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Foto: David Baltzer
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Portrait Christoph Schlingensief


von Dietrich Kuhlbrodt, erschienen 1989, EPD-FILM

Anfang der 80er Jahre war der Neue Deutsche Film in die Jahre gekommen und reagierte betroffen und weinerlich auf den Verlust der politischen und auch ästhetischen Utopien. Eine Krise der Sinnstifter, diagnostizierte der Filmenthusiast Christoph Schlingensief, und eine Neurose, die nicht die seine war. Statt sich als Opfer zu fühlen und dem verlorenen Glauben an den Fortschritt hinterherzutrauern, schlug er zu Beginn des Jahrzehnts – 1980 war er 20 Jahre alt – eine Täterkarriere ein (“Die verbrecherische Lust, einen Film zu machen”), d.h. er kultivierte den Glauben an sich. Ohne jede Rücksicht auf die Normen des Erzählkinos oder auf die Theorien der Avantgardekunst oder auf die Verwertbarkeit seiner Filme begab er sich als Abenteurer, Held und Einzelkämpfer auf die Suche nach Ausdruck für eigene Bilder, eigene Mythen und eigene Symbole. Schlingensiefs Kreativität nutzt den Film als Bilder-Medium in seiner ganzen Breite. Die Expressivität, die im Stummfilm möglich war, wird wieder Gegenwart, und der Glaube an die (eigene) Emotionalität, die der narrative Film, aber auch der politische und experimentelle Film in den beiden Jahrzehnten zuvor ausgetrieben hatte, ist wiederhergestellt. Selbstredend mit allen Unwägbarkeiten, aber auch mit allen Hoffnungen.

Es ist richtig, daa Schlingensief keiner Schule angehört (auch wenn er Assistent von Werner Nekes war), noch daa er eine solche begründet hat (auch wenn er Film in Offenbach und Düsseldorf gelehrt hat). Aber er hat Paten. Auf Bataille beruft er sich (“Wir müssen unseren Kindern die merkwürdige Abweichung beibringen, die der Ekel ist”). Wir wollen ihm Artaud beiseite stellen: “Das Aufkommen des Kinos fällt zusammen mit einer Wende im menschlichen Denken – mit genau jenem Zeitpunkt, an dem die Sprache, verbraucht, ihre Symbolkraft verliert. Das klare Denken genügt nicht. Es definiert eine bis zum Übelwerden verbrauchte Welt.”

Die verbrauchte Welt der Väter und Mütter, der Avantgardeforscher und der alt gewordenen Jungfilmer, des Dr. Faustus und des Teufels, des Adolf Hitler und seiner Getreuen im Führerbunker – sie wird in Schlingensiefs Filmen ins Extrem und in die Katastrophe getrieben; nur wer das Überleben trainiert (und das Bilder-Lesen gelernt) hat, überlebt, und das sind stets die mehr oder minder deformierten Kinder dieser Eltern. Schlingensiefs Filme sind daher katastrophale Familienfilme aus der Sicht der Pubertierenden (“Ich mache pubertäre Filme”, sagt er, wobei das Adjektiv für ihn – Rimbaud! – positiv besetzt ist). Die Katastrophen sind austauschbar, niemals “Thema”; sie dienen den Jungen als Stimulanz, sich selbst zu behaupten. Schlingensiefs Familienserie vermittelt Überlebenstraining – für die, die auch das Sehen trainieren möchten. Wobei nötig ist, sich von den außermedialen (literarischen) Eingrenzungen des Bilder-Mediums zu befreien. Eine vom Erzählkino noch nicht korrumpierte Seh-Erfahrung ist gefordert – eine Erfahrung, die jeder wie selbstverständlich aus anderen Medien mitbringt, wenn er Musik hören kann, ohne sie auf einen Text oder einen Gedanken reduzieren zu müssen. Schlingensief, der noch in den ersten beiden 80er Jahren in einer Musikgruppe spielte (Vier Kaiserlein), versucht in seinen Filmen, die Seh-Erfahrung von den narrativen Fesseln zu befreien und Filmverständnis wie Filmkritik zu beleben. Selbstverständlich geschieht dies lustvoll-bildhaft und keineswegs argumentativ-diskursiv.


Mit der “Trilogie zur Filmkritik – Film als Neurose” (1983/84) entwirft er sein erstes Sehsportprogramm. Die beiden ersten Teile, Kurzfilme, erhellen die reduzierte, ja unmündige Position des Zuschauers (Filmkritikers). In PHANTASUS MUSS ANDERS WERDEN (1983) harrt auf einstweilen sprachlose Säuglinge die Aufgabe, sich dereinst aus Normen und Zwängen sowohl der Familie als auch der Kunstformen zu befreien. Daa dieser Befreiungskampf jedenfalls filmisch mit höchstem Lustgewinn verbunden ist, lehrt WHAT HAPPENED TO MAGDALENA JUNG? (1983), denn Magdalena, die fliegen kann, widerspricht mit größtem Vergnügen sowohl den physikalischen Normen als auch den Vorschriften für filmischen Realismus. Im letzten Teil der Trilogie, dem 75-Minuten-Film TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA (1983/84), entwirft Schlingensief mit animatorischer Geste zum erstenmal seine eigenen Spielregeln, Filmbilder ohne theoretisches Vorverständnis zu erfassen, operabel zu machen und für eigene Zwecke zu benützen.

TUNGUSKA ist ein Film von unten. Denn was hat man von den achtzig Theorien, die die Tunguska-Katastrophe von 1908 erklären wollen? Trotz immensem akademischen Aufwand bleibt die Ursache der gigantischen Explosion in Sibirien unbegreiflich. Schlingensief liefert also nicht die 81. Katastrophentheorie, aber er bringt das Katastrophale nahe; am nächsten ist es, wenn es in die Familie einbricht, wenn zum Beispiel Tina und Rolf, schon erwachsene, aber unerfahrene, arglose und daher so gut wie autistische Zuschauer im heimischen Flußgebiet in die Hände tyrannisierender und vampyröser Avantgardeforscher geraten. Die Forscher grenzen aus, schränken das Sehfeld ein, machen Vorschriften. Was ist zu tun? Schlingensiefs Abenteuerfilm ist ein Spiel-Film, der Spiel-Regeln aufstellt, die es erlauben, die optischen Schätze mit ihren emotionalen Genüssen zu heben. Es geht darum, die mit diesem Film symbolisch hingestellten Kisten zu öffnen. Dieses Vergnügen beherrscht jeder, der zu Haus die richtigen Disketten hat und schon einmal mittels Joystick durchs Programm gefahren ist, Tür & Tor, Kisten & Kasten öffnend auf der Suche nach dem großen Geheimnis.


TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA ist ein Vergeltungsschlag gegen den tödlichen Ernst, mit dem die realen Avantgardeforscher dem Publikum die neuen Sehweisen einzubleuen suchten. Schlingensief plünderte frohgemut, was in den Amtskisten bis dahin vor unbefugtem Gebrauch geschützt war. Mit Lust & Liebe und durchaus mutwillig ging er mit allem um, was der experimentelle Film zäh und fleißig erarbeitet hatte. Er genierte sich nicht, gleichzeitig einen Heimatfilm, einen Actionfilm und eine Show darzubieten. Und da das TUNGUSKA-Spiel eine atemberaubende Abrechnung mit zwanzig Jahren Filmgeschichte und Kunsttheorie ist, war es nicht übertrieben, Schlingensiefs ersten großen Film einen genialen Wurf zu nennen. Denn zum erstenmal war ein Bild gefunden, ein Ausdruck, der es erlaubte, die Hilflosigkeit, Unerfahrenheit und Verletzlichkeit des normalen Zuschauers anschaulich und erfahrbar zu machen, wie er von Eltern, Lehrern oder eben Forschern auf ziemlich anormale, ja perverse, aber schon wieder faszinierende Weise mißbraucht wird.

Da Tina und Rolf im Abenteuerwald – das Käuzchen ruft, der Wind heult, und Nacht bricht an – das Geschehen nur als Zuschauer, nämlich wehrlos verfolgen können, sind sie dem Horrorteam der deutschen Avantgardeforscher hoffnungslos ausgeliefert. Das Zuschauerpaar kommt weder zu Wort noch zu einer eigenen Entscheidung. Erbarmungslos wird ihnen eingebleut, was angezeigt ist und wie es gezeigt wird. Und leider sagen die vielen Vorschriften, die ihnen gemacht werden, nichts darüber, warum sie überhaupt zusehen sollen. Tina und Rolf, gefangen im düsteren Avantgardeschloß, sind durchaus unfreiwilliges Publikum. Die Fluchtversuche scheitern. Alle Action führt zu Frust und Lähmung.

Die Bilder des TUNGUSKA-Films sprechen jedoch eine andere Sprache, und dem tumben Zuschauerpaar möchte man zurufen: Mensch, dreh dich um, hinter dir, paa doch auf! Denn die schier überbordende Flut experimenteller Einfälle fordert zum Spiel auf – zum bösen Spiel mit den Horrorforschern. Im Siegfriedwald blendet sich auf dem Hut des Riesenpilzes das Menschenpaar ein. Major Pater Hilf (Schlingensief) sucht in den Flammen sein Heil; ruckend bleibt der Film im Projektor stecken, und die Glut nagt an den Rändern des Kaders. Oskar Fischingers klassische KOMPOSITION IN BLAU (1934/35) wird zitiert und extremisiert: Schlingensief bettet die Farbe in Rot. Damit ist die Komposition sein Exponat; er ist autark, ganz Gegenwart und auf der Hut, den Angriff der anderen Zeiten, die Theorien der Wissenschaft und Kunst abzuwehren. Eine übermütige und kurzweilige Schlacht – im Namen der Jugend hier & jetzt.

Die Avantgardetechnik Fischingers und die Expressivität des Stummfilms werden zum Rüstzeug für die eigene Tat (Schlingensiefs Rat: “Die Zutaten von früher gut kennen, damit man sie (...) frei und beliebig zur eigenen Tat benutzen kann”). Seine Botschaft ist, daa er keine Botschaften verkünden will: “Ich will keine Message, ich fordere lediglich eine Messe! Eine Messe als Symbol, in einer Welt der peinlichen Symbole, für alle die, die täglich um Verzeihung bitten und die täglich auf Erlösung hoffen, – eine Messe also für all jene, die wir schlachten und ermorden wollen”. So spricht jedenfalls Major Pater Hilf in TUNGUSKA – DIE KISTEN SIND DA.


Die Messen, die er mit seinen nächsten Filmen zuverlässig abhält, sind Ernst und Travestie in einem, abenteuerliche Suche nach Erleuchtung und exzentrische Drohgebärde, böses Schwarz und grelle Komik. “Einen religiösen Beitrag” steuert er zum Buch “Kino-Fronten” bei: “Wir alle suchen nach Bildern, die uns Anhaltspunkte geben in einer Zeit, in der man uns alles erklärt hat. Wie großartig sind da grade die Dinge, die nichts erklären, – die sich uns zur freien Verfügung präsentieren. Wie großartig ist die Monstranz, die etwas zeigt, was wir nicht wissen.” (Schlingensief, 1988).

Die kecke Attitüde täuscht nicht darüber hinweg, daa hier einer ernst macht, in den Bildern, die ihn umgeben und die er mit sich trägt, Anhaltspunkte zu finden. MENU TOTAL (1985/86), schwarz-weia (und in Super-16mm, einem ungewöhnlichen Format) gedreht, ist einerseits quasi-dokumentarische Aufzeichnung der Rituale einer Elterngeneration, die den Kindern Angst machen. Andererseits trainiert der Film in expressiv verdichteten Sequenzen Flucht und Überleben. Doch das furchtbare Faszinosum der Naziuniformen erledigt sich nicht.

Montiert ist der Film als Folge eines Fotoromans oder präziser gesagt einer Fernsehserie, was den Vorteil hat, daa die narrative Struktur ihren Sinn von selbst entleert (das weia jeder DALLAS-Zuschauer, nachdem der tote Bobby Ewing duschte und plötzlich wieder dabei war). Die Bilder der MENU TOTAL-Serie dokumentieren Schlingensiefs Heimat; sämtliche Drehorte finden sich um Mülheim/Ruhr herum. Es ist richtig, daa diese Vorgaben vom Fast-nicht-Etat diktiert wurden, den Schlingensief für diesen (wie für die folgenden Filme) hatte: jeweils wenige tausend Mark. Es waren jedoch gerade die Bilder der Unverwechselbarkeit und Nähe, die zum Ausdruck brachten, wie einer den Drehort wahr- und ernstnahm, und wie gerade im heimischen Bereich der ideologischen Besetzung aller Bilder getrotzt und etwas gefunden werden konnte. In der Montage findet MENU TOTAL zur einheitlichen expressiven, hintergründig-komischen, hintergründig-wahrheitssuchenden Gebärde.


Ein noch nicht besetztes Bild für eine Messe ist in MENU TOTAL eine Elternpolonaise. Ausgelassen haben sie auf einer Picknickwiese in Mülheim-Speldorf ihre alten Naziuniformen wieder angelegt. Da macht die Polonaise noch mehr Spaß. Die Mama gibt das Startzeichen für eine außergewöhnliche Vorführung. Derweil wird Sohn Joe aus dem Schlaf gerissen. Aber wird er verstehen, was sie mit ihm vorhaben? Wird er sich dem brutalen Kampf der Systeme widersetzen können? Klappt der Austausch von Sperma? Wird er das rohe menschliche Gehirn essen? Joe scheint verloren. Sein Weg führt in einen verlassenen Schacht der Zeche Rosendelle, wo sich ein Versuchslabor befindet. Joe verweigert die Nahrungsaufnahme, wird operiert und kann trotzdem fliehen. Die Sache gerät in Bewegung! Dr. De Pen bringt Cuca, die Stinkende, um, trifft sich mit seiner Assistenzärztin in Hemer/Sauerland und nimmt Martha, die an den Rollstuhl gefesselte Jungfrau, entgegen. Während Evi den Schwanz brät und ihn von Wolf in den Mund gestopft bekommt, flüchtet Joe abermals und erreicht das im friesischen Stil erbaute und mittlerweile von Evi besetzte Haus in der Nähe der Polonaiseveranstaltung. Immer wieder grüßen Zombies den gröhlenden Führer. Die Lage scheint verworren. Wird Dr. De Pen die Situation klären und seinen Sohn töten können oder selbst den Tod finden? Und was ist Menu total? Cuca jedenfalls fand das Menu zum Kotzen; die Kid- und Meat-Generation liebt nur das abgehangene Fleisch.


Die Worte, die den Inhalt von MENU TOTAL wiedergeben, bringen ihrerseits zum Ausdruck, wie die Gebärde des Ekelns und des Faszinieren-lassens den Inhalt des narrativ entleerten Serienplots ausmacht. Die Vätergeneration wird in diesem Film restlos bewältigt, zwar unakademisch, aber frontal. Das Problem ist gegessen, und wem's nicht kannibalisch wohl ist, der kotzt sofort – übern Tisch oder wohin auch immer. Auch der Autor dieses Porträts, der sich seit diesem Film der erweiterten Schlingensieffamilie zurechnet, begann, sich mit der kannibalistischen Lösung der Vergangenheitsbewältigung anzufreunden.

In EGOMANIA – INSEL OHNE HOFFNUNG (1986) ist Schlingensief statt in der geografischen und sozialen, nunmehr in der ideologischen und mythischen Heimat auf Bild-Suche. Seine Protagonisten, in einer Dr. Faustus-Zeit angesiedelt, spielen ein Drama über Liebe, Eifersucht, Gier und Mord. Eis und Schnee, unter denen der Drehort Langenea begraben ist, sind von Schlingensief, der wieder genau hingesehen hat, in Beziehung gesetzt worden zu den zu Bild-Chiffren erstarrten Gedanken und Mythen, die den Menschen eine unwirtliche Wirklichkeit bescheren. Zur Befreiung aus dieser Wirklichkeit des Nebels, der Kälte, des Sturms und der getürmten Eisschollen bedarf es eines kriminellen Akts und der verbrecherischen Lust. “Jede Schandtat führt zum Bruch mit der Wirklichkeit”, erkennt der Notar. Statt einer durchgehenden Handlung, statt Dialoge, deren Sinn sich abfragen ließe, organisiert der Film Bild-Szenen und verbale Aphorismen für die hoffnungslose Generationenschlacht – und auch für den Befreiungsschlag. EGOMANIA, in seiner Überfülle von Bildern und Tönen, grellen und wieder zarten Farben, seinen jähen Eingebungen und Obsessionen, setzt die Phantasie frei, die es für den destruktiven und visionären Akt der Hoffnung braucht. “Nagt an Dir ein Gedanke – denk ihn weg”, rät der Film, “oder leide”. Zögernde mahnt der Erzähler: “Zerstören wir nicht den Gedanken, zerstört der Gedanke uns”. Dann bist Du frei “zu handeln, wie Dir Dein Dämon vorschreibt”.


EGOMANIA – eher ein Essay- und Aphorismenfilm – nutzt die Neurose als treibende Kraft, in der Gebärde und in der Manier genug Selbstbehauptung zu entwickeln, um dem überall gegenwärtigen Gedankeneis, den Gedankenschollen und -trümmern zu trotzen. Dem ersten Anschein nach aufgebaut wie eine Schicksals-TV-Serie, taucht der Film wie von ungefähr – gleichsam treibend wie die Schollen um die Hallig Langenea herum – in die Zeit von Schiller ein (“Gehorcht dem Dämon, der Euch sinnlos wütend treibt”), in die Zeit der Hexen aus Macbeth, in die Zeit des Fliegenden Holländers (eine Holländerin ist es im Film) und in die Zeit der Caspar David Friedrich-Natur – um sich diese Zeiten zu eigen zu machen, nämlich um die eigene Intensität zu vervielfachen. Das ist recht deutlich auf der Tonspur zu hören, auf der eine Gruppe, zu der auch Christoph Schlingensief gehört, nach dem neuesten Stand der Jetztzeit musiziert.

In SCHAFE IN WALES (1988), bei dem er zum erstenmal ein fremdes Drehbuch verfilmte, gelang es Schlingensief, dem Plot die narrative Banalität auszutreiben, aus dem “Vorderen das Hintere” zu machen, keinen Streit (mit den Drehbuchautoren) zu vermeiden und die Schnittfassung, die als Kleines Fernsehspiel ausgestrahlt wurde, zu mißbilligen (er zog seinen Namen aus dem Vorspann zurück). Aber auch in der publizierten Fassung hat sich Schlingensiefs Expressivität und Exzentrizität durchgesetzt. Täter und Opfer im Generationenkonflikt, Wölfe in Berlin und Schafe in Wales. Täter, deren verbrecherische Lust das Überleben (sowie das Kunstwerk) garantiert, sind entgegen der landläufigen Erwartung, aber entsprechend dem Schlingensief-Kosmos die Kinder: die dicklichen und flinken Zwillinge Felix und Jacob. Im Tegeler Forst huschen Wölfe, eine hell erleuchtete U-Bahn rumpelt durch Nacht und Kälte und vereint die Protagonisten. Ein Erwachsener (Volker Spengler) sucht die Freundschaft der Kinder, um Verzweiflung und Aggression gegen kindliche Sicherheit und Unbefangenheit einzutauschen. Kindisch, gefährlich und potentielle Opfer sind die Erwachsenen: eine Hausfrau; ein Reiseleiter, der seine Gruppe “Rucki-Zucki” gröhlen läßt; die Besucher der (verbotenen) Hundekampfveranstaltung. Die neueste Kiez-Mode ist mit dem Wolfs-Mythos vernetzt, und Schlingensief inszeniert eine von der Vergangenheit besetzte Albtraumwirklichkeit, die zu Tat und Verbrechen aufruft, will man überleben. Das Faszinosum der Väterwelt und der sündige Kitzel, sich ihrer zu entledigen, kommen in dem zum Ausdruck, was Schlingensief mit Vorbedacht extremisiert, überzeichnet und in eine makabre Groteske getrieben hat. Die emotionale Schichtung der aus ihrem narrativen Konnex weitgehend befreiten dramaturgischen Elemente, Geräusche, Ton, Musik setzt Intensitäten frei, die zur unmittelbaren Kommunikation führen.


Bereits in MUTTERS MASKE (1987/88) hatte Schlingensief eine neue Taktik gegenüber dem Erzählkino erprobt. Er erklärt ihm überdiemaßen die Liebe, umschlingt es im vorsätzlichen Liebesrausch und treibt es in den Wahnsinn, daa nicht nur ihm die Sinne vergehen. In MUTTERS MASKE ist die LINDENSTRASSE in den Exzea getrieben (das Hintere nach vorn und umgekehrt). Die Expressivität seiner ersten Filme, die an Werner Schroeters Werke zur camp-Zeit gemahnt, findet sich jetzt in einem Volks-Stück wieder, das die Tradition eines Veit Harlan pflegt. In einer geschichtlich nicht eindeutig fixierten Zeit, aber geografisch eindeutig in der modernen Einkaufscity von Mülheim/Ruhr, vollzieht sich das Ritual des bekannten Opfergangs. Und wichtig ist nicht der narrative Verlauf (er kann vorausgesetzt werden), wohl aber, daa Schlingensiefs Helden es ernst meinen. MUTTERS MASKE ist keine Parodie, zu sehr sind die Darsteller davon erfüllt, den Opfergang zu zelebrieren. Spielfreude, Atmosphäre (Vorhänge, Wind, ein Käuzchenschrei), Musik brechen narrative Kapseln auf und setzen ungehemmt und ohne Scheu Emotionen frei, die konventionellerweise eingeklemmt und verbogen sind. Ein Enthusiasmus teilt sich mit, der mühelos und damit wieder hintergründig arg komisch die Schicksalsproblematik von MUTTERS MASKE auf die Spitze treibt. Schicksal ist sowohl das Heimkehrer- wie das Aidsdrama. Das geht folgendermaßen:

Am 28. September kehrt Willy von Mühlenbeck (Karl Friedrich Mewes) in die Bundesrepublik zurück und mua erkennen, daa sein Bruder Martin (Helge Schneider) zum lautstarken Familienoberhaupt aufgestiegen ist, während seine Mutter (Brigitte Kausch), ihrem metaphysischen Instinkt folgend, einen Opferweg eingeschlagen hat, den auch die dem Tode geweihte Nachbarin Els (Susanne Bredehöft) trotz liebevoller Bemühungen ihres Geliebten Willy kreuzen wird. Doch Willys und Els' Liebe steigert sich im Laufe der Zeit so sehr, daa es zu jenem verhängnisvollen Kua kommt, der dem ahnungslosen Willy die tödliche Gefahr einer Infektion bringt und ihn somit zu dem von allen Familienmitgliedern, insbesondere seinem Bruder, sehnsuchtsvoll erwarteten letzten Schritt treibt. MUTTERS MASKE demaskiert die Drehorte. Was in den Fußgängerpassagen von Mülheim, im Schloa Styrum oder in der Villa Thyssen an Gefühlen steckt, wird spielerisch freigesetzt.


Mit eben der gleichen Umarmungstaktik näherte sich Schlingensief in seinem jüngsten Film 100 JAHRE ADOLF HITLER – DIE LETZTE STUNDE IM FÜHRERBUNKER (1988/89) furchtlos und unerschrocken Zeitfiguren, deren Darstellung normalerweise mit einigen Tabus belegt ist. Gedreht wurde er an einem einzigen Tag (für 14.000 DM) in einem alten mülheimer Bunker; die Darsteller transportieren die sich klaustrophobisch selbst nährende Hysterie der Familie (Hitlers), die aber auch die einer Wohngemeinschaft zwanzig Jahre später oder sonst einer ab- und eingeschlossenen Gemeinschaft der Vätergeneration sein könnte.

Wieder ist der Drehort genau wahrgenommen. Er diktiert ebenso das Spiel wie die Handleuchte des Regisseurs, die aus Nacht und Schwarz Körper und Gesten hervorholt, die gemeinsame Expressivität von Ort und Personen suchend und findend. Witz und Horror. Im hohen Lied von Deutscher Weihnacht und Deutscher Treue schleichen sich Mißtöne ein. Haa bricht aus über verschüttetes Salz, und der Führer hält seit Stalingrad die Essenszeiten nicht mehr ein. Udo Kier ist als Adolf Hitler fast stumm, aber ergreifend. Brigitte Kausch läuft als Hitler-Double zwar der historischen Wahrheit nicht hinterher, wohl aber zu einsamer Größe auf. Alfred Edel wird nicht Reichskanzler, weil die Quotenregelung eine Reichskanzlerin gebietet. Volker Spengler reduziert seine Präsenz aufs Ficken, womit ein Verräter gefunden ist. Und Goebbels (der Autor) ist seiner Ehefrau (Margit Carstensen) als Hebamme zur Hand.

Wie man sieht, ist Schlingensiefs 100 JAHRE ADOLF HITLER kein historischer Lehrfilm. Aber er zieht seine Lehre aus dem Expressionismus des deutschen Stummfilms. Zwar verkündet Edel, der Göring: “Ich will Reichskanzler werden!” “Damit will er aber sagen: ,Ich mua Caligari werden.`” (Jörg Schöning). Schlingensief repariert mit seinen Filmen und insbesondere mit 100 JAHRE ADOLF HITLER den Bruch der deutschen Filmgeschichte, und er behebt die emotionalen Defizite des narrativen Kinos, auf das sie der Tonfilm reduzierte. Wobei er sicherlich kein Traditionspfleger ist, denn die Expressivität des stummen Films ist seine Sache geworden, durchaus auch schrill und laut. Der Hitler-Film ist gegenwärtig; der Führer sieht in seinem Bunker auf dem Fernseher einen anderen Weltverbesserer sprechen: Wim Wenders fordert in Cannes, “die Bilder der Welt zu verbessern, um die Welt zu verbessern”. Auch Franz Josef Straua erteilt auf dem Führermonitor gute Ratschläge.

Schlingensief, enfant terrible des deutschen Films, erteilt keine Ratschläge. Er schreitet zur Tat. 100 JAHRE ADOLF HITLER korrespondiert mit einem aktuellen Bedürfnis, Hitler nicht mehr als Phänomen des Bösen zu behandeln (wie war es doch bequem, den Führer zeitlich und örtlich auszugrenzen, um dann selbstzufrieden zu erklären, daa man damit nichts zu habe). Heute gilt vielmehr: “Hitler bin ich” (André Glucksman). Sich selbst (und uns) Mut machend, überwindet Schlingensief vorsätzlich Berührungsängste, so eklig das auch ist und so viel Abweichung heute auch darin gesehen wird, und beschwört das Nicht-Geheure. Indem er Mythen des Stummfilms aktiviert, bindet er die alte Expressivität, die er – wie Werner Schroeter – freigesetzt hatte, an die Generation der Väter, Großväter und Vorderen. Und damit ist er einzigartig im deutschen Film.

Dietrich Kuhlbrodt



Weiterführende Texte zu Christoph Schlingensief

- Christoph Schlingensief - Eine Kurzbiografie von Jörg van der Horst
- Christoph Schlingensief - Portrait von Till Briegleb, Goethe Institut
- Kunstforum: Lieblingsziel Totalirritation - Portrait von Marion Löhndorf
- Über die Filme, das Theater und die Talkshow - Georg Seeßlen
- Christoph Schlingensief - Cinegraph Filmlexikon bis 1989 mit Ergänzungen
- It's not going - Engl. Biographie von 1998, Guggenheim Museum New York

Weitere Informationen

- Artforum 05/2006
- Goethe Institut Bio
- Kunstforum Portrait
- Seeßlen Essay
- Cinegraph
- Guggenheim (English)

- Filmographie
- Interviews

Externe Links

- Dietrich Kuhlbrodt
- Volksbühne Berlin
- Royal Produktion