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Der Zwischenstand der Dinge
Überlebenskunst (Berliner Zeitung)
"Der Zwischenstand der Dinge": Christoph Schlingensiefs Krebs-Theater im Gorki-Studio
Von Dirk Pilz
Gleich zu Beginn tritt Christoph Schlingensief an ein kleines Rednerpult. Müde sieht er aus, erschöpfter als zuletzt. In wenigen Sätzen erklärt er noch einmal die Entstehungsgeschichte dieses Abends. Im Juni, als der 47-Jährige noch Chemotherapie bekam und es ihm so übel ging, dass er von seiner Lebensgefährtin, der Ausstatterin Aino Laberenz, zu den Proben und oftmals gleich wieder nach Hause gefahren werden musste, entstand im Studio des Maxim Gorki Theaters eine Inszenierung nur für Freunde. Zwei Vorstellungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Erstmals versuchte er damals, seinen Krankheitserfahrungen mit dem Lungenkrebs eine künstlerische Form zu geben. Die Inszenierung ist inzwischen legendär, weil sie nur wenige sahen, die aber viel darüber sprechen. Vor zwei Monaten wurde aus diesen "Splittern", wie Schlingensief jetzt sagt, die "Kirche der Angst vor dem Fremden in mir", herausgekommen in einer ehemaligen Industriehalle bei der Ruhrtriennale in Duisburg. Und nun kehrt die "Kirche" als einstündige Inszenierung für drei ausverkaufte Vorstellungen zurück an seinen Ursprungsort, ins Studio des Gorki-Theaters. Sie heißt "Der Zwischenstand der Dinge" und handelt von Schlingensief, seinem Krebs und seiner Angst. Mehr als ein Zwischenstand könne der Abend nicht sein, erläutert Schlingensief. "Es gibt inzwischen einen neuen Zwischenstand, der ziemlich scheiße ist." Er ringt mit den Tränen. "Auf meinem Grabstein soll stehen: Auf Wiedersehen! Das ist die schönste Drohung, die ich mir vorstellen kann." Dann tritt er ab und überlässt den Krebs dem Theater, seinem sehr besonderen Selbstdurchleuchtungstheater.
Der neue Zwischenstand ist genau das, was zu befürchten war. Schlingensief ist auch nach der operativen Entfernung eines Lungenflügels im April vom Krebs noch nicht geheilt. Dennoch arbeitet er intensiv weiter. Das HAU hat soeben eine Ausstellung mit Filmmaterial aus Namibia gezeigt, das Burgtheater plant für das kommende Frühjahr mit einem größeren Projekt von ihm, "irgendwo in Afrika" soll möglichst bald sein Festspielhaus entstehen, und er selbst kündigte jetzt bei seiner kurzen Ansprache an, dass die "Kirche der Angst" irgendwann nach Berlin komme.
Einen "Kirchen"-Besuch kann man nicht empfehlen, allenfalls verschreiben. Denn wer die Inszenierung in Duisburg erlebt hat, wird sie schwerlich vergessen. Fast möchte man danach den Kinderglauben für wahr halten, dass Kunst doch direkt ins Zuschauerleben eingreifen, es verändern und verwandeln kann. Die "Kirche" war ein komplexes "Fluxus-Oratorium", eine bizarre Mischung aus Happening, Gottesdienst und Installation samt Abendmahlsfeier, Ministranteneinmarsch und Schlingensief als Hohepriester in eigener Krankensache. Die Privatheit seiner Sterbensangst hat er so zum öffentlichen Gut gemacht, derart intim, dass die Zuschauer zu Gliedern der einen großen Endlichkeitsgemeinde wurden; jeder erfuhr sich hier selbst auf unerhört unabweisbarer Weise als Sterblicher.
"Der Zwischenstand der Dinge" ist in vielen Belangen ein anderer Abend, aber genauso erschütternd - mir hat dieses Krebs-Theater auch diesmal an den Seelen-Sinnen gerüttelt, wieder habe ich das Theater mit weichen Knien verlassen. Und wieder ist nicht zu entscheiden, ob das Echte der Schlingensief-Krankheit die Inszenierung nobilitiert oder sie einfach unangreifbar macht, wieder bleibt offen, ob sie Leiden ausdrückt oder Mitleiden einfordert, wieder ist es so, dass dieser "Zwischenstand" eine konkrete, zwischenmenschliche Reaktion verlangt. Umarmen, trösten, beschimpfen vielleicht. Irgendwas. Einen Theaterabend kann man aber nicht umarmen, trösten, ausschimpfen. Es ist also auch eine drastische Entfremdungserfahrung, die durch dieses Schmerz- und Selbstdarstellungstheater provoziert wird. Der Blick auf die eigene Sterbensangst und der Blick auf die Bühne vereinen sich zur Selbsterfahrung als Sterblichkeitswesen. Ist das noch Theater? Wenn ja, welches? Und spielt das überhaupt eine Rolle?
Schlingensief denkt diese Fragen bei aller Selbstentblößung mit und inszeniert ein Spiel über das Spielen mit dem eigenen Leben und Sterben. Als Ausgangsmaterial dienen, wie auch bei der "Kirche", jene 450 Seiten Text, die er im Krankenhausbett in sein Diktiergespräch gesprochen hat und die von der Dramaturgin Anna Heesen sortiert wurden. Verlesen, gesprochen, hingestammelt werden sie von den Schlingensief-Spielern: Margit Carstensen steht am Pult und atmet schwer ("Dieser Einbruch der Realität!"); Mira Partecke richtet alle Worte auf einer geraden Linie aus ("Ich habe immer das Gute gewollt"); Angela Winkler flötet ins Telefon und der Trupp behinderter Schauspieler singt im Chor "Ho, ho, ho!", "Avantgarde Marmelade", "Du Armer, du Armer!"
Es ist, wie immer bei Schlingensief, ein herrliches Nebeneinander von Zufall und Ordnung, Absicht und Geschehenlassen auf einer Bühne, die hinter Glas ein Krankenzimmer zeigt und davor einen schmalen Raum für Durchmärsche, Kurzauftritte und Publikumsansprachen lässt. Ulrike Bindert-Eidinger singt Passagen aus Arnold Schönbergs Oper "Erwartung", Gunnar Teuber tritt hinter der Glasscheibe ans Krankenbett und visitiert Margit Carstensen. Auf der großen Leinwand, die umständlich immer wieder hoch und niedergelassen wird, ist Schlingensief als Kind zu sehen und leidend im Krankenhaus: "Bitte nicht berühren jetzt, bitte nicht." Am Ende geht das Licht aus, und wir alle sitzen stumm betroffen vor der leeren Leinwand. Es dauerte am Premierenabend lange, ehe jemand zu applaudieren wagte.
Der Berliner "Zwischenstand" ist keine Messe mehr wie in Duisburg. Es gibt keinen Schrein mit Schlingensiefs Lungenröntgenbild, keine Verweise auf Joseph Beuys' weltliche Wunden-Theologie, keinen wuseligen Kinderchor, kein irdisches Abendmahl. Der Abend ist ruppiger, schroffer und zärtlicher zugleich, auch direkter und weniger assoziationstief. In Duisburg war es, als säße man mit Schlingensief am überbordenden Altar der Endlichkeitsanbetung, in Berlin ist es, als blättere man mit ihm in der Krankenakte. Hier wie da entzieht sich das Theater jedoch jeder Kritik - der Künstler Schlingensief macht sich unangreifbar, weil der (kranke) Mensch Schlingensief inszeniert ist. Krankheit aber lässt sich nicht kritisieren, nur heilen oder annehmen. "Tun oder erleiden", sagt Mira Partecke, "soll ich mich umbringen?" fragt Carstensen. Der "Zwischenstand" erzählt so auch die Geschichte einer Entscheidung für das Erleiden, für die Krankheit und für das Theater. Denn Schlingensief hat den Krebs zu seinem Kunstbesitz erklärt, er inszeniert, bearbeitet ihn, macht sein Sterben, seine Angst, seinen Jammer zur Bühne für jedermann.
Sie ist für ihn und uns auch ein Ort zur Einübung in die größte aller Künste: die Überlebenskunst.
Erschienen in der Berliner Zeitumg vom 15.11.2008
Materialübersicht zu »Der Zwischenstand der Dinge«
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Projekt-Dossier
- Übersicht
- TAZ-Interview
- Nachtkritik.de
- Berliner Zeitung
- Die WELT
- Süddeutsche
- Der Tagesspiegel
Radio Eins Interview vom 13. Nov. 2008 (MP3-Datei, 4.8 MB)
Externe Links
- Gorki Theater Berlin
Der Zwischenstand der Dinge
Gorki Theater Berlin
13., 14. und 15.11.2008
Ein Projekt von Christoph Schlingensief
Regie: Christoph Schlingensief
Regie-Mitarbeit: Anna Heesen, Aino Laberenz, Leonard Schattschneider
Bühne: Kathrin Frosch, Aino Laberenz
Kostüme: Aino Laberenz
Video: Meika Dresenkamp
Musik: Timo Kreuser
Mit: Michael Binder, Margit Carstensen, Hanna Eichel, Wanda Fritzsche, Kerstin Grassmann, Norbert Müller, Achim von Paczensky, Helga von Paczensky, Mira Partecke, Gunnar Teuber, Angela Winkler, Eva Zander
Gesang: Ulrike Bindert-Eidinger.
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