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Sperrt ihn weg, bevor etwas passiert!
oder "Tötet Schlingensief!"


Mailingliste für Kunst, Kritik und Kulturpolitik in Hamburg, 22.3.2005

von Cornelia Sollfrank


Was ist der Unterschied zwischen Theater und dem sogenannten richtigen Leben? Spielt es eine Rolle, ob jemand eine Rolle spielt oder sich selbst spielt und ob dieser jemand ein Schauspieler oder Künstler ist? Zieht man von diesen beiden Fragen ausgehend noch ein paar Verbindungen zur deutschen Gesamtwetterlage, kann man in etwa erahnen, in welchen Gefilden sich Schlingensief auf seiner letztwöchigen Tour bewegte.

Sieht man sich die Rezensionen an, die seine am Freitag in Hamburg zu Ende gegangene Tour hervorgebracht hat, gewinnt man den Eindruck, die Rezensenten haben bei "Schlingensief intim - Fickcollection, A. Hipler "entweder nicht zugesehen, nicht zugehört oder sie haben einfach vergessen, dass sie im Theater waren! Durchgängig bestehen die Texte aus spärlichen Beschreibungen, dessen was da auf der Bühne passiert ist. (Und jede Beschreibung muss in Anbetracht der Dichte der vorgetragenen Sujets, der Fülle von dargestellten Charakteren, Material und Ideen spärlich ausfallen.) Wenn Wertungen auftauchen, sind sie vorsichtig wohlwollend bis vernichtend. Begründungen der Urteile im Sinne von "Kritik" fehlen allenthalben. Aber das Schlimmste von allem: Den Kritikern scheint entgangen zu sein, dass die Akteure auf der Bühne nicht sich selbst spielten, sondern eine Rolle. Diesem Spiel mit dem Authentischen, für das Schlingensief in früheren Aktionen sein Kapital angesammelt hat, sind sie alle erlegen, ohne es zu bemerken. Reingefallen auf den großen Verführer, der dieses Changieren zwischen dem Echten, dem Eigenen, dem aufrichtigen Anliegen, der beissenden Kritik der Verhältnisse und der Parodie seiner selbst als massenbewegenden Sinnstifter, der, nachdem alle an seinen Lippen hängen und weitere Anordnungen erwarten, einfach weggeht und die Leute ihrem eigenen Defizit überlässt. Alle lechzen nach diesem großen Geist, der in der Lage ist, einen Weg zu leuchten aus den finsteren Zeiten, der in der Lage ist, seine Finger auf die Wunden unseres verkommenen Kunstbetriebes zu legen und uns in unserem unendlichen Selbstmitleid tröstet. Und dann, dann sind sie sauer und enttäuscht, wenn er es nicht tut, nicht tut, weil er es einfach nicht kann. Das führt er vor - und deswegen mögen sie ihn nicht, die Kritiker.

Für den Kurzschluss in ihren Köpfen "Schlingensief ist gleich Provokation" machen sie ihn verantwortlich. Und aus dieser Formel wird er sich wohl auch nicht mehr befreien können, weder indem er ihr gerecht wird, noch indem er darauf herumreitet oder vernünftig dagegen anredet. Sie ist eingebrannt in alle Hirne - für immer. Was ihm bleibt, ist sie selbst-reflexiv in seine Aktionen einzubauen. Das tat er denn auch, aber subtil und zwischen den Zeilen.

Dem Hamburger Abendblatt ist zu wenig "eindeutig Erkennbares passiert". Das ist natürlich immer ein Problem mit der Kunst, dass sie nicht genau sagt, was sie eigentlich will. Und was soll man dann schreiben? Für Abendblatt-Verhältnisse ein nachvollziehbarer Grund für Verärgerung. Andere werfen ihm Selbstreferentialität vor. Darüber könnte man ernsthaft diskutieren, aber nicht im vorgebrachten Sinn von "nur wer sich gut vorbereitet hatte auf den Abend, hat etwas verstehen können."(Kultur Rhein-Main) Ein bescheidenes Wissen zu haben über Musik, über Wagner, die Querelen in Bayreuth, über Neue Musik, über kulturpolitische Skandale, wie die Etablierung der Flick-Collection in der Berliner Republik, über Gunther von Hagens gefeierte Leichenfledderei, über die neuerdings gut vermarktete und vermarktbare Spiritualität von Isländerinnen, über die neuen deutschen Künstlergenies und deren us-amerikanische Marktgängigkeit, bedeutet nicht, sich auf den Schlingensief-Abend gut vorbereitet zu haben, sondern einfach nur, Anteil zu nehmen am Zeitgeschehen. Wer in diesem Sinne nicht vorbereitet ist auf den Abend, dem kann auch ein Schlingensief nicht mehr helfen!

Die Frage nach der Selbstreferentialität war auch immer wieder Thema des Stückes und scheint eines der zentralen Probleme zu sein, an denen der Meister herumdenkt und herumlaboriert. L'art pour l'art oder gesellschaftspolitische Relevanz von Kunst? Kann das Implizite wirken? Liegt gerade darin die Schlagkraft? Dabei war der Satz, dass jede Kunst, die ihr Engagement offenlege, bereits verloren habe, wohl eine der zentralen Botschaften. Aber ist es nicht gerade das, was Schlingensief tut durch die Wahl seiner Themen: Asylanten, Wahl, Flick, Hartz IV etc.? Ja und nein. Er wählt sie sich als Themen. Und er hat ein seismografisches Gespür für die Dinge, die in der Luft liegen. Aber anders als etwa die von ihm diffamierten Unterzeichner der Aktion "Heil dich doch selbst - die Flick-Collection wird geschlossen", die sich erst 4 Monate nach der Eröffnung und mit der Rückendeckung durch eine Nobelpreisträgerin zu einem Statement entschließen konnten, bezieht er keine eindeutige, moraliserende Position, sondern bricht jedes "dagegen" mit mindestens einem "dafür", einem weiteren "gegen das dafür", um letztendlich nach einer Form der Äußerung oder des Protestes suchend endet, die außerhalb jeder Dialektik steht. Der Versuch, damit jeglicher Vereinnahmung, die dem simplen "dagegen" inhärent ist, zu entkommen, klappt - meistens. Aber es ist eine permanente Gratwanderung, für ihn und für sein Publikum.

Was wird vorgebracht gegen Schlingensief? Wie gesagt, wenig Argumente, viele Beschimpfungen: Als "Quatsch" und "Stuss" werden seine Aufführungen provozierend abgekanzelt. Einem Herrn Kluger (FNP) fällt nichts Gemeineres ein, als sie als "Unverschämte Verschwendung wertvoller Lebenszeit" zu bezeichnen. Und fiele das, selbst wenn es wahr wäre, angesichts eines täglichen Fernseh-Konsums in Deutschland von 3-4 Stunden, tatsächlich ins Gewicht? Darüber hinaus zehre Schlingensief angeblich von der "müden Toleranz einer stumpfen Gegenwart, die nahezu alles hinnimmt, was man ihr auftischt." Bei genauerer Betrachtung dessen, was diese "Gegenwart" so alles hinnimmt, kann es auch keinesfalls ein Schlingensief sein, der erwähnenswert ist.

Welch wunderlich Bild zeichnet also die Lektüre der Schlingensief-Rezensionen von unseren Feuilletons? Nehmen sie tatsächlich keinen Anteil am Zeitgeschehen? Interessiert sie die Frage nach der Wirkung der Kunst wirklich nicht? Gucken sie wirklich lieber Fernsehen, als sich mal ein bisschen Uneindeutigkeit auszusetzen? Und selbst dieses Unverständnis und Unvermögen baut er geschickt wieder ein in sein Werk, führt es vor, indem er minutiös alle Kritiken auf seiner Website auflistet.

Wie dem auch sei, nach dem etwas holperigen und manchmal dünnen ersten Drittel des Stückes habe ich mich blendend amüsiert. Ich habe gejohlt, geklatscht (mitten drin UND am Ende) und habe Tränen gelacht, als zum Beispiel ein angeblicher Jonathan Meese mit Fistelstimme von Hagen von Tronje faselte, bemüht genial auf eine auf dem Boden ausgebreitete Leinwand "HAGEN - SAGEN - BEATLES" schmierte, daraufhin das Stück Stoff lächerlich bedeutungsschwanger, ein riesiges Holzkreuz vor sich hertragend, mehrmals umschritt, um das eine oder andere mit welcher magischen Energie auch immer aufzuladen... als zum Beispiel die angeblich langjährige Assistentin von Catherine David, die nicht wusste, wie sie den nächsten Flieger kriegen und mit der Unberechenbarkeit von Kunst fertig werden sollte, einfach in der Manier französischer Chansonnieren immer ekstatischer "Amour" zur "Verklärten Nacht" von Arnold Schoenberg ins Mirkophon hauchte, was ungeahnte neue Dimensionen eröffnete... und als zum Beispiel Schlingensief dazu rief: "Wie viele Leute rennen durch die Straßen, die jetzt 1-Euro-Jobs machen müssen und die im Kern wirklich mal was Gutes und Schönes machen wollten, und denen nichts anderes geblieben ist, als sich selbst zu verwalten! Wann ist diese verklärte Nacht endlich zu Ende?"... "Zerstörung ist Zerstörung, und die Welt geht weiter!" "Wir sind das Fleisch!"

Die Welt am Sonntag meldete Pannen beim Kartenvorverkauf, was zu Turbulenzen zu Beginn einiger Veranstaltungen führte und folgert daraus:"... das überaus große Interesse an Künstlern wie Meese und Schlingensief." Die haben da wohl was nicht mitgekriegt! Denn würde man die beiden in Beziehung setzen wollen, käme man höchstens zu dem Ergebnis, dass Schlingensief all das ist, was Jonathan Messe gerne sein möchte. Und was sie wirklich unterscheidet, ist dass Meese niemals in der Lage wäre, die Lächerlichkeit seines Tuns parodierend selbst vorzuführen. "In einer Aktion muss jedes Detail stimmen" wurde am Ende im Chor wiederholt, als die zehn beteiligten Schauspieler, zu einer Prozession formiert, die Bühne verließen und Schlingensiefs Hose rutschte, was den Blick freigab auf seine modische Unterhose sowie seine makellosen, leicht gebräunten Männerbeine.

Sieht man sich auf Schlingensiefs sehr gut gepflegter Homepage www.schlingensief.com etwas um, kommt man ins Grübeln. Der angeblich so Chaotische, der Provokateur scheint bestens organisiert zu sein. Er und seine Helfer arbeiten hart an der Marke "Schlingensief". Sie sind sich der Gesetze des Marktes bewusst und wollen die Fäden selbst in der Hand behalten. Doch dass er seine "dann doch" meese-artigen Schmierereien, so genannte Reliquien, von genau der Galerie vertreiben lässt, die zur Hälfte die Flick Collection ausgestattet hat, stößt einem bitter auf. Nachdem uns klar geworden ist, dass das Problem bei der Flick Collection nicht nur ein Flick ist, sondern auch die bewusstlosen Politiker der Berliner Republik, ein unkritisches Publikum und Geld-geile Künstler, denen es egal ist, in welchem Kontext ihre Kunst gezeigt wird, kann man nur hoffen, dass es sich bei dieser Verbindung zum Kunstmarkt um ein Fake handelt...



Weiterführende Artikel zur Fickcollection, A. Hipler

- "Pute als Lebenskunst" - Bericht vom Auftakt in der Schorndorfer Manufaktur
- "Colonia Dignidad" - Ein heißer Fickcollection-Abend im Schauspielhaus Köln
- "Verwandlungsszenen" - Die Fickcollection in der Münchner Muffathalle
- "Koordinaten" - Vierter Tagesbericht - zu Gast im Schauspielfrankfurt
- "Bilderstürmer" - Bericht zum fünften Abend der Fickcollection in Hamburg
- "Putenrollbraten aus dem Römertopf" - Schlingensiefs Originalrezept
- Tag 1 Bilderstrecke - Eindrücke des Auftakts in der Schorndorfer Manufaktur
- Tag 2 Bilderstrecke - Der Fickcollection Abends im Kölner Schauspielhaus
- Tag 3 Bilderstrecke - Schlingensief intim zu Gast in der Münchner Muffathalle
- Tag 4 Bilderstrecke - Bildeindrücke des Schlingensief intim Abends in Frankfurt
- Tag 5 Bilderstrecke - Fotos der Fickcollection auf Kampnagel in Hamburg
- Tag 6 Bilderstrecke - Eindrücke des zweiten Hamburger Fickcollection Abends
- Fickcollection Übersicht - Übersicht aller Fickcollection Berichte und Fotos



Fickcollection, A. Hipler - Pressespiegel

- "Sperrt ihn weg, bevor etwas passiert!" - von Cornelia Sollfrank, 22.03.05
- "Darunter steckt immer ein kluger Kopf" - Kritik aus der WELT, 19.03.05
- "Nicht die Nerven verlieren!" - Kritik aus d. Hamburger Morgenpost, 19.03.05
- "42" - Frankfurter Rundschau vom 18.03.05, von Sylvia Staude
- "Auf Plateausohlen" - Kritik aus der Wormser Zeitung, 18.3.05
- "Wenn das Chaos keine Theorie bleibt" - Kritik aus der FAZ vom 17.03.05
- "Von Wolfgang Wagner bis Pute" - Pforzheimer Zeitung vom 17.03.05
- "Augentropfen für den Märtyrer" - Kölner Stadtanzeiger vom 16.03.05
- "Parsifal mit Pute" - Kritik aus SPIEGEL ONLINE vom 16.03.05
- "Die Kunst, das sind wir" - Eine Kritik aus der FAZ vom 18.03.2005
- "Schlingensief live & intim" - Kritik aus Intro.de vom 15.03.2005
- "Kraut, Rüben und Schönberg" - Kritik, Stuttgarter Nachrichten, 15.03.05
- "Schräger Vogel an Tabascosauce" - Kritik, Stuttgarter Zeitung, 15.03.2005
- "Von Wagner bis Pute" - Kritik aus der Wiesbadener Zeitung, 15.03.2005

Weitere Artikel

- Tagesbericht 1
   Pute als Lebenskunst


- Tagesbericht 2
   Colonia Dignidad


- Tagesbericht 3
   Verwandlungsszenen


- Tagesbericht 4
   Koordinaten


- Tagesbericht 5/6
   Bilderstürmer


- Stabliste

- FAZ-Kritik, 18.03.

- Fickcollection Index

- Pute im Römertopf -
   von C. Schlingensief


   Pute im Römertopf


Bilderstrecken

- Bilderstrecke 1
   Schorndorf, 13.03.


- Bilderstrecke 2
   Köln, 14.03.


- Bilderstrecke 3
   München, 15.03.


- Bilderstrecke 4
   Frankfurt, 16.03.


- Bilderstrecke 5
   Hamburg, 17.03.


- Bilderstrecke 6
   Hamburg, 18.03.






Tourtermine

13.03.2005
Schorndorf / Manufaktur

14.03.2005
Köln / Schauspiel

15.03.2005
München / Muffathalle

16.03.2005
Frankfurt / Schauspiel

17.03.2005
Hamburg / Kampnagel

18.03.2005
Hamburg / Kampnagel