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Lieblingsziel Totalirritation


Aus: Kunstforum, Bd. 142, 10/98, S. 94-101

von Marion Löhndorf

Die unauffällige Erscheinung des Apothekersohns Christoph Schlingensief (*1960 in Oberhausen, lebt in Berlin), dem sogenannten "enfant terrible" des deutschen Film und Theaterbetriebs, passt nicht zusammen mit dem Bild, das die Presse von ihm zeichnet: von ihr wird er regelmässig beschimpft. Die "Bild"-Zeitung schrieb: "Schweigen sollte auch Herr S. endlich!" Die fast einhellige Ablehnung deutet vielleicht auf einen Widerstand, sich mit dem Unbequemen auseinanderzusetzen. Mit seiner Aktion "Passion Impossible - 7 Tage Notruf für Deutschland" und dem Wahlkampfzirkus "Chance 2000" wurde das Bemühen von Schlingensief spürbar, seine Arbeit an soziale Bewegungen zurückzubinden und so gesehen den Konflikt zwischen den Systemen Politik, Kunst und Leben zu suchen. Eine Konstante durchzieht Schlingensiefs Produktionen, was die Rede von einem Lebenskunstwerk im Sinne einer Einmischung der Kunst ins Leben gar nicht so abwegig macht. Auf der Documenta X wurde er verhaftet, als er lautstark die "Ermordung Helmut Kohls" forderte.

Bis Christoph Schlingensief mit Anfang 20 mit ersten größeren Filmen an die Öffentlichkeit trat, galt er als schlimmer Junge: hysterisch und pubertär. Daran hat sich nichts geändert, seitdem er auch fürs Theater arbeitet, im Gegenteil. Die Presse widmet ihm dieselben Schimpfvokabeln, noch mehr Widerstand, damit aber auch: mehr Reklame.

Heute hat er das Etikett Enfant terrible gründlich satt, wittert dahinter den Mangel an Bereitschaft, sich mit auf Anhieb nicht Verständlichem auseinanderzusetzen. Dabei gibt er gern Auskunft über seine Arbeit, präsentiert sich selbst aufs entspannt Angenehmste weder von Hochmut, noch von Schüchternheit angekränkelt. Schlingensief ist ein glänzender Botschafter seiner selbst. Auch noch eine halbe Stunde, bevor er selbst in der Berliner Volksbühne auftritt, in der Garderobe zwischen Lautsprecherdurchsagen und Kollegen, die kommen und sehen und Fragen stellen.

Der Mann, der die Kritik das Fürchten lehrt, sieht aus, wie in jedem Artikel über ihn zu lesen: unauffällig. 37 Jahre alt, Apothekersohn aus Oberhausen, katholisch, extrem kleinbürgerliches Elternhaus, wie er sagt. Ein deutsches Kettensägenmassaker hat er auf die Leinwand gebracht, Ekelorgien inszeniert, dem Neonazi Michael Kühnen einen Theaterabend gewidmet. Schlingensief schimpft über das Staunen, das seine freundliche Erscheinung dauernd hervorruft: "Meine Filme sind für die Leute von einem durchgeknallten Möchtegern-Perversling gemacht. Und wenn ich darin auftauche, traut man dem Braten nicht. Wenn ich mich dann auch noch mitteilen und sogar argumentieren kann, sind sie völlig verwirrt."


Ästhetik des Verlusts

Scheinbar offen legt er in Interviews seine Karten auf den Tisch. In Wirklichkeit hat er immer noch welche im Ärmel. Auch in seinen Bühnen und Filmproduktionen macht er das so: in einem scheinbar chronologischen Zusammenhang Lücken lassen. Immer reißt Schlingensief etwas an, dem er sehr nahe rückt. Schlaulichtartig gelingt ihm in solchen Momenten die Herstellung, einer geradezu erstaunlichen Unmittelbarkeit, die ihm dann wieder entgleitet. Sprünge und Unschärfen entstehen, wie Texte, aus denen entscheidende Sätze herausgestrichen wurden. Was bleibt, sind Bruchstücke. Gerne verwendet er Teile der Wirklichkeit, die andere geschmacklos oder billig nennen. Schlingensief inszeniert eine Asthetik des Verlusts. Immer fehlt etwas, immer ist das Entscheidende verlorengegangen.

Vielleicht fühlt man sich deshalb so schlecht nach einem Besuch in der Fabrik seiner Fiktionen. Trotz des lustig bunten oder unbekümmert grausigen Krams, der da ständie, durch die Gegend fliegt oder auf Leinwände projiziert wird: die Erbsen im Overheadprojektor, die unschuldigen Obszönitäten, die Puppen, die Rollstühle, die Operationsvideos, die süße Elefantenmaske. Kinderzimmer und Krankenhaus liegen bei Schlingensief immer eng nebeneinander: Orte der Unmündikeit und Hilflosigkeit, Orte der Nichtmehr oder Nochnicht Handlungsfähigkeit. "Kindertheater," höhnen manche. Vielleicht aber sind Krankenhaus und Kinderzimmer Räume, an die nicht jeder gerne denkt.


Authentisches Leben

Der Lärm Lind die Gewalttätigkeit sind in jeder Produktion von nivellierender Permanenz, eine pausenlose Reihe sich selbst aufhebender Höhepunkte: Indem es ständig zum Äußersten kommt, kommt es zu nichts mehr. Stillstand durch Chaos-Overkill. Damit rückt er Marthaler nahe, dem Regiekollegen an Castorfs Volksbühne, der unaufhörlich (aber leiser als Schlingensief) die Hölle der Stagnation inszeniert. Es ist, als ob in Schlingensiefs Filmen und Bühnenstücken unterhalb allen Getöses das Bewußtsein des Scheiterns immer schon enthalten wäre.

In Rage rennt er offene Türen ein. Aber er weiß, daß sie offen stehen. Vielleicht leidet er darunter. Er produziert serienweise Schocks und Leerlauf. Immer, auch in seinen Provokationen, die er selbst, und zu Recht, als solche nicht gelten lassen will, äußert sich eine als vergeblich erkannte Sehnsucht nach Widerstand, Bewegung, Schmerz: eine Sehnsucht nach authentischem Leben in einer Welt der Rentenversicherungen und Schmerztabletten, eine Künstlerforderung, also, die so alt ist wie dieses Jahrhundert.

Mit so krassen wie vergeblichen Gesten wendet er sich gegen eine zur Gleichgültigkeit verklärte Toleranz. "In einer Zeit, in der alles möglich ist, ist es unwichtig ob etwas gut ist oder schlecht", brüllt Alfred Edel im Film "Das deutsche Kettensägenmassaker" beim Zerstückeln einer Leiche.


Gegen Form und Funkfion

Schlingensief berichtet von jungen Leuten, die nach der Vorstellung in die Kantine der Volksbühne kommen und ihn fragen: "Was willst Du damit sagen?" Falsche Frage, findet er: "Man wird so erzogen, daß etwas in einer Funktion erkennbar sein muß, damit man weiß, warum es existiert." Er produziert ein nummernhaftes Theater der Ansprachen und Vorführungen einzelner Akte, in dem immer der Anschein erweckt wird, als stünde gerade jetzt Entscheidendes bevor, als sei das, was gerade verkündet wird. die essentielle, alles klärende Botschaft. Daß wenig klar Lind nichts wichtig ist, ist die heimliche Tragik, die es enthält. Am schlimmsten aber ist: daß nichts geschieht.

Das Funktionslose und Defizitäre würdigt Christoph Schlingensief nicht nur strukturell in seinen Arbeiten, deren widersprüchliche Dramaturgie sich selbst lahm legt und deren Fehler und Schwächen ihr konstituierender Bestandteil sind: ein Feldzug, gegen Form und Funktion. Dagegen setzt er auch die Figuren seiner Filme und seiner Stücke: Behinderte interessieren ihn, weil sie eigentlich in unserem Gesellschaftssystem nicht vorgesehen sind.”

Aus einem ähnlichen Grund kommen auch die Arbeitslosen bei ihm auf die Bühne.

Selbst in der Kunst, klagt er, werde immer schon vor der Arbeit verlangt, daß klar ist, was hinten rauskommt". Schlingensiefs Lösungen, Meinungen und Entschuldigungen scheinen keine Lösungen, Meinungen und Entschuldigungen parat zu haben. Er sagt: "Es gibt keine klare Botschaft. Wer das für sich in Anspruch nimmt, der lügt." Den Zwang zum Funktionieren ersetzt er durch den Hang zum Experiment. Improvisation ist ein Element seine Arbeit. Ein Schlingensief-Theaterabend gleicht nicht dem anderen; der Ausgang eines Experiments ist nicht gewiß.


Das Leben imitiert die Medien

Schon in seinem frühen Film "Tunguska" (1984 erklärte er mit einem optischen und akustischer Bombardement dem Erzählkino den Krieg und jonglierte zugleich, wie er es immer noch tut, ironisch mit dem Begriff Avantgarde. Viele andere Vorlieben und Manien zeigten sich früh. Etwa die nervtötende Angewohnheit, seine Menschen schreiend durch die Szene irren zu lassen: das Leben eine Rennbahn. Auch wird in seinen Filmen viel theatralisch und kryptisch deklamiert. Kein Wunder, daß sie keine Kassenschlager wurden. Kein Wunder aber auch, daß der Schritt zum Theater für Schlingensief nahe lag.

Eines von Schlingensiefs Lieblingszielen heißt Totalirritation; Illusionsverweigerung ist eine der Herstellungsmethoden, praktiziert schon in Tunguska". An verschiedenen Stellen verbrennt ein Film, der im Film von einem Trupp sonderbarer Forscher gezeigt wird: ein überaus realistischer Effekt. "Als Tunguska" damals bei einer Festivalvorführung wirklich brannte, hat es zuerst keiner bemerkt. Leben und Kunst gehen bei Schlingensief immer seltsame Allianzen ein. Oft zeigt er das Leben, das die Kunst oder die Medien imitiert. Einmal trat er im Theater auf die Bühne, hielt die Vorstellung an und erzählte vom Tod seiner Großmutter. Wahrheit, Lüge oder beides? Privatheit vor achthundert Zuschauern, ist das möglich? Wenn in einem Schlingensief-Stück ein Schauspieler aus seiner Rolle tritt und behauptet, er habe heute Geburtstag sicher ist man nie. Widersprüche und Geheimnisse sind Bestandteile der Show.

Schlingensief drehte nach "Tunguska" eine Reihe von Filmen, manche exzentrisch gut, wie die romantischraunende Mär "Egomania" (1986), das kaputte Melodram "Mutters Maske" (1987) und den bleigrauen "Menu Total" (1985/86), in dem die Filmmenschen viel Widerwärtiges in sich hineinfressen: angefangen von einer unerträglichen Kindheit. In "Menu Total" spielt übrigens Helge Schneider, der auch die Musik, schrieb, die traurige Hauptrolle: auch er ein Bewanderter in der Zusammensetzung, nicht zu einander passender Wirklichkeitstelle.

Auftakt und Glanzpunkt der Schlingensiefschen "Deutschlandtrilogie" bildete der expressionistisch karge Film "100 Jahre Adolf Hitler" (1988/89). Im "Deutschen Kettensägenmassaker" (1990) haute er gewaltig auf den Putz, indem er an der Grenze zwischen Ost und Westdeutschland eine Menschenschlächterei situierte, aber, wie immer bei ihm, so erkennbar kulissenhaft, daß kein zartbeseiteter Zuschauer in Panik ausbrechen mußte. Mit "Terror 2000" (1992) folgte ein Rundumschlag auf das Gladbecker Geiseldrarna, Neonazis und die Spießigkeit des Bösen. Mit dem dort gezeigten Maß an Gebrüll, Chaos und plattem Nervensägentum hat Schlingensief sich selbst übertroffen.


"Verstandesgeschützte Sauereien"

Seinen Filmen eilte der Ruf derartiger Ekelhaftigkeit voraus, daß vielen die Lust aufs Ansehen schon im vorhinein vergeht und manche urteilten, ohne gesehen zu haben. So etwa der zarte, aber eigentlich nicht zimperliche Herbert Achternbusch: "Die Greuelpropaganda, die seine Filme begleitet, hat mich bislang, noch in keinen hineingelockt. Was man hört, schmeckt nach Wurstinhalt, nach Brat, nach was Durchgedrehtem, ich mag klare Sachen. In Interviews ist er mir zu klar. Verstandesgeschützte Sauereien mag ich nicht."

Ein harsches Urteil über etwas nur vom Hörensagen Bekanntes. Es deutet immerhinauf die Dimension der "Greuelpropaganda" und auf die Bedeutung der Presse irn Zusammenhang mit dem Namen Schlingensief. Dabei ist er selbst in einer Art von absichtlicher Haßliebe in die Medienwelt verstrickt: Von Anfang an hat er die Medien gespiegelt, kritisiert, attackiert und verhöhnt aber auch mit Faszination betrachtet. Von Anfang an haben es die Medien ihm gleichgetan mit Attacke, Hohn aber auch Faszination. Für das Publikum aber setzte die Kritik die Hemschwelle für die tatsächliche Betrachtung des Schlingensiefschen (Euvres hoch, siehe Achternbusch.) Aber vielleicht wird alles noch einmal ganz anders. Nach dem Film und dem Theater hat er jetzt die Sphäre erreicht, die er seit Jahren manisch von außen umkreist: Das Fernsehen. Im Herbst 1997 moderierte er eine eigene Talkshow. Man kann sich denken, was dabei herauskam. Am Projekt Totalirritation wurde weitergestrickt.


SCHLACHT UM EUROPA - EIN BESONDERER ABEND

Das anarchische Stück ist eine Attacke, eine Vernichtungs und Selbstvernichtungsaktion. Kein Zufall also, dass der Regisseur seine Zuschauer erst einmal zwingt, Ausschnitte aus Fellinis "8 1/2" anzusehen: Der Film, der darin produziert werden soll, wird nicht gedreht. Er scheitert an den Menschen, die während der Vorbereitungen zu den Dreharbeiten sich verlieren in ihren Traumata, einander mit ihren Psychosen die Zusammenarbeit unmöglich machen. Fellini reflektiert das Ereignis, das fertige Kunstprodukt, als eine Utopie. Alles war schon, deshalb wird nichts sein. Schlingensiefs Resümee ist bitter: Nichts wird (besser) werden, weil alles schon (schlecht) war. Die Schlachten sind geschlagen. Was kann die Kunst noch tun? Opfer beklagen und Täter der Vernichtung preisgeben. Sie kann versuchen, sich einzumischen, mitmischen kann sie schon lange nicht mehr. Und doch: Schlingensief resigniert nicht. Er produziert Angst und Argwohn und Abscheu. (C. Bernd Sucher, in: "Süddeutsche Zeitung", 24.3.1997)

Das Schlingensief-Theater sucht die Gruppenerfahrung, ist Ensemblespiel und Sozialarbeit. Die Schauspieler haben oft nicht mehr gemeinsam, als dass der Regisseur sie engagiert hat. Was zwischen den Schauspielern passiert, ist genauso wichtig und unberechenbar wie das, was zwischen der Gruppe und dem Publikum passiert. Schlingensief redet über seine Leute wie über seine Familie. Was sein Ensemble zusammenhält? "Die geheime Gewissheit, wie absurd es ist, das wir alle immer noch leben." Was ist zuerst da, die Idee oder die Gruppe? "Das Experiment besteht immer darin, das Umfeld so zu gestalten, dass es die Idee befördert." Wie geht das vor sich? "Wir erlauben uns, einen philosophischen Kontext herzustellen, den wir selber auch verstehen können." (Roland Koberg, in: "Berliner Zeitung", 8.1.1997)


Strahlkraft des Kunstwerks

In seinen Bühnenproduktionen tritt er, der in keinem seiner Filme mitspielte, selbst auf, inmitten seiner teils lang etablierten Truppe von Schauspielern und zum Teil behinderten Laiendarstellern. Seine Inszenierungen haben nun den Mittelpunkt, der in seinen Filmen trotz aller expressiver Kraftakte unsichtbar blieb: ihn selbst. Er erscheint als Conferencier, Animateur oder Moderator, der durch den Abend führt, so in "Hurra Jesus" (Graz 1995), "Rocky Dutschke 68" (Berlin 1996). "Begnadete Nazis" (Wien 1996) und auch in seiner jüngsten Arbeit Schlacht um Europa. Raumpatrouille Schlingensief an der Berliner Volksbühne. Da trägt er eine blöde Hippie-Perücke und einen glänzenden Anzug, der ihn als Showmaster und Raumschiffcommander gleichermaßen geeignet erscheinen läßt.

Auf der Bühne verbreitet er die Spannung eines, der unterhalb einer aufgeräumten Nettigkeit immer unberechenbar bleibt und vor wenig zurückschreckt. Dabei aber erhebt er sich in keiner Minute über sein Publikurn, und das ist eine Seltenheit bei deutschen Regieaufsteigern: völlige Anwesenheit bei sich selbst erlaubt ihm völlige Abwesenheit von Arroganz und elfenbeinturmhohen Eitelkeiten.

Schlingensief-Stücke mit Schlingensief unterscheiden sich von seinen Filmen grundlegend. Chaos und Widersprüche seiner Inszenierungen bündeln sich in seiner (Bühnen)Figur und verlieren damit Beliebigkeit. Sie haben jetzt ein Gesicht, eine Gestalt, die Aura von einem, der für das, was er auf der Bühne tut, "Vollhaftbarkeit" reklamiert. Ob und in welcher Weise Schlingensief tatsächlich an die Vollhaftbarkeit glaubt oder nicht, ist weniger die Frage. Entscheidend wirkt: er stellt sieh, selbst jederzeit angreifbar und im ständigen Dialog mit dem Publikum, der Angreifbarkeit, die jede seiner Produktionen allein durch das Nichterschlossene ihrer Form in besonderer Weise besitzt.

Er tritt nicht nur hinter seiner Arbeit hervor, sondern wird selbst ihr wesentlicher Bestandteil. Das macht die Faszination seines Theaters aus, das ist Schlingensiefs eigentliche Leistung. Es ist ein ungeschützter Schritt nach vorn. Ein Durchbruch. "Das Kunstwerk strahlt dann am meisten, wenn es sehr verwandt ist mit der Person des Künstlers, sagt er. Das sei ihm erst spät klar geworden.


BAHNHOFSMISSION HAMBURG

"Helfen, helfen, helfen" soll von nun an Schlingensiefs Devise sein. Noch in derselben Nacht zieht Schlingensief mit seinen Darstellern und ein paar unermüdlichen Zuschauern hinüber in die leerstehende Polizeistation an der Kirchenallee, nur ein paar Schritte vorn Schauspielhaus entfernt. Die alte Wache wird als "Schlingensiefs Bahnhofsmission" zu einer Anlaufstelle für die Junkies und Obdachlosen im Quartier. Ein heisses Süppchen gibt's, ein paar Kojen und abends Tanztee. Von hier aus werden auch die mobilen Einsätze in den folgenden sechs Tagen geplant. Die Truppe hilft Tüten tragen bei Jill Sander, zelebriert auf dem Bahnhofsvorplatz ein "Hochamt mit Speisung der 5000"; Schlingensief als Kardinal unterm roten Baldachin plaudert mit Domenica, rückt den Scientologen auf die Pelle, strippt in einer Sexbude und feiert unaufhörlich sich selbst. (Michael Kunitzsch, in "Neue Zürcher Zeitung (251, 26.10.1997).

“Kann es überhaupt wahr sein wie es läuft? Ist verordnete Arbeitslosigkeit nicht schon verordneter Massenmord? Sind das nicht schon sechs Millionen Leichen, die wir da rumlaufen haben?" (Christoph Schlingensiet, in: Taz, 15.1.1998)


CHANCE 2000

Zur Premiere von "Chance 2000" implodierte zumindest für die Dauer der Performance das deutsche Politikverständnis zwischen Spiel und Ernst. Schlingensiefs Irritationskonzept fällt allerdings auf fruchtbareren Boden denn je. Der Verdruss der Deutschen an ihren eigenen gesellschaftlichen Strukturen führte zwar bislang nicht zu deren Veränderung, aber zu einem neuen populären Begriff von Humor, der traditionelle Denk- und Moralkategorien zeitgeistig auszuhebeln scheint. Dummerweise zieht er stets die Verkultung seiner Repräsentanten nach sich egal, ob die dann Guildo Horn oder Schlingensief oder Harald Schmidt heissen. Spätestens an diesem Punkt droht die Restauration. (Eva Behrendt, in: "Tagesanzeiger" (Zürich), 17.3.1998)


KASSEL

Schlingensief machte in Kassel, was er immer macht: Er verwandelte Leben in Kunst und Kunst in Leben, eine simple, aber enorm effektive alchimistische Übung. Sein Theaterstück war eine prima Party. Die Künstler schliefen auf Feldbetten, Schlingensief brabbelte zum Frühstück lustigen Blödsinn und zeigte Amateurfilme seiner Eltern (Christoph als Kleinkind! Also eigentlich fast wie heute). Seine "Tötet Helmut Kohl" Parole bliebt nicht ungehört, die Polizei rückte an und verhaftete ihn. Schlingensief berichtet später von einem schönen Dialog auf dem Polizeirevier. Polizist: "Ich mache das nur, weil ich Familie habe." Schlingensief: "Ich hätte auch gerne Familie."



DIE ZEIT schrieb:

"Herr Schlingensief, das waren doch Sie, der behauptet hat, der Neue Deutsche Film sei 'larmoyante, übergekochte, sentimentale Scheisse'?"
Schlingensief: "Ja, aber da gab es auch eine Menge Snobismus und Exzentrizität. Mehr Snobs und Stil als heute."

"Fassbinder in Ihrem Leben, Herr Schlingensief!"
Schlingensief: "Das einer so viele Sachen macht, fand ich toll. Ich finde, dass er falsch eingestuft wird, dass er ein Zyniker war und die ganzen Genres noch mal abgeklopft hat, um zu sehen, was drin ist, und sich dann ins All katapultiert hat."

"Und wieso Bottrop?"
Schlingensief: "Das liegt gleich neben Oberhausen. Dort gab es das Bavaria-Traumland, einen Film-Vergnügungspark, der jetzt der Warner Bros. gehört. Die Bauern blockierten mit ihren Traktoren die Zufahrtswege, den Zugang zur Illusion."

"Und wieso Pasolini, die 120 Tage von Sodom?"
Schlingensief: "Noch einmal das Grosse wollen. Das gehört doch zu einem Schluss. Das Remake eines Grossfilms. Und dieser Grossfilm enthält diesen ständigen Wechsel zwischen Lust und Strafe. Das war doch auch das Rezept für Fassbinder und seine 'Familie'." (Helmut Schödel, in: "Die Zeit, Nr. 47/1996)

Kein deutscher Regisseur hat in den letzten Jahren das Attribut "politisch" für sein Theater derartig emsig verdient wie Christoph Schlingensief. Während der gesellschaftliche Begriff des Politischen zunehmend beliebig und theatralisch wurde, reagierte Schlingensief mit einer sehr eigenwilligen Kur: Das Diffuse des Politischen bekämpfte er mit einer totalen Verwirrung vermeintlicher Eindeutigkeiten.

Angefangen von seinen frühen Filmen in den Achtzigerjahren, in denen Hitler, Vergewaltiger und Amokläufer orgiastischen Unfug anstellten, über seine Theaterstücke an der Berliner Volksbühne in den Neunzigern, die deutsche Ikonen wie Rudi Dutschke, Helmut Kohl oder Rosa Luxemburg mit chaotischen Spektakeln vom Sockel holten, bis zu seinen Aktionen im öffentlichen Raum (etwa der künstlerischen Sozialstation 1997 am Hamburger Hauptbahnhof) bleibt ein Grundmotiv immer sichtbar: Traue keinen Gewissheiten!

Die permanente Verunsicherung betreibt Schlingensief mit einer Verwischung der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, Kunst und Straftat, Absicht und Handlung. Gerade bei seinen Aktionen außerhalb des Theaters funktioniert das häufig genial: Das Big-Brother-Spiel mit Asylanten im Zentrum von Wien, bei dem der letzte im Container Verbliebene eine Aufenthaltsgenehmigung gewinnen sollte, hielten nahezu alle Passanten für echt. Und seine "Hamlet"-Inszenierung in Zürich, für die er nicht nur scheinbar reuige Neonazis engagierte, sondern auch noch ein Aussteigerprogramm für Rechte erfand, entfachte eine heftige Diskussion über die Seriosität derartiger Aktionen.

Schlingensiefs spontanes und Regel verletzendes Theater – das zeigen schon diese wenigen Beispiele aus seinem zwanzigjährigen Störbetrieb – zeichnet sich zunächst durch ein gehöriges Minensuchtalent aus. Gesellschaftliche Themen, die entweder dem allgemeinen Konsens anheim gefallen sind (Hitler ist böse! Mohammed Atta ist böse!) oder mit schweigendem Unbehagen behandelt werden (Behinderte, Obdachlose, Asylanten, Arbeitslose), landen mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann im Schlingensiefschen Warenkorb. Als Hauptakteur seiner eigenen Kunst, die nur dank seiner überdrehten Entertainer-Qualitäten überhaupt funktioniert, betreibt er einen vehementen Kampf gegen Heuchelei mit den Mitteln der Aktionskunst, des Tabubruchs, der Überforderung und der Improvisation.

Nun ist Heuchelei in der Politik wie in den Medien und der Kunst, also den Feldern, in denen Schlingensief sich bewegt, so weit verbreitet, dass die normale Reaktion der Zynismus wäre. Aktionen wie „Tötet Helmut Kohl!“ auf der documenta 1997, Symposien zur Kunstqualität des Terrorismus oder die Verwendung von geistig Behinderten in seinen Filmen und Theaterstücken haben dann auch immer wieder diesen Vorwurf auf ihn selbst gemünzt. Doch was diesen Verdacht schnell entkräftet, ist die altmodische Weltsicht, die hinter seinem Radau steht: Christoph Schlingensief ist ein Moralist mit geradezu biblischen Botschaften: Solidarität, Ehre und Mitmenschlichkeit sind die Forderungen, die sich aus seinen künstlerischen Angriffen gegen ihren Missbrauch abzeichnen.

Der dauernde moralische Weckruf mit den Mitteln der gestörten Harmonie, den Schlingensief betreibt, unterliegt allerdings der Gefahr aller Provokationskunst: Hat man ihre Methode durchschaut, geht die Irritation verloren. Und so macht sich gerade innerhalb des Theatersystems mittlerweile eine gütige Neugier für seine Entregelungen breit, die Gift für die Wirkung ist. Seine aktuelle Trilogie „Attabambi Pornoland“, die mit einem orgiastischen Mix aus Videos, Spielszenen, Sudelei, Pornografie, Lautstärke und Kunstzitaten die Deutungsmacht der Medien attackiert, wird eher als Event rezipiert: Das muss man halt gesehen haben.

Doch auch diese Abwehrreaktion entschärft nicht wirklich das Politische an Schlingensiefs Aktionstheater. Er bleibt in seiner assoziativen und aggressiven Art inhaltlich nicht leicht festzulegen und zwingt damit den Zuschauer zur Selbstüberprüfung. Als charmanter Medienliebling mit eigenen Talkshows oder als Interviewgast moderiert er sein zorniges Gewissenstheater inzwischen auch in breite Bevölkerungsschichten. Und selbst die Weihen als ernsthafter Regisseur scheut er nicht mehr: Der bekennende Wagner-Fan darf bei den Bayreuther Festspielen den "Parsifal" inszenieren. Es werde keinen Bombentrichter auf der Bühne geben, hat er bereits versprochen. Er bleibt doch immer für eine Überraschung gut.

Till Briegleb, Goethe Institut



Weiterführende Texte zu Christoph Schlingensief

- Christoph Schlingensief - Eine Kurzbiografie von Jörg van der Horst
- Christoph Schlingensief - Portrait von Till Briegleb, Goethe Institut
- Über die Filme, das Theater und die Talkshow - Georg Seeßlen
- Portrait Schlingensief - von Dietrich Kuhlbrodt, erschienen 1989 in EPD-Film
- Christoph Schlingensief - Cinegraph Filmlexikon bis 1989 mit Ergänzungen
- It's not going - Engl. Biographie von 1998, Guggenheim Museum New York

Weitere Informationen

- Artforum 05/2006
- Goethe Institut Bio
- Seeßlen Essay
- Kuhlbrodt Essay
- Cinegraph
- Guggenheim (English)

- Filmographie
- Interviews

Externe Links

- Dietrich Kuhlbrodt
- Volksbühne Berlin
- Royal Produktion