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»Wo ist die Avantgarde, Paulus?« (Neue Zentralzeitung, Zürich)
Der deutsche Theaterregisseur, Filmer und Künstler Christoph Schlingensief im Migros Museum
Grell ist nur der Titel. In "Querverstümmelung" zeigt sich Christoph Schlingensief von seiner nachdenklichen Seite. Statt zu provozieren, zelebriert er die Versöhnung mit der Figur des Vaters.
Zugegeben, etwas gespannt war man schon auf Christoph Schlingensiefs ersten großen Auftritt als bildender Künstler. Was würde das Enfant terrible des deutschsprachigen Theaterbetriebs dem Publikum diesmal zumuten? Im Jahr 2001 - anläßlich seiner umstrittenen "Hamlet"-Aufführung mit ausstiegswilligen Neonazis im Zürcher Schauspielhaus - hatte Christoph Schlingensief in Zürich mit einer großen Anti-SVP-Kampagne von sich reden gemacht: Mit einem Megaphon bewaffnet, forderte er auf der Zürcher Bahnhofstrasse ein Verbot der Partei und sammelt zu diesem Zweck Unterschriften. Eine leise Enttäuschung kann man deshalb nach der Besichtigung der Ausstellung im Zürcher Migros Museum nicht verhehlen, auch wenn man die Schlingensiefschen Provokationen mitunter etwas drastisch fand.
Unerfüllte Sehnsucht
Ein Film seines kürzlich verstorbenen Vaters eröffnet die Ausstellung: Aus Versehen doppelt belichtet, zeigt er Klein Christoph wandernd in der freien Natur, aus einer Feldflasche trinkend. Darüber legt sich wie ein Schleier die Aufnahme eines Wasserfalls. Was das soll, versteht man gar nicht. Weder gibt es ein Begleitheftchen noch Ohrhörer, die dem Betrachter erklären, was der Künstler hier und anderswo meint. Das ist ein Nachteil der Installation, dass sie ganz aus sich allein heraus wirken will, ohne den Besucher an die Hand zu nehmen. Dem Betrachter bleibt nur die Möglichkeit, es programmatisch zu verstehen: Eine Rückbesinnung auf Kindheit und Jugend, auf seine Anfänge als Filmemacher verbindet sich mit der Reflexion seines Theaterschaffens und einer Auseinandersetzung mit der Figur des Vaters. Aber eine Sehnsucht nach Avantgarde wird so leider nicht erfüllt.
Düster, wie im Bauch des Wals, präsentieren sich die verdunkelten, nur von vereinzelten Lichtquellen erhellten Ausstellungsräume. Manchmal ist es gar so dunkel, daß man gar nichts sieht, was gesamtkonzeptionell nicht begreiflich ist. Und düster ist auch das Material, in das der Künstler seine Erinnerungen übersetzt. An Thomas Hirschhorns wuchernde Installationen erinnert "Kaprow City", die Christoph Schlingensief 2005 als begehbare Drehbühne an der Berliner Volksbühne zeigte. Doch während der amerikanische Aktionskünstler Allan Kaprow (1927-2006), dem die Arbeit gewidmet ist, theatrale Elemente in die Kunst überführte, um diese aus ihrer kontemplativen Starre zu befreien, geschieht hier genau das Gegenteil: In Plastikfolien verpackt, verwehrt die Bühne dem Besucher den Zutritt - nur einzelne Gucklöcher gewähren Einblick in das Schlingensiefsche Universum, das Relikte vorangegangener Produktionen ebenso enthält wie Spuren seiner privaten Existenz. Im Museum wird aus dem Theaterexperiment ein reines Schaustück. Ungewöhnlich für ein Museum - und nicht immer verständlich.
Immer schon war das Christentum ein starker Referenzpunkt in Schlingensiefs Theatrum mundi. Diesmal lässt er in "Abendmahl" (2007) Jesus und seine zwölf Apostel auffahren. Geformt aus orangefarbenem Pappmaché, das von einem Karnevalswagen in Manaus stammt, dienen sie hier als Projektionsfiguren für zwölf 16-mm-Filme, die Schlingensief während der Vorbereitungsarbeiten zu einer Operninszenierung von Wagners "Fliegendem Holländer" im Amazonasgebiet drehte. Doch nicht das filmisch Festgehaltene scheint ihn dabei zu interessieren, sondern das Verbleichen und Zerreißen, die Zerstörung des Materials. Wie Reliquien sind die "toten", zerschlissenen Filme aus der Ausstellung im Haus der Kunst München im Sommer dieses Jahres in Vitrinen aufgebahrt.
Keine Avantgarde? Schade.
Als exemplarisch für Schlingensiefs überraschend hermetischen, selbstreflexiven künstlerischen Ansatz kann die Gesamtinstallation "Gold Maria" (2007) gelten. Vor einer Filmprojektion, die ganz unterschiedliches Material umfaßt, ist ein Behindertenlift aufgestellt, der es den Besuchern erlaubt, Teil des projizierten Bildes zu werden, das wiederum von einer Kamera gefilmt und auf einem gegenüber eingebauten Bildschirm abgespielt wird. Keine Politikerbeschimpfung, kein Einsatz von Arbeitslosen oder Behinderten - ist Christoph Schlingensief der Provokationen müde geworden? Und wieso sehne ich mich, so wie viele Kritiker, die seinen "Hamlet" als Provokation in Tateinheit mit Selbstdarstellung abgetan haben, plötzlich nach Provokation? Wo ist denn jetzt die Avantgarde? Noch vor drei Jahren hat er in Zürich mit seiner Jelinek-Inszenierung "Attabambi Pornoland" im Schauspielhaus für Aufregung gesorgt. Inzwischen gehört er zum Stall der einflußreichen Großgalerie Hauser & Wirth, des Hauptlieferanten der Berliner Flick-Collection. Zum Starkünstler taugt er leider nicht. Eine richtige Gemeinheit bei Schlingensiefs Wandlung vom Saulus zum Paulus ist außerdem seine Verweigerung eines avantgardistischen Ideals. Wenigstens das hätte drin sitzen müssen, damit man sich hätte orientieren können. Dabei verweist er doch beispielsweise auf seine künstlerischen Idole, insbesondere auf Joseph Beuys, der gemeinhin für den letzten Vertreter der künstlerischen Avantgarde gehalten wird, vielleicht aber auch nur von denen, die Beuys u.a. immer schön einordnen müssen, damit die Auseinandersetzung mit ihm nicht den Bach runtergeht, d.h. in Fluß kommt. Ein Bekenntnis zur Avantgarde wäre schön gewesen. Leider hat Schlingensief das versäumt und läßt uns sträflich eigenverantwortlich zurück. Vielmehr scheint es, als frage er uns gar nicht, wie wir seine Bilder finden, sondern als frage er sich selbst, wer der Maler ist, in dessen Bild Künstler und Betrachter zusammen stehen. Von der Radikalität eines "richtigen" Avantgardekünstlers ist diese Ausstellung deshalb zu weit entfernt. Zu weit und beschwerlich für mich, weil ich es einfach nicht akzeptieren kann, daß die Avantgarde total im Arsch ist. Immerhin verstehe ich, dass diese Ausstellung von einer Versöhnung mit der Figur des Vaters, im wörtlichen wie übertragenen Sinn, handelt. Was immer das auch insgesamt bedeuten soll, ich verstehe es einfach nicht. Ich bin sehr, sehr müde.
Von E. M. Kreibs
"Querverstümmelung": Zürich, Migros Museum, bis 3. Februar 2008.
Neue Zentralzeitung Zürich, 8.11.07
Materialübersicht zu Querverstümmelung
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Projekt-Dossier
- Pressemeldung
- Zersetzung hat mit Erlösung zu tun
- Das Leben ist eine Provokation
- Wo ist die Avantgarde, Paulus?
- Ausbrüche aus der Normalität
- Mit Facettenaugen
Mit Facettenaugen (MP3-Datei, 1.5 MB)
- Floorplan (PDF)
Externe Links
- Migros Museum Zürich

Christoph Schlingensief: Querverstümmelung
Eine Ausstellung von Christoph Schlingensief im im Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich
03.11.07 - 03.02.2008
Team Schlingensief
Christoph Schlingensief; Konstruktion: Tobias Buser; Video / Schnitt: Kathrin Krottenthaler; Fotos: Aino Laberenz; 16mm-Kamera und Schnitt: Christoph Schlingensief;
Produktionsleitung: Nicole Konstantinou; Produktionsassistenz: Julian Pörksen; Konstruktionsmeister Kaprow City: Wilfried Schober; Zusätzliche Videos Kaprow City: Meika Dresenkamp;
Assistenz: Konstantin Hapke; Loopkonstruktion: Jörg Kretschmer; Praktikantin: Alexandra Lauck
Team Migros Museum für Gegenwartskunst
Direktorin: Heike Munder; Kurator der Ausstellung: Raphael Gygax; Administration: Rosmarie Battaglia; Exhibitions Coordinator/Registrar: Judith Welter;
Praktikantin: Valerie Thurner; Technik: Roland Bösiger, Monika Schori, Marky Edelmann, Joël Frattini, Gabi Deutsch, Muriel Gutherz, Andri Zuppinger, Basil Kobert, Athene Galiacidis, Daniel Lüthi;
Empfang: Simone Schardt, Christian Käser, Valentin Magaro, Christa Michel, Seraina Winzeler, Valérie Knoll
Bayreuth, Hasenverwesung & Drosophila Melanogaster, 2004 - 2007, Bayreuth
Walter Lenertz, Alexander Kluge, Christoph Schlingensief
Der Fliegende Holländer, Manaus 2007
Goethe Institut Sao Paulo, Kulturstiftung des Bundes, Cultura Secretario de Estado Amazonas, Governo do Estado do Amazonas
Fremdverstümmelung, 2007
16- und 35mm Kamera: Christoph Schlingensief; Videokamera: Kathrin Krottenthaler, Marilia Halla , Louis Gentile; Soundcollage: Uwe Altmann;
Ausstattung: Thekla von Mülheim, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Schnitt: Kathrin Krottenthaler, Marilia Halla, Thekla von Mülheim; Licht: Thomas Röscher
Kopierwerk: CinePostproduction, Bavaria Bild und Ton München
The African Twin Towers, Afrika 2005 - 2007
Produktion: Frieder Schlaich / Filmgalerie 451, Berlin
Regie: Christoph Schlingensief; Kamera: Meika Dresenkamp, Kathrin Krottenthaler, Christoph Schlingensief, Patrick Waldmann;
Schnitt: Kathrin Krottenthaler, Thekla von Mülheim, Angela Christlieb; Ausstattung: Tobias Buser; Kostüm : Aino Laberenz
Dramaturgie: Jörg van der Horst, Henning Nass, Carl Hegemann
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