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"Der Feind im eigenen Körper"
Lesen Sie Auszüge aus dem gleichnamigen Beitrag von Gerald Traufetter in DER SPIEGEL, Nr 49/2004, S. 174-180. Aus urheber- rechtlichen Gründen ist es uns seitens des SPIEGELS nicht gestattet, an dieser Stelle den vollständigen Artikel wiederzugeben, was wir um so mehr bedauern, als der Beitrag hier das nicht-kommerzielle Anliegen verfolgt, über die Nervenkrankheit ALS grundsätzlich zu informieren.
[...] Immendorff hat eine unheilbare Nervenkrankheit, und wenn er über sie spricht, dann fallen ihm, dem Sohn eines Soldaten, Kriegsbilder ein: Sein Körper, das sei eine "Ritterburg, der schon einige Zinnen fehlen". Er wolle "von den letzten Plattformen hinab kämpfen", sagt er mutig - und fügt sogleich resigniert hinzu: "Der Feind sitzt in mir, er frißt die Burg von innen."
Sein Gegner heißt "Amyotrophische Lateralsklerose", abgekürzt ALS. Im Laufe weniger Jahre sterben jene Nervenzellen ab, die die Muskeln im Körper steuern. Ohne Impulse aus dem Gehirn verkümmern die Muskeln: die in der Zunge zum Sprechen, die im Kehlkopf zum Schlucken - und irgendwann auch die zum Atmen in der Brust. Der Mensch erlahmt und stirbt, sofern er sich nicht künstlich beatmen lassen will.
Rund 6000 Deutsche leiden an ALS. Jedes Jahr kommen etliche hundert dazu. "Es sterben bei uns mehr Patienten an ALS als an Aids", sagt der Neurologe Thomas Meyer, der eine spezielle Ambulanz an der Berliner Charité leitet.
Das Leiden gilt als Krankheit der Hochbegabten: Betroffen sind überdurchschnittlich häufig gut gebildete, sehr aktive, sportliche und schlanke Menschen. Leistungsträger, die binnen kurzer Zeit nicht mal mehr ein Glas Wasser in den Händen halten können. "Das Leben wird zu einem einzigen Rückzugsgefecht", sagt der Düsseldorfer Malerfürst.
[...] Seine letzte Schlacht gegen die Krankheit will er mit den Waffen der Kunst führen. Aus dem Erlös seiner Bilder hat er eine Stiftung gegründet, die ALS-Forschung finanzieren soll. Zudem nutzt Immendorff seine Kontakte, um die weitgehend unbekannte Krankheit ins Bewußtsein der Gesellschaft zu bringen.
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"Kunst & Gemüse" Initiatorin Angela Jansen (Foto: © Imann) |
Immendorff und ALS-Arzt Meyer sind Verbündete in diesem Krieg. Und sie verzeichnen bereits erste bescheidene Erfolge: Ein Reigen an Kulturereignissen haben sie initiiert, in denen es sich um ALS dreht.
So hat der Maler den Berliner Theatermacher Christoph Schlingensief zu einem Bühnenstück über ALS inspiriert. "Kunst & Gemüse, A. Hipler" heißt das wilde Potpourri aus Oper, Theater und Musical, das seit zwei Wochen an der Volksbühne läuft.
Angela Jansen, eine künstlich beatmete ALS-Patientin, liegt in einem Bett im Zuschauerraum direkt vor der Bühne und mischt sich in das Geschehen ein - allein mit ihren Augen.
Ein Laserstrahl verfolgt den Gang ihrer Pupille, und so kann die 49-Jährige über eine Tastatur Sätze schreiben, die auf eine Leinwand projiziert werden. "Ich bin von der Vorstellung gebannt, dass eine völlig erstarrte Frau mit der Kraft ihres Geistes eine so große Aktivität auslösen kann", sagt Schlingensief, der sowohl bekennender Hypochonder als auch Hyperaktiver ist. "Wenn ich mir anschaue, wer die Krankheit besonders häufig bekommt, dann sehe ich da auch Typen wie mich."
Das Plakat zur Aufführung hat Immendorff entworfen: ein düsteres Bild einer schwangeren Frau mit Affenkopf, gemalt im üppigen Renaissance-Stil, die auf dem Rücken eines kriechenden Wesens sitzt. Dazu ein widerspenstiger Satz von Angela Jansen: "Mir fehlt nichts. Ich kann mich nur nicht bewegen." Betrachtet Immendorff die Berliner ALS-Kranke, ist das für ihn wie ein Blick in die eigene Zukunft. "Erschütternd" sei das, aber er zeigt auch tiefe Bewunderung für ihren Mut, sich so einem großen Publikum auszusetzen. Angela Jansen ist wie Immendorff eine Patientin des ALS-Experten Meyer. "Nach einer Entzündung ihrer geschwächten Lunge drohte Frau Jansen zu ersticken. In diesem Kampf hat sie sich für die künstliche Beatmung entschieden", sagt der Arzt. Das war am Nikolaustag 1998.
[...] Mit der arglosen Vermutung, einen Tennisarm zu haben, ging er [Immendorff] zum Orthopäden. Der fand nichts und verwies ihn an einen Neurologen. Mit Elektroden maß der, wie schnell sich elektrische Nervenimpulse vom Hirn in die Muskeln übertragen. Er testete seine Reflexe und stellte die tödliche Diagnose. "Ich wollte es einfach nicht wahrhaben", gesteht Immendorff. Er ging zu einem anderen Neurologieprofessor. Der tippte auf etwas völlig anderes. Dann holte er in München neuerlichen Rat. Sogar Shaolin-Mönche konsultierte er.
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"Kunst & Gemüse" Initiatorin Angela Jansen (Foto: © Thorsten Futh) |
Unterdessen bohrte sich ALS unaufhaltsam durch seinen Körper. Von der linken Hand, seiner Malhand, in den Arm, hinüber auf die rechte Seite. "Zunächst konnte ich noch mit rechts malen", klagt Immendorff. 2003 dann kribbelte es ihm dort auch in den Fingern, und er wußte, was das bedeutet: "Kurze Zeit später war auch der rechte Arm schlaff." Zum Glück nicht ganz so arg wie der linke.
[...] Nun plant er "eine Rebellion" gegen die Krankheit: "So wie immer bei mir passiert das über die Kunst." Deshalb schwebt ihm eine große Kulturgala vor, zu der er Künstler aus allen Schaffensbereichen zusammentrommeln will. […] Drei Millionen Euro sollen zusammenkommen. Das wären die Minimalkosten für Studien zu einem neuen Medikament gegen ALS. Ob er selbst davon noch profitieren wird? Sein Arzt kann ihm das weder ausreden noch versprechen. "Zehn Prozent aller ALS-Patienten überleben immerhin zehn Jahre", erklärt Hirnforscher Meyer. Ein wenig Hoffnung macht den ALS-Patienten auch das Schicksal des berühmten Physikers Stephen Hawking: Der leidet schon seit seinem Studium unter ALS. "Der überwiegende Teil der Patienten verstirbt allerdings binnen weniger Jahre", sagt Meyer.
Einiges an dieser mysteriösen Krankheit haben die Mediziner inzwischen verstanden. Forscher haben bislang vier Stellen im menschlichen Erbgut gefunden, die charakteristische Defekte aufweisen. Offensichtlich entgleisen einige Gene und produzieren giftige Proteine, die jene Motorneuronen verstopfen und zerstören, die für die Übertragung der Nervenimpulse in die Muskeln zuständig sind.
Doch vieles bleibt rätselhaft an dieser Krankheit. Warum trifft ALS gehäuft Leistungssportler und Geistesarbeiter? Stimmt es, dass die Zahl der Kranken in Deutschland steigt? Hinweise gibt es darauf, aber keine konkreten Zahlen.
[...] Die Haut von ALS-Kranken wirkt verjüngt. Trotz Bettlägerigkeit klagt Angela Jansen über keinerlei Druckstellen. Diese positive Wirkung erklären sich Wissenschaftler damit, dass in ihren Hautzellen mehr Kollagen produziert wird als bei Gesunden. "In Japan gibt es Wissenschaftler, die sich von der Erforschung der ALS eine Substanz für eine Anti-Aging-Creme erhoffen", erzählt Meyer.
Der Charité-Mediziner konzentriert sich lieber auf Instrumente der Molekularbiologie. Seine Vermutung: Durch noch unbekannte äußere Einflüsse kommt es zum Bruch in den Chromosomen, die das neuronale Steuerungssystem der Muskeln entgleisen lassen. So stieß er kürzlich im Erbgut eines amerikanischen ALS-Patienten auf einen bemerkenswerten Bruch am Chromosom 21. "Den gleichen Fehler haben wir bei seiner Tochter entdeckt. Der Vater hat ihn also vererbt." Das heißt aber noch lange nicht, dass die Tochter auch an ALS erkranken wird. Ein einziger Defekt macht sie zwar anfällig, aber es müssen noch weitere Fehler im Erbgut auftreten, dazu ein besonderer Lebenswandel und andere Umwelteinflüsse.
[...] Das Interesse der Pharmaindustrie an der ALS-Forschung ist verhalten. "Es sind zu wenig Patienten, das ist für die kein großes Geschäft", schimpft Immendorff. "Ich will eine Pille - oder zwei oder drei! So wie bei Aids, das galt schließlich auch mal als unheilbar."
GERALD TRAUFETTER, SPIEGEL
Artikel- und Materialübersicht zu Kunst & Gemüse, A. Hipler
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Kunst & Gemüse
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KUNST UND GEMÜSE, A. HIPLER
Präsentiert von der Volksbühne Am Rosa-Luxemburg-Platz
Regie: Hosea Dzingirai, Co-Regie: Park Yung Min, Buch: Angela Jansen
Darsteller: Karin Witt, Maria Baton, Kerstin Grassmann, Katharina Schlothauer, Christiane Tsoureas, Ulrike Bindert, Anna Warnecke, Andrea Erdin, Reami Rosignoli, Peter Müller, Horst Gelonneck, Maximilian von Mayenburg, Christian Roethrich, Arno Waschk und das Schöneberger Schönberg-Orchester e.V. , Mario, Babba, Winnie, Simon und King David
Eine Christoph-Schlingensief- Produktion
Bühne: Thekla von Mülheim, Marc Bausback, Tobias Buser; Kostüm: Aino Laberenz; Video: Monika Böttcher; Videoassistenz: Heike Schnepf; zusätzliche Videos: Meika Dresenkamp, Robert Kummer; Musikalische Leitung: Uwe Altmann; Dramaturgie: Carl Hegemann; Dramaturgische Beratung: Henning Naß; Künstlerische Mitarbeit u. Internetredaktion: Jörg van der Horst; Licht: Torsten König; Ton: Wolfgang Urzendowsky; Regieassistenz: Sophia Simitzis; Kostümassistenz: Anne-Luise Vierling; Webdesign: Patrick Hilss; Inspizienz: Karin Bayer; Regiehospitanz: Sarah Bräuer, Hedi Pottag, Kai Krösche; Betreuung: Nathalie Noell
Mit besonderem Dank an: Dr. Thomas Meyer (Charité Berlin) und Jörg Immendorff
Premiere am 17.11.2004 im Großen Haus der Volksbühne Berlin

Externe Links
- Charité ALS-Seite
- Immendorf-Stipend.
- Schlingensief-ALS
- Volksbühne Berlin
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