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Atta-Kunst
Bayreuth: Vom Gral zum Kral
in hundertzwanzig Umdrehungen


Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27.07.2004.
Von Eleonore Büning.


26. Juli 2004 Der Berg kreißte. Kam aber kein Hase heraus, sondern, genau wie das Sprichwort es verheißt: ein Mäuslein. Eine junge, graue Maus mit hübschem Verstand. Schleppte eine Riesenmenge an Vorräten mit sich herum, wußte sich und ihren Krempel gut im Dunkeln zu verstecken: Tücher, Bücher, Bilder, Möbel, Teppiche, Polster, Lampions, Salzgebäck, Fettecken und Ingwerwurzeln, Feldsteine, Zimmerbrunnen, Skulpturen, Indios, Neger und sonstige Reiseandenken sowie sicherheitshalber Zeug, das man irgendwann einmal gebrauchen kann: eine Disco-Kugel, ein Stück Maschendrahtzaun, etwas deutsches Fachwerk, zwei Zelte, Pappkartons sowie renommierte Paten (Joseph Beuys, Einar Schleef), nicht zu vergessen jene Handvoll lateinische Zitate, die sich jede Bildungsbürgermaus gerne ab und zu auf Tisch und Wände schreibt.

Sah gut aus, sofern man etwas sah. Tatsächlich ist der neue Bayreuther "Parsifal", der mit einer sich selbst erhitzenden Spannung erwartet wurde, deren perfektes Timing bis hin zur Eröffnung selbst für Festspielverhältnisse beeindruckend effektiv geriet, der finsterste, dem man Wagners "Weltabschiedswerk" auf dieser Bühne je angedeihen ließ.

Verwirrend finster

Christoph Schlingensief, der sich selbst so lustvoll ins Licht zu setzen weiß, hüllte die Ergebnisse seiner Arbeit in enigmatisch heruntergedimmtes Funzeln. Was nicht dergestalt von Lichtdesigner Voxi Bärenklau unsichtbar gemacht wurde, verschwand unter einer Firnis aus Video-Mustern, die etwa das unsittliche Benehmen von amöbenhaftem Schleim unterm Mikroskop zeigten. Ja, streckenweise war es so verwirrend finster, daß nichts darüber geben konnte, ob da nun Müll oder Mensch auf der Bühne zugange war, so daß die phantasievolle Prächtigkeit der Kostüme, die Tabea Braun ersonnen hatte, erst nach Schluß der Vorstellung beim Verbeugen der Mitwirkenden zur Geltung kam.

Sieben Mal wurde der "Parsifal" seit der Uraufführung anno 1882 in Bayreuth neu inszeniert. Eine laufende Ausstellung im Neuen Rathaus Bayreuths dokumentiert, daß es sich dabei spätestens seit Alfred Roller (1934) allemal um symmetrische Raumkonzepte handelte, in denen Statik, Symbolik, Licht ausschlaggebend waren: rechts und links eine Säule und in der Mitte etwas Kreisrundes für den Gral. Schlingensief und sein Team haben mit dieser Ordnung, die dem rituell anmutenden Stillstand der musikalischen Entwicklung und der Handlungsarmut des Stück auf schier banale Weise entspricht und allenfalls von Götz Friedrich 1982 ansatzweise in Frage gestellt worden war, gründlich aufgeräumt.

Aufglühende Menetekel

Auf den ersten Blick sieht es zwar so aus, als würden Hempels gerade in die Rumpelkammer umziehen. Doch mittels Spotlights, Videoüberblendung und raffinierten Schwarzlicht-Streuungen werden, derweil sich die Bühne dreht und die hyperaktive Crew im Schnürboden agiert, immer wieder neue Ansichten aus dem Patchwork des Bühnenbildes herausgefischt, um die archaische Geschichte vom todkranken Amfortas und seiner Errettung durch den tumben Tor, vom zur Institution ergrauten Gurnemanz und der unberechenbaren Hexe Kundry, vom schwarzen Voodoo-Zauberer Klingsor, dem heilenden Speer, dem Gralskelch zu erzählen, angereichert mit assoziativ sich anlagernden Nebenhandlungen. Menetekel glühen auf und verschwinden.

Aus dem Gral wird ein Kral im Handumdrehen. Drei dreschen Skat auf einem Wehrturm (Aufzug 1). Kundry nimmt die Wäsche ab (Aufzug 2). Ein Friedhof der Künste mit Dürers Hasen und Warhols Dose taucht auf (Aufzug 3). Man muß immerzu gut aufpassen, um nichts zu verpassen. Mit anderen Worten: Dies ist der erste "Parsifal" in Bayreuth, der völlig frei ist von szenischer Redundanz und das Nickerchen zwischendurch unmöglich macht. Teile des Premierenpublikums schienen dankbar und erhoben sich am Ende zu stehenden Ovationen, die gezielt Schlingensief galten. Andere riefen erwartungsgemäß das ihnen vorab eingeflüsterte Buh. Der vorhergesagte Eklat indes, der blieb aus.

Farbloser Klang

Störend allenfalls die spröde und schnell heruntertaktierte Interpretation, mit der Pierre Boulez im Graben seinen subkutanen Einspruch gegen die sinnenfroh barocke Opulenz auf der Bühne zu formulieren wußte. Farblos der Klang, wie gedrosselt das Orchester: spannungsleere Löcher von Pausen, blockartig nebeneinandergestellt die Phrasen, in Einzelereignisse zerfallende und damit nachdrücklich "entzauberte" Beziehungsmuster, scharfe Überakzentuierungen. Boulez, der bereits seit 1966 den Bayreuther "Parsifal" in Wieland Wagners Inszenierung dirigiert hatte, kennt das Stück und hat die Absicht, die hinter dieser dekonstruktivistischen Lesart steht, andernorts ausführlich begründet.

Die Sänger immerhin profitierten von diesem asketischen Orchestersound. Sie mußten nicht brüllen. Endrik Wottrich, zu dunkel timbriert für einen Parsifal-Tenor, tat es trotzdem. Dafür sah er blendend aus in seinem Jesus-Christus-Look. Robert Holl als zotteligem Gurnemanz hätte man eine bessere Fokussierung der kräftigen Stimme gewünscht zum vollen Glück, von Klingsor (John Wegner) mehr Farbe, weniger Gebell erwartet, von der schönen Kundry (Michelle de Young), die sich im fliegenden Wechsel in immer noch schönere Comic-Kostüme werfen mußte, weniger Schärfe und präzisere Artikulation.

Nur zwei Sänger auf Festspielniveau

Enttäuschend also, wie so oft in Bayreuth, die Sängerbesetzung. Abgesehen von den von Eberhard Friedrich perfekt trainierten Festspielchören und den bestens aufeinander eingestimmten Blumenmädchen (Julia Borchert, Martina Rüping, Carola Gruber, Anna Korondi, Jutta Maria Böhnert und Atala Schöck) sangen eigentlich nur der ausdrucksstarke Alexander Marco-Buhrmester als Amfortas und Kwangchul Youn als Titurel wirklich auf Festspielniveau.

Schlingensief selbst hat zwar an einigen Stellen seiner Inszenierung die oft formulierte und sattsam dokumentierte Distanz zur Bayreuther Wagnerei angedeutet und versucht, den eignen "Senf" dazuzutun. Seine Schlingensiefianer - der Dicke, der Dünne, die mongoloiden Kinder - laufen diesmal freilich neben einem großmächtigen Opernkarren her und verkümmern zum Ornament. Daß aber das Festspielhaus selbst eine ideenvernichtende Gralsburg sein kann, die selbst einen Schlingensief und seine Ideenspringflut absorbiert, mag man ablesen daran, daß sich der Säulenschmuck des Zuschauerraums im ersten und letzten Aufzug in die irreale Architektur des Bühnenbildes verlängert.

Andererseits: eine drastischere, zugleich "werktreuere" Enthüllung des heiligen Grals kann sich kein ehrlicher Wagnerianer wünschen, dekorativere Auftritte der Höllenrose Kundry und eine wirksamere Raketenhöllenfahrt des Klingsor sind kaum vorstellbar. Schön anzuschauende, aber auch eindrückliche "Parsifal"-Bilder hat Schlingensief erfunden, die dem Hohelied einer Verwandlung durch das Sterben und das Wiederauferstehen näher kommen denn je: Die letzten Akkorde versinken in Nebelschwaden. Ätherleib begegnet Verwesung der Materie. Dann geht zum letzten Mal der Lappen hoch und zeigt Parsifal, der durch einen Korridor aus Licht schreitet, der fern im Hintergrund sich öffnenden Türe zu.



Pressestimmen und Kritiken zur Parsifal Inszenierung 2004

- "Weltabschiedswerk als existenzialist. Endzeittheater" - Landshuter Zeitung
- "Rasant im Tempo und aberwitzig in seiner Bilderflut" - von Monika Beer
- "Voodoo auf dem Grünen Hügel" - DER SPIEGEL Nr.30 / 19.7.04, S. 126-130
- "Es darf wieder gedacht werden" - Manuel Brug in der Welt vom 27.07.2004
- "Das Bayreuther Hühnermassaker" - DIE ZEIT, Nr.32 / 2004, 29.7.04
- "Schlingboulez im Labyrinth der Bilder" - Frankfurter Rundschau, 27.7.04
- "A Hullabaloo for an Opening at Bayreuth" - New York Times, 27.7.04
- "Erlösung suchen wir doch alle" - Süddeutsche Zeitung vom 27.07.2004
- "Vom Gral zum Kral in hundertzwanzig Umdrehungen" - FAZ vom 27.07.2004




Materialübersicht zu Schlingensiefs Parsifal Inszenierung

- Parsifal Bildergalerie 2007 - Fotos der vierten und letzten Spielzeit 2007
- Parsifal Pressespiegel 2007 - Pressestimmen zur vierten und letzten Spielzeit
- Parsifal Pressespiegel 2007 (PDF) - Gesammelte Rezensionen als PDF-Datei
- "Schlingensief ist für mich der reale Tannhäuser" - Interview Philippe Arlaud
- Schlingensief träumt vom "Tristan" in Bayreuth - Schlingensief im Gespräch
-  "Meistersinger" 2007 - Radiokritik zu Katharina Wagners Debut in Bayreuth
- Probengalerie Parsifal 2007 - Fotos der Vorbereitungen zum Parsifal 2007
- Parsifal Bildergalerie 2006 - Fotos der dritten Parsifal Spielzeit 2006
- "Du hast mich inspiriert" - Interview K. Wagner / C. Schlingensief (23.07.07)
- "Opera Review" - A Personal Experience at Bayreuth by David W. Kline
- "Der erweiterte Wir-Begriff" - Boris Groys und Carl Hegemann zum Parsifal
- "Werkstatt Bayreuth" - Carl Hegemann zur Non-Rekralisierung
- "Begegnungen der vierten Art" - Schlingensiefs Zeitreisen, von Jörg v.d. Horst
- "Das Licht kommt von innen" - Jean-Marie Thiers zur Parsifalinszenierung
-  Boulez in Deutschlandradio - Pierre Boulez zur neuen Parsifalinszenierung
- Parsifal Bildergalerie 2005 - Fotos der zweiten Parsifal Spielzeit 2005
- "Alles schreit" - Notizen zur Parsifal-Inszenierung von Carl Hegemann
- "Der erweiterte Hasenbegriff" - Drei Essays zum Parsifal, div. Autoren
- "Wege zu Parsifal" - Kaum noch Illusionen über die Illusion. Von P. Boulez
- "Zum Raum wird hier die Zeit" - Ein Beitrag des Schriftstellers Peter Nadas
- "Der Todestag" - Christoph Schlingensief im Interview mit der FR (2004)
- "Weehee, Weheee" - Schlingensief im Interview mit dem Tagesspiegel (2004)
- "Ein metaphysisch obdachloser Metaphysiker" - Interview mit der SZ (2004)
- Parsifal Pressespiegel 2004 - Pressestimmen zur ersten Spielzeit 2004
- Parsifal Bildergalerie 2004 - Fotos der ersten Parsifal Spielzeit 2004
- Bayreuther Festspiele - Offizielle Homepage der Bayreuther Festspiele
- Parsifal Libretto - Libretto zu Richard Wagners Parsifal als Onlineversion

Bayreuth Dossier

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- Philippe Arlaud über
   Schlingensiefs Parsifal

- Schlingensief träumt
   vom "Tristan" in
   Bayreuth

-  Deutschlandradio zu
   K. Wagners Debut

- Gespräch K. Wagner /
   C. Schlingensief (FR)

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   by David W. Kline

- Groys / Hegemann:
   Der erweiterte
   "Wir"-Begriff

- Carl Hegemann:
   Werkstatt Bayreuth

- Jörg van der Horst:
   Begegnungen der
   vierten Art

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   Frankreich: Das Licht
   kommt von innen

-  Pierre Boulez
   zum Parsifal 2005


- Carl Hegemann:
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   Hasenbegriff

- Peter Nadas: Zum
   Raum wird hier die Zeit

- Pierre Boulez:
   Wege zu Parsifal


- FR Interview mit
   Schlingensief (2004)

- Der Tagesspiegel
   Interview mit
   Schlingensief (2004)

- SZ Interview mit
   Schlingensief (2004)



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Externe Links

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Parsifal
Inszeniert von Christoph Schlingensief
Bayreuther Festspiele
2004 − 2007

Dirigent: Pierre Boulez

Inszenierung:
Christoph Schlingensief

Chorleitung:
Eberhard Friedrich

Bühnenbild:
Daniel Angermayr, Thomas Goerge

Kostüme: Tabea Braun,
Aino Laberenz

Video:
Meika Dresenkamp, Monika Böttcher

Lichtdesign:
Voxi Bärenklau

Künstlerische Mitarbeit: Carl Hegemann

Darsteller:
Amfortas: Alexander Marco-Buhrmester; Titurel: Kwangchul Youn; Gurnemanz: Robert Holl; Parsifal: Alfons Eberz; Klingsor: John Wegner; Kundry: Michelle de Young; 1. Gralsritter: Clemens Bieber; 2. Gralsritter: Samuel Youn; 1. Knappe: Julia Borchert; 2. Knappe: Atala Schöck; 3. Knappe: Norbert Ernst; 4. Knappe: Miljenko Turk; Klingsors Zaubermädchen: Julia Borchert, Martina Rüping, Carola Guber, Anna Korondi, Jutta Maria Böhnert, Atala Schöck; Altsolo: Simone Schröder

Webredaktion:
Jörg van der Horst, Patrick Hilss