nicht vielmehr darum, daß Sie es sich selbst in Ihrer Menschenwürde bequem gemacht haben und sich jede Infragestellung Ihres ganz eigenen Wertekanons verbitten? Gestatten Sie mir die keineswegs schadensfrohe Diagnose, daß es offensichtlich gelungen ist, Ihre lieb gewonnenen Sehgewohnheiten zu brechen! (…)
Unverständlich auch Ihre Auffassung, jugendliche Zuschauer könnten „aufgrund ihrer Entwicklung noch nicht genug differenzieren“, ein Pubertierender dächte „über behindert und gesund“ überhaupt nicht nach. Wollen ausgerechnet Sie sich anmaßen, potentiellen Differenzierungsproblemen junger Menschen im Verlauf Ihrer allwöchentlichen Fernsehpräsenz Rechnung zu tragen? Woher nehmen ausgerechnet Sie Ihre Weisheit, daß Sie mehrmals in Ihrem Schreiben Heranwachsende zu „trashkonsumierenden Dummköpfen“ degradieren? Hätten Sie sich die Mühe gemacht, das seit Erstausstrahlung der FREAKSTARS 3OOO unter www.freakstars3000.de zur Verfügung stehende Zuschauerforum gegenzulesen, dann hätten Sie nicht erst auf den zweiten Blick festgestellt, wie interessiert und differenziert die von Ihnen abqualizierte Altersklasse – und nicht minder Angehörige anderer Altersklassen – über das Thema Behinderte im Alltag und Fernsehen nachgedacht und sich ausgetauscht haben. (…)
Ihrer Beschwerde bei der Landesmedienstalt Nordrhein-Westfalen sehe ich mit Spannung entgegen. Seien Sie bitte so gut und räumen Sie in dieser auch dem Umstand Platz ein, daß der Programmrat des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) die Verwertung des FREAKSTARS-Konzepts abgelehnt hat; nicht etwa aus Gründen menschenverachtender Inhalte, sondern weil „das eingereichte Konzept keinerlei Aussicht auf zufriedenstellenden Zuschauerzuspruch und einen dementsprechenden Marktanteil“ biete (an Herrn Schlingensief und mich gerichteter Brief vom 12.9.2001).“
DATEN: FREAKSTARS 3000 - DER FILM
Idee und Regie: Christoph Schlingensief; Redaktion: Karl Koch, Jörg van der Horst; Schnitt: Robert Kummer; Kamera: Dirk Heuer und Meika Dresenkamp; Musik: Uwe Schenk; Ausstattung: Heike Meixner und Mascha Deneke; Produziert von der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Zusammenarbeit mit Royal Produktion und Filmgalerie 451
Mit Achim von Paczensky, Helga Stöwhase, Kerstin Graßmann, Mario Garzaner, Werner Brecht, Horst Gelonneck, Axel Silber, Brigitte Kausch-Kuhlbrodt, Susanne Brederhöft, Irm Hermann, Christoph Schlingensief
D' 2003, ca. 80min, FSK 6, Deutschland-Premiere bei den Hofer Filmtagen, Oktober 2003; Internationale Premiere IFF Rotterdam Januar 2004
Weiterführende Texte zu Schlingensiefs Filmen
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