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7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte / CHANCE 2000 für Graz


"Chance 2000" - jüngstes Werk des Filme, Show- und Theater- machers Christoph Schlingensief mit dem Etikett enfant terrible.


Was heißt hier Werk? Was heißt Kunst? "Chance 2000" ist eine Idee - wie auch "Nachbar in Not" eine Idee ist, die Gutes ermöglicht. Schlingensief verläßt die Stätten der Kunst, geht auf die Straße und zu jenen, die aus der Geldgesellschaft fallen. "Chance 2000" will helfen und Politik und Wirtschaft weniger bekämpfen als empfindsam machen für Belange von denen da draußen und mitten unter uns.



Szenenfoto: 7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte



Dazu von Brecht die Parole: "Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen wurde, ist der Blick in eine schöne Gegend." Naiv? Warum? Sagen nicht die vifsten Köpfe aus Ökonomie und Politik, daß es so, wie es geht, nicht mehr geht? Globalisierung und Ende des Sozialstaats, die Zersetzung der Glaubens- und Wertsysteme, die totale Verunsicherung verlangen neue Reaktionen, neue Strategien, neue Tugenden - vielleicht die ganz alten.

"Chance 2000" will handeln und ruft jenen, die haben, mit fröhlicher Innigkeit zu: "Schmeißen Sie Ihr Geld weg und retten Sie die Marktwirtschaft. Und vielleicht Ihre sterbliche Seele! Und sagen Sie es weiter!"



Szenenfoto: 7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte



Offener Brief an die Bürger von Graz


Betrifft: Künstler gegen Menschenrechte - Chance 2000 für Graz steirischer herbst 5.10. - 10.10.1998


An die Bürgerinnen und Bürger von Graz

Chance 2000 ist ein überkonfessionelles künstlerisch politisches Bündnis, das aber seine Wurzeln im Katholizismus nicht leugnet. Es versteht sich als "postcaritative Hilfsorganisation" für Menschen, die aus der Gesellschaft herausgefallen sind, und möchte nicht nur die Kultur sondern auch Wirtschaft und Politik für deren Belange sensibilisieren. Anläßlich des diesjährigen steirischen herbst wollen wir Denkanstöße geben und mit Ihnen in den Dialog eintreten.

Wir alle sind Menschen und deshalb gibt es grundsätzlich mehr, das uns verbindet als uns trennt. Der Mensch steht im Zentrum. Und zwar nicht die abstrakte Idee, sondern die konkreten, sterblichen Menschen, die ihren Alltag bewältigen und versuchen, das Glücksversprechen der bürgerlichen Gesellschaft nach Kräften für sich einzulösen. Auch Sie, so vermuten wir jedenfalls, wollen die kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht als Betrugs- system verstanden wissen und zwar nicht nur aus moralischen Gründen. Der Markt selbst ist es, der die Wirtschaft zwingt, das Glücksversprechen ernst zu nehmen. Heute mehr denn je. Mit Mogelpackungen ist ernsthaft kein Geschäft mehr zu machen, mit Stumpfsinn und Entfremdung kein Unternehmen erfolgreich am Leben zu halten. Das heißt: Jeder kann sein eigener Unternehmer sein, und Kapitalismus heißt nicht (mehr), daß sich Menschen gegenseitig übers Ohr hauen, sondern daß sie einander helfen. Nichts wird mehr aus Geldgründen instrumentalisiert, nur das Geld selbst wird instrumentalisiert, um intakte Zwischenmenschlichkeit und größtmögliche Problemlösungskapazitäten in einer echten Dienstleistungsgesellschaft zu befördern. Verkaufs- und Wirtschaftsfachleute wie Geffroy ("Abschied vom Verkaufen") oder Peters ("Jenseits der Hierarchien", "Management in chaotischen Zeiten") haben nachgewiesen, daß Unternehmen nur noch funktionieren, wenn solche Maximen ganz ernst genommen werden, wenn Tugenden und Verhaltensweisen gepflegt werden, die über das pure Verwertungsinteresse hinausweisen, wenn das Unternehmen in seiner Organisation, in seinen Produkten und Leistungen für ein besseres Leben steht - und zwar wirklich und nicht nur als Werbespruch. Was dies heißt, sollte nicht unbeachtet bleiben: Die Gesellschaft transformiert sich in eine freie Assoziation im Überfluß lebender Individuen, die selbstbestimmt tätig sind und nach ihren je eigenen Bedürnissen leben können.



Szenenfoto: 7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte



So weit, so gut, wir sind dafür. Chance 2000 unterstützt diese Tendenz. Auch wir denken marktwirtschaftlich, risikofreudig und innovativ und rufen uns und Ihnen zu: Alles aufgeben! Fehler machen! Scheitern ist Chance! Nicht Wandel, sondern Revolution, nicht Revolution, sondern permanente Revolution, Unsicherheit! Verrückte Unternehmen für verrückte Zeiten! Helfen! Helfen! Helfen! Handeln! Handeln! Handeln!

Wenn Sie diese Imperative, die wir bei Tom Peters, dem umsatzstärksten Wirtschaftsautor aller Zeiten (außer Marx) abgeschrieben haben, wirklich ernst nehmen, läßt sich auch das zur Zeit größte gesellschaftliche Problem lösen: Die Krise des Sozialstaats angesichts der Globalisierung.

Denn leider gilt die beschriebene glückliche Entwicklung des Kapitalismus nur für eine Minderheit. Zwei Drittel bis vier Fünftel der Menschen fallen aus der globalen Marktwirtschaft heraus und stehen unsichtbar im Schatten. Ohne die Segnungen des sich wandelnden Kapitalismus genießen zu können, leben sie außerhalb der Vernetzung in einem Vakuum und sind sich selbst überlassen. Der größte Teil dieser Menschen wird nie mehr eine Arbeit im Sinn traditioneller Lohnarbeit finden. Der Sozialstaat, man denke ihn national oder global, ist überfordert. Der größte Teil der Menschheit erscheint schlicht als überflüssig. Das aber darf nicht sein und trifft auch nicht zu. In dieser von allem freigestellten, riesigen Gegenwelt wird auch gearbeitet, hier wird Sinn produziert und dem Leben auf den Grund gegangen, hier fallen absoluter Stillstand und Höchstgeschwindigkeit zusammen. Arbeitslosigkeit ist ein Beruf, Arbeitslose sind die unvermeidliche Rückseite des entfalteten Kapitalismus. Wie sie ihr Leben außerhalb des Systems organisieren und, wie in früheren Zeiten eigentlich nur Künstler und Dichter, selber mit Sinn erfüllen, oder wie sie Sinnlosigkeit aushalten, verdient Anerkennung und Bewunderung. Alle können davon lernen. Arbeitslosigkeit muß als Beruf anerkannt werden, als guter Beruf, und zwar ideell und materiell, so ähnlich wie in alten Stammesgesellschaften, wo Mitglieder, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht an der Schaffung der Subsistenzmittel beteiligen konnten, von der Gemeinschaft besonders verehrt und großzügig unterstützt wurden.



Szenenfoto: 7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte



Was steht dagegen, den Menschen, die aus der Globalisierung herausfallen und gleichzeitig einen wesentlichen Teil der Menschheit darstellen, auf ähnliche Weise Achtung zu zollen? Sind es einfach zu viele? Nein, das ist kein Hindernis. Was uns bei der Lösung dieses Problems blockiert, ist der Umstand, daß dem Geld noch immer ein quasi religiöser Status eingeräumt wird. Nach der fortschreitenden Auflösung sämtlicher Glaubenssysteme und festen Orientierungen im Zuge der kapitalistischen Entwicklung und der Aufklärung ist Geld der einzige und letzte Wert, auf den hin, wie Heiner Müller sagte, "Orientierung realistisch oder sogar möglich ist".

Eine aufgeklärte Gesellschaft kann sich aber auch diesen letzten Kristallisationspunkt mystisch religiöser Weltsicht, der ausgerechnet im Geld bestehen soll, nicht leisten. Wer sich wirklich klar gemacht hat, daß wir nicht für das Geld da sind, sondern daß wir Geld benutzen, um den Markt zu vereinfachen und zu regulieren, und darüber hinaus weiß, daß wir alle dazu verurteilt sind, lebenslänglich zu leben und daß uns am Ende, schuldig oder nicht schuldig, die Todesstrafe erwartet, weiß auch, daß dieser letzte fixe Glaube an das Geld als solches ihm nicht weiterhilft. Er kann deshalb sein Geld locker wegschmeißen, zumindest das, was er nicht für eigene Investitionen braucht.

Die Einsicht in die Hinfälligkeit und Nichtigkeit der menschlichen Existenz, im biblischen Buch der Prediger bereits vor fast zweieinhalbtausend Jahren ziemlich endgültig gewürdigt, mag vor nicht allzu langer Zeit noch zu Lethargie und Verzweiflung geführt haben. Heute ist sie eine Voraussetzung für die Transformation des Kapitalismus, der jeder metaphysische Glaube, auch der Glaube an das Geld, im Wege steht. Wenn dieser Glaube zerstört ist, können wir leichten Herzens auf die angehäuften Geldsummen verzichten, die wir sowieso nicht gebrauchen können. Was da übrig bleibt, könnte den Arbeitslosen auf der ganzen Welt die materielle Basis zu einer selbstbestimmten Existenz verschaffen. Wenn es zutrifft, was Marktwirtschaftler sagen, daß die Marktwirtschaft nur weiterfunktionieren kann, wenn nicht das Geld, sondern, jawohl, christliche Tugenden dominieren wie Liebe und Vertrauen, Verständnis, Zärtlichkeit, Mut, Großzügigkeit und Opfer, treten wir in ein neues Zeitalter ein.

Auch für den Reichsten ist es schöner, seinen Reichtum in einer Welt ohne Armut und Obdachlosigkeit zu genießen als hinter den Mauern eines von der Welt abgeschotteten und von schwer bewaffneten Privatarmeen geschützten Privilegiertenghettos. "Der Blick in das Gesicht eines Menschen, dem geholfen ist, ist der Blick in eine schöne Gegend", sagt Brecht. Helfen verlangt nicht, daß man ein besserer Mensch ist, es ist einfach schöner und nutzt der Wirtschaft.

Machen Sie es also wie der Philosoph Krates in Athen, der an seinem vierzigsten Geburtstag im Jahre 303 v. u. Z. sein Geld auf dem Marktplatz verstreute und einfach nur noch lebte, oder wie heute Georges Soros, der erfolgreichste Spekulant der Welt, der seine Milliarden in Bosnien zum Wiederaufbau einsetzt, oder wie Wolfgang Joop, der Chance 2000 mit den Zinsen seines Vermögens unterstützt. Schmeißen Sie Ihr Geld weg und retten Sie die Marktwirtschaft! Und vielleicht Ihre sterbliche Seele!

Wir möchten wissen, was sie davon halten. Wie lassen sich marktwirtschaftlicher Wettbewerb und soziales Helfen vereinigen? Sprechen Sie mit uns. Rufen Sie uns an, oder senden Sie ein Fax. Sie erreichen uns über den steirischen herbst und im Internet.

Ihre Freunde von Chance 2000 i. A. Christoph Schlingensief



Szenenfoto: 7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte



Zusätzliches Material zu 7 Tage Entsorgung für Graz

- 7 Tage Entsorgung für Graz - Pressestimmen zur Aktion
- Bilderstrecke zu 7 Tage Entsorgung für Graz - Fotos vom Pfahlsitzen

7 Tage Entsorgung für Graz - Künstler gegen Menschenrechte
4.-10.10.98, steirischer Herbst, Graz

Obdachlosen-Pfahlsitzen und Aktionen mit Sandlern

Regie: Christoph Schlingensief

Dramaturgie: Carl Hegemann; Ausstattung: Nina Wetzel

Mit: Christoph Schlingensief, Carl Hegemann, Nina Wetzel, Ilka Schulz, Henning Nass, Julian Kamphausen, Anselm Franke, Familie Garzaner, Günther Strietzel





Zusatzmaterial

- Bilderstrecke

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