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Das Bayreuther Hühnermassaker
DIE ZEIT, Nr.32 / 2004, 29.7.04. Von Claus Spahn.
Christoph Schlingensief inszeniert Richard Wagners "Parsifal" als dunkles Ritual im Großstadtmüll. Nun ist die Moderne endlich auch auf dem Grünen Hügel angebrochen.
Am Ende des neuen Parsifals von Bayreuth verkündet der unsichtbare Chor leise und in ätherischem As-Dur "Erlösung dem Erlöser" - und in einer langen Videoeinstellung verwest dazu im Zeitraffertempo ein Hasenkadaver. Parsifal will an diesem Abend niemanden erlösen, er will nur sterben und schreitet zu den letzten Takten durch einen schwarzen Tunnel einer gleißenden Lichtöffnung entgegen. Über diesem Bild senkt sich der Vorhang. Müsste jetzt nicht unverzüglich das große Geheul anheben? Müsste jetzt das Publikum nicht an die Decke gehen angesichts der Angstlust, mit der dem Auftritt des Theateranarchisten Christoph Schlingensief am Grünen Hügel entgegengefiebert wurde? Die Skandalblase platzt aber nicht. Ganz sachte ist ihr im Verlauf der fünf Aufführungsstunden die Luft entwichen. Begeistert wie immer werden die Sänger und der Chor beklatscht. Der Regisseur erhält bei seinem Erscheinen giftige Buhs und ein paar leidenschaftliche Bravos. Schon leert sich das Parkett, und die schweren Regierungslimousinen brausen die Auffahrtsstraße hinab in Richtung Staatsempfang. Schlingensief war da, aber der Hügel steht noch.
Man hat es ja vorher schon geahnt: Die Vorabfantasien der Bayreuth-Beobachter waren viel haltloser als die Absichten des vermeintlichen Bayreuth-Stürmers. Schlingensief hat im Festspielhaus nicht auf offener Bühne mit dem Penis gemalt (wie in Wien). Er hat für seine Produktion keine Nacktdarsteller aus der lokalen Sadomaso-Szene gecastet (wie in Zürich). Er hat die Festspielpausen nicht genutzt, um am geschichtsträchtigen Ort eine Nazi-Quizshow - "Ordnen Sie folgende KZs von Nord nach Süd" - zu veranstalten (wie in Berlin). Wobei es müßig ist, darüber zu diskutieren, was er gewollt hätte, wenn er gedurft hätte. Wolfgang Wagner und Schlingensief sind am Grünen Hügel aufeinander getroffen wie zwei idealtypische Westernhelden - hier der Erzsheriff der tradierten Ordnung, dort der fremde Rebell. Zum Äußersten entschlossen, haben sie sich gegenseitig in Schach gehalten, sogar mit Hilfe von Anwälten. Ein kurioses Duell war das bis zum High Noon: Schlingensief hatte Angst, dass ihm der Festspielleiter im allerletzten Moment noch den Stecker für seine Videozuspielungen ziehen könnte. Wagner wiederum soll geargwöhnt haben, Schlingensief würde womöglich ungenehmigtes Bildmaterial in die Aufführung schmuggeln.
Indem er der Bayreuth-Verlockung nachgegeben hat, musste Schlingensief nolens volens die Bedingungen der Gattung Oper (und des gusseisernen Apparats, mit dem sie produziert wird) akzeptieren: dass Text und Zeitstruktur durch die Partitur minutiös festgelegt sind, dass Sänger immer in erster Linie Sänger bleiben, dass die theatralische Guckkastensituation im Festspielhaus seit Wagners Zeiten sakrosankt ist. Der sprunghafte Aktionskünstler, der die Kunst so gerne mit dem Leben kurzschließt und dessen Temperament erst richtig durch das improvisierte, dilettierende Spiel in offenen Formen in Fahrt kommt, hat sich unter eine Käseglocke begeben, die in Bayreuth ("Hier gilt's der Kunst!") von jeher besonders luftdicht abgeschlossen ist. Da wird es ihm natürlich eng, und er kriegt Platzangst. Aber mit einem typisch Schlingensiefschen Amoklauf wollte er sich dieses Mal (aus Furcht vor Wolfgang Wagners gezücktem Colt?) nicht aus der Situation befreien. So schleppt sich sein Opernregiedebüt phasenweise nur lethargisch, wie hospitalisiert dahin. Dann machen die Darsteller, was im Text gerade erwähnt wird und was man gemeinhin so macht. Dann stapft der alte Gurnemanz im Zottelfell auch nicht anders über die Bühne als in den Inszenierungen der Wagner-Ahnen, und Amfortas entblößt seine Wunde wie im schlechten Stadttheater. Sänger in glaubwürdige Opernfiguren zu verwandeln, vermag Schlingensief nicht. Wahrscheinlich interessiert es ihn auch gar nicht.
Eine Nahtod-Vision, der letzte große Bilderstrudel vor dem Ende
Als ob er Schutz gegen seine Obdachlosigkeit in der Kunstform Oper suchen würde, hat er sich einen verwinkelten und hoch getürmten Bretterverschlag als Bühnenbild (Daniel Angermayr, Thomas Goerge) ins Festspielhaus bauen lassen. Auf der Drehbühne rotiert eine Rumpelkammer, wüst zusammengeklittert aus Palazzobögen, Vorstadtfassaden, Flüchtlingszelten, dem bröckelnden Mauerrund eines ausgetrockneten Brunnens, eingefasst von Maschenzaun und Stacheldraht. Seine Gralsburg ist ein Ghetto, geschaffen aus dem Chaos, das in den Städten der Dritten Welt wuchert, bewohnt von schwarzafrikanischen Stammesbrüdern und -schwestern in festlichem Aufputz und den entwurzelten Würdenträgern sämtlicher Weltreligionen. Es gibt einen Friedhof der Künste mit der Mona Lisa als Grabstein, Warhols Suppendose, Hermann Nitschs Blutsudeltüchern. Das Ganze ist ein Ort der totalen Desillusionierung, hier glaubt niemand an nichts mehr - und jeder an alles. Von Voxi Bärenklaus absichtsvollen Billiglichteffekten grell aus dem Schummerlicht gerissen, zuckt aus jeder Nische ein Schlingensiefscher Ideenblitz.
Das ist das Doppelgesicht dieser Regiearbeit: Einerseits kann Schlingensief gar nicht richtig Oper inszenieren und lässt Wagners Bühnenweihfestpiel achselzuckend im Irgendwie versinken. Andererseits stürzt er sich mit überidentifikatorischer Lust auf den Stoff und setzt ihn mit seiner irrlichternden Fantasie enorm unter Strom. Oder auf der Ebene des Stückes argumentiert: Schlingensief räumt das Heiligkeitsbrimborium des Parsifal-Mythos so radikal ab wie nur wenige Regisseure vor ihm und lässt ihn gleichzeitig, als ein Zauber nach dem Ende allen Zaubers, durch seinen Assoziationsreichtum noch einmal aufflackern, zum allerletzten Mal. In einer wahren Videoprojektionsorgie rast der Regisseur sich aus: Die feierliche Gralsenthüllung im ersten Akt wird begleitet von taumelnd verfremdeten Schwarzweißbildern eines Voodoo-Rituals. Kopfunter zappelt ein Huhn, Blut strömt über das Gesicht des Zeremonienmeisters. Man sieht Medizinmänner mit Kopfgeweihen, die feierlich Kelche in die Luft heben, sündige Fließbewegungen von amöbenhaften Kleinstwesen, Würmer, Robben, tote Hasen, die immer wieder als Symbol des reinen Toren auftauchen. In der Abendmahlszeremonie tritt die multiethnische Gralsgesellschaft in einer Art heidnischem Fruchtbarkeitsritual an eine schwarze Statue, die der Venus von Willendorf nachempfunden ist, taucht die Hände in ihren Schoß und drückt die blutigen Finger auf Parsifals weißes Büßerhemd. Diese blasphemische Schändung des heiligen Grals gehört zu den Provokationen, die sich der Regisseur unter der Käseglocke gestattet.
Schlingensief zitiert Religiöses und Kunstreligiöses, mal affirmativ, mal in polemischer Absicht; der Hirtenstab von Beuys etwa fungiert als Speermetapher, um am Ende das Sterben als wahre Erlösung zu zelebrieren. Seine Parsifal-Inszenierung sei eine Nahtod-Vision, der letzte große Bilderstrudel vor dem Ende, hat Schlingensief in einem Interview gesagt. Bezeichnend für die Überidentifikation des Regisseurs ist sein Ausspruch, wahrscheinlich werde er nach diesem Parsifal Krebs bekommen und wirklich sterben.
Die entscheidende Kraftquelle für das Bayreuther Parsifal-Fieber kommt allerdings nicht von der Bühne, sondern aus dem Orchestergraben: Pierre Boulez hat sich dem Stück noch einmal zugewendet, nachdem er es vor 34 Jahren am Grünen Hügel zuletzt dirigiert hatte. So zügig, so strukturklar und gedankenvoll voranschreitend hat man den Parsifal schon lange nicht mehr gehört. Eine Wohltat gegenüber den Langsamkeitspredigern von James Levine bis Giuseppe Sinopoli, die in den vergangenen Jahrzehnten im Festspielhaus den Ton angaben. Wahrscheinlich gehört die Boulez-Interpretation zu den schnellsten der Bayreuther Aufführungsgeschichte überhaupt. Der Blick des Komponisten auf das Stück hat sich nicht geändert: Er spürt der Modernität in der Partitur nach. Er macht die metrischen Verschiebungen und Verschleierungen transparent, sucht nach der Tiefenschärfe in der Unschärfe, forciert die innere Beweglichkeit im Statischen. Boulez lauscht mit seinem analytischen Ohr nicht an den Tönen vorbei in die transzendente Aura, die sie bilden, sondern in die Strukturen, nimmt gleichsam die Wassertröpfchen im Klangnebel unter die Lupe. Ihn interessiert die "Verschmelzung von Kontrapunkt und Harmonik zu einer neuen Poylphonie", die auf Schönberg und Webern vorausweist. So hat er es in einem früheren Essay formuliert, und nun zeigt er erneut auf ganz zurückgenommene Weise, was damit gemeint ist. Die Permanenz, mit der Wagner sein kompositorisches Material umwälzt, weiterentwickelt, in Bewegung hält, korrespondiert mit Boulez eigener work in progress.
Der Heiligenschein über dem Stück wird ausgeknipst
Was Boulez den Sängern mit seiner souverän fließenden Tempogestaltung und seinen genauen dynamischen Abstufungen an Ausdrucksmöglichkeiten eröffnet, nutzen diese leider fast durchweg nicht. Endrik Wottrichs Parsifal-Stimme klingt steifleinen und glanzlos, Michelle de Young forciert viel zu sehr und schlägt alle Pianissimo-Angebote aus dem Orchestergraben aus. John Wegner gibt den Klingsor über weite Strecken ausschließlich aggressiv. Nur Robert Holl als Gurnemanz folgt dem zügigen Erzählton von Boulez mit ansprechender Durchdramatisierung, und Alexander Marco-Buhrmester ist ein Amfortas, dem man die Sterbensnot musikalisch wahrlich anhört.
Seit Jahrzehnten hat das Bayreuther Festspielpublikum beim Parsifal mit der feierlichen Erhabenheitsschleicherei der Inszenierung von Wolfgang Wagner gelebt, während anderenorts die maßgeblichen Produktionen von Ruth Berghaus über Robert Wilson bis Peter Konwitschny über die Bühnen gegangen sind. Schlingensief und Boulez haben nun auch am Grünen Hügel den Altbayreuther Heiligenschein über dem Stück ausgeknipst. Dieser antiillusionistische Angang, die Abkehr vom Glauben an Wagners "höchsten Heiles Wunder!" eint sie, sosehr sich der kühle Denker Boulez sonst vom durchgeknallten Träumer Schlingensief unterscheiden mag. Parsifal ist auch auf der Festspielbühne in der Moderne angekommen. Ziemlich spät.
Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2004
Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung
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